Von Rebekka Farnbacher. Fotos Tim Dechent.
Warum muss mein Nachbar nur so bunte Socken tragen? Aus welcher Ecke kam eben das Magengrummeln? Was, wenn ich gleich niesen muss? Neun Personen sitzen schuhelos in einem kleinen Raum und versuchen, Liebe und Mitgefühl zu verinnerlichen. In einer Ecke thront eine zufrieden lächelnde Buddhaskulptur, in der ersten Reihe spielt ein Mönch in orange-rotem Gewand Gebete vom Tonband ab. Mit dem Einatmen sollen sich die Teilnehmer vorstellen, schwarzen Rauch zu inhalieren, der in ihrem Herzen die selbstbezogenen Tendenzen zerstört. Mit dem Ausatmen soll das eigene Glück in Form von Licht abgegeben und auf andere Menschen übertragen werden.
„Denken Sie daran, nicht abzuschweifen und konzentrieren Sie sich auf die Absicht des Nehmens und Gebens“, erinnert Kadam Michael Albert, der Meditationsleiter. Guter Hinweis – die ablenkenden Gedanken und Bilder der Stephen King Verfilmung „The Green Mile“ verschwinden kurzzeitig wieder. Beim ersten Mal sei es sehr schwierig, die Konzentration zu halten, erklärt der Hauptlehrer des Serlingpa-Zentrums für Buddhismus. Ziel des Meditierens sei es schließlich nicht, einfach die Gedanken treiben zu lassen, sondern den Geist zu verändern. Die gedankliche Absicht, andere Menschen vom Leid zu befreien und Glück zu schenken, manifestiere positive Tendenzen.
Hauptsache Liebe
„Die Liebe scheint mir von allem die Hauptsache zu sein. Die Welt zu durchschauen, zu erklären, zu verachten, mag großer Denker Sache sein“, sagt Siddharta in Hermann Hesses gleichnamigen Roman. Und doch erwartet man Antworten von einer Religion. Kadam Michael Albert studiert seit vierzig Jahren die buddhistische Lehre und sagt über sich, dass er heute ein wesentlich besserer Christ sei. Er habe sich nicht auf Predigten verlassen können, die vorgeben, was richtig und was falsch ist. Eine Reise nach Indien und ein Meditationskurs in einem tibetischen Kloster waren für den gebürtigen Wiesbadener der Auslöser, Schüler des tibetischen Meditationsmeisters Geshe Kelsang Gyatso zu werden. Dieser bat ihn schließlich, an dem von ihm gegründeten Serlingpa-Zentrum zu unterrichten.
Das war 1993 – das in der Bierstadter Straße beheimatete Zentrum zählt heute etwa 25 Mitglieder, bietet drei Studienprogramme an und beherbergt zwei Mönche. Es herrscht eine einladende, warme Atmosphäre. Der Wunsch besteht, das Zentrum zu erweitern. Mit dem Vortrag „Moderner Buddhismus. Eine wissenschaftliche Methode“ veranschaulichte Albert kürzlich im Kurhaus die Anwendbarkeit auf die westliche Lebensweise veranschaulichen. „Der Buddhismus zwingt nicht zum Glauben, sondern fordert auf, die Grundprinzipien nachzuprüfen und zu verstehen.“ Und wie in der Wissenschaft gilt: Wer am tiefen Ende ins Wasser springt, ertrinkt. Und zwar unerheblich, ob im vermeintlich physikalischen Samsara, oder im – ohnehin oft missverstandenen – Nirwana. Anstatt sich mit Begriffen aus dem Sanskrit den gedanklichen Zugang zu erschweren, sollten Interessierte Nachvollziehbares lernen: „Wenn mein Auto kaputtgeht, ist das ein Problem, das dadurch ein unangenehmes Gefühl erzeugt, dass ich unrealistische Erwartungen an meine Außenwelt stelle. Ich kann nicht die Unsterblichkeit meines Auto verlangen.“ Der Schlüssel der Zufriedenheit liegt also darin, zu begreifen, dass nicht die äußeren Dinge, sondern alles Innere die wahre Ursache von Glück ist.
Ob Albert nicht ernüchtert werde, wenn er versuche, Liebe und Mitgefühl jenseits des Meditationsraums anzuwenden. Keineswegs. Er habe die Erfahrung gemacht, dass ihm die Außenwelt das Positive zurückgebe. „Wenn wir nur das Schlechte in uns sehen, sehen wir es auch in anderen“, erklärt der Lehrer mit einem Lächeln.