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Aus der Plausch! Kultlokal schließt, Mieter suchen das Weite, Stadtpolitik diskutiert über bezahlbare Mieten

Von Alexander Michel. Fotos Kai Pelka.

Wieder muss ein alteingesessenes Wiesbadener Lokal gentrifizierenden Investoren weichen. Für das Winzerstübchen kommt jede Hilfe zu spät. Auch Mieter des Wohnhauses ergreifen die Flucht. Aber der Fall hat eine Diskussion angestoßen.

Früher Abend im Dichterviertel. Der Lärm des Feierabendverkehrs auf dem Ersten Ring ist hier nur entfernt zu vernehmen, die Hektik des Alltags scheint sich irgendwo zwischen den schattenspendenden Bäumen und den ruhigen Nebenstraßen verloren zu haben. Lange Altbaureihen zieren die Gegend, hier und da geschmückt mit adretten Schaufenstern von ansonsten kleinen und unauffälligen Läden. Neigt sich der Tag dem Ende, so versammelt man sich hier im Viertel, um zu schwatzen und eine schöne Zeit miteinander zu verbringen.

Kultkneipe und soziale Oase

Einer dieser Treffpunkte findet sich an der Kreuzung Herderstraße und Arndtstraße. Seit Jahrzehnten ist das „Winzerstübchen“ fester Bestandteil des Dichterviertels, Kultkneipe und Social-Spot in einem. „Hier sitzen auch der Handwerker und der Rechtsanwalt zusammen und pflegen einen Plausch“, sagt Beate Arthen, seit Wirtin des Winzerstübchens. Ähnlich wie das Stübchen selbst ist Arthen nicht mehr aus dem Viertel wegzudenken: Ihr Name ist fest verbunden mit dem Lokal. Als die langjährige Besitzerin Ursel Schittler 2017 verstarb, übernahm Arthen das Stübchen, in dem sie zuvor als Kellnerin gearbeitet hatte und führt es seither mit Ursels Philosophie weiter: Als Oase der Nachbarschaft und Austauschort für Ideen und Gedanken.

Mieterschaft wollte Haus kaufen – stattdessen kamen Investoren

Doch die Oase droht zu vertrocknen, die lange Geschichte des Winzerstübchens zu Ende zu gehen. Im März wurde das komplette Haus an die Franconofurt AG verkauft, ein Frankfurter Investmentunternehmen, welches sich auf Ankauf von Anteilen an Mehrfamilienhäusern spezialisiert hat. Dem Kauf ging ein jahrelanger Streit zwischen den langjährigen Vermietern voran, welche das Haus schließlich über einen Makler an die AG übergaben. Schon zuvor investierten die Eigentümer laut Auskunft der Mieter immer weniger in die Instandsetzung des mittlerweile baufälligen Hauses. Frühere Angebote der Mieterschaft, das Haus von den Vermietern abzukaufen, wurden abgelehnt. Und so standen eines Tages die Herrschaften aus Frankfurt vor der Tür.

Gute Stimmung kippte schnell

Anfänglich habe sich die Wirtin mit dem Franconofurt-Chef gut verstanden. Investor Christian Wolf bezeichnet sich selbst als Liebhaber historischer Häuser. Das Haus in der Arndtstraße sei das erste Objekt, welches er mit seiner Firma in Wiesbaden erworben habe. Den Großteil seines Portfolios besitzt das Unternehmen in Frankfurt, besonders in gut gelegenen Stadtvierteln: Nordend, Westend, Bornheim, Sachsenhausen. Die Gespräche zwischen Arthen und dem Investor über einen Weiterbetrieb der Gaststätte scheiterten schnell. Überfällige Sanierungsarbeiten seien geplant, damit verbunden auch die „marktüblichen Folgen“ für Beate Arthen und die Mieter des Hauses. „Es stellte sich dann doch heraus, dass die Vorstandsetage des Unternehmens andere Vorstellungen für die Zukunft des Hauses inklusive Gastronomie hat als die Anwohner oder ich selbst“, erzählt Arthen.

Langjährige Mieter traurig und wütend

Was aus dem Haus und dem darin beherbergten Kultlokal wird, weiß niemand so richtig. Auch nicht Martin Faber. Der Gefängnisseelsorger wohnt schon seit langem in besagtem Haus, sah Mietparteien ein- und ausziehen. Dass so mit einem Stück Geschichte des Viertels umgegangen wird, kann er nicht fassen. „Das macht mich zugleich traurig und wütend“, so Faber. Zwar hatte man schon mit den alten Vermietern häufig zu kämpfen, wenn es um die Belange des Hauses ging. Doch mit den neuen Investoren aus Frankfurt käme man noch weniger gut aus.

Mieterflucht zeichnet sich ab

„Wir haben hier praktisch keine Hausverwaltung und sind auf uns allein gestellt“, berichtet Faber, der zurzeit auf der Suche nach einer neuen Bleibe ist. Von den insgesamt neun Parteien im Haus zögen bisher zwei aus; eine dritte Partei könnte sich bald anschließen. Als Grund für die Mieterflucht sieht Faber den Verkauf des Hauses und die seither herrschenden Zuständen. „2009 haben wir als Mieterschaft schon erfolglos versucht, das Haus zu kaufen und eine Art Mehrgenerationenhaus zu etablieren, als soziales Projekt sozusagen“, sagt Faber. Fast ein Jahrzehnt später steht man vor einem Scherbenhaufen.

Hip statt urig und doppelte Miete

Auch das Winzerstübchen selbst passe den Frankfurter Investoren nicht ins Konzept. Trotz anfänglicher Zusagen, dass man sich einen neukonditionierten Neustart mit dem Winzerstübchen vorstellen könne, habe sich das Blatt für Beate Arthen schnell gewendet. Zunächst habe man ihr sogar eine Verlängerung des Vertrages für die Gastronomie zunächst für ein Jahr angeboten, um danach zu schauen, „wie sich die Situation entwickelt.“ Nach über einem Jahr Corona war es Arthen jedoch zu viel, die Zukunft für sie und ihre Belegschaft zu unsicher.

Zudem hätten dem Investor schon anfangs 20 Euro Quadratmetermiete vorgeschwebt. Nahezu eine Verdopplung des derzeitigen Mietzinses also. Als sie sich weigerte, hätte sich das Blatt schnell gewendet und man habe ihr zu verstehen gegeben, dass sie nicht unbedingt zur Weiterentwicklung des Gebäudes passen würde. Stattdessen schwärme man in den Frankfurter Chefetagen von hippen Gastronomiebetrieben, wie man sie so häufig in Frankfurt findet. Vegan statt Schnitzel, Bohème satt Urigkeit. Ein Marktmodell, das scheinbar funktioniert. Geht es nach Investor Wolf, ließe sich dieser Entwurf auch auf das Wiesbadener Dichterviertel übertragen. „Die Leute in solchen trendigen Stadtvierteln wünschen sich diese Art von Lokalen“, glaubt Wolf zu wissen.

Stammgäste schütteln den Kopf

„Unverständlich“, so ist die einhellige Meinung vieler Stammgäste des Winzerstübchens. Die meisten von ihnen schütteln bei den Worten des Investors den Kopf. „Vielleicht blickt man in Frankfurt eher auf Google-Rezensionen, hier zählen jedoch andere Werte als bloße Sterne“, meint etwa Barbara, die seit fast zwanzig Jahren regelmäßig zu Gast im Stübchen ist. Das Kultlokal sei für sie und ihre Freundinnen mehr als ein einfacher Treffpunkt gewesen. „Das Idee des Stübchens war immer, dass man auch für kleines Geld was haben kann: Es ist fast schon ein kleines Wohnzimmer, sehr privat und zugleich einladend und offen.“ Andere Gäste betonen das Heimelige und den familiären Charakter. So auch Janine, die es vor knapp zehn Jahren aus Delmenhorst ins Dichterviertel verschlagen hat: „Wenn das Winzerstübchen wegfällt, fällt auch ein großer Teil dessen weg, was wir hier im Viertel Nachbarschaft und Verbundenheit nennen.“

Stadtpolitik diskutiert über Milieuschutz

Schnell wurde auch die Stadtpolitik auf das Thema aufmerksam. Seither spukt das Schlagwort „Gentrifizierung“ umher. Diskutiert wird über einen in Wiesbaden dringend benötigten Milieuschutz, der der Landeshauptstadt einen Genehmigungsvorbehalt bei der Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen sowie ein Vorkaufsrecht verleihen würde. Der Milieuschutz sei ein wichtiger Schritt, „um den Markt mit seinen Dynamiken wieder in gemeinverträgliche Bahnen zu lenken“, merken beispielsweise der DGB und die Initiative „Gemeinwohl hat Vorfahrt“ an. Sozialer Zusammenhalt, Lebensqualität und der Charakter eines Stadtviertels würden ansonsten dem plumpen Marktgesetz der Wertsteigerung zum Opfer fallen. In Frankfurt hat Franconofort gegen „drohende“ Milieuschutzsatzungen geklagt.

Suche nach neuer Bleibe: „Wir warten weiter auf ein Wunder“

Bis entsprechende Gesetze – wenn überhaupt – auf den Weg gebracht werden, wird es für Beate Arthen und das Winzerstübchen zu spät sein. Was die Zukunft bringt, kann sich niemand so richtig ausmalen. „Es wird auf jeden Fall etwas Unersetzbares fehlen“, meint Martin Faber. Im Dezember schließt das Kultlokal endgültig die Türen.  Das geplante Winzerstübchen-Fest im September, zugleich Abschiedsfest, wurde wegen zu hoher Auflagen abgesagt. Beate Arthen bleibt aber hoffnungsvoll: „Wir werden schon einen gelungenen Abschied finden“, meint sie. Ob sie jedoch eine neue Bleibe für das Winzerstübchen findet, bleibt ungewiss. „Wir warten weiter auf ein Wunder.“

Heute Diskussion

Der DGB Kreisverband Wiesbaden wird direkt um die Ecke vom Winzerstübchen gemeinsam mit der Initiative Gemeinwohl hat Vorfahrt und dem Mieterbund Wiesbaden eine Outdoor-Podiumsdiskussion „Wie schaffen wir bezahlbaren Wohnraum?“ durchführen heute um 18 Uhr auf dem Platz Ecke Herderstraße/Emanuel-Geibel-Straße . Expert*innen sprechen mit den Wiesbadener Direktkandidat*innen zur Bundestagswahl 2021 zum Thema bezahlbarer Wohnraum. Hans Vollmar | Dipl. Ing. Architektur + Städtebau, Eva-Maria Winckelmann | Mieterbund Wiesbaden und Liv Dizinger | DGB Hessen-Thüringen diskutieren mit den Kandidierenden Uta Brehm, Ingmar Jung, Nadine Ruf, Lucas Schwalbach und Daniel Winter.