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Das große 2×5-Interview: Kilian Engels, Neuer Kurator der Wiesbaden Biennale, 44 Jahre, 3 Kinder

Interview: Dirk Fellinghauer. Foto: Arne Landwehr.

BERUF

„Es gilt neu zu lernen, Theater zu machen“, heißt es in der Ankündigung zum Wiesbaden-Biennale-Eröffnungsstück „The Köln Concert“. Was ist „neues“ Theater für Sie?

Die Wiesbaden Biennale hat als Festival die Aufgabe, multidisziplinär zu sein und etwas anderes zu bieten als das, was normalerweise hier am Staatstheater vorkommt. Mein Theaterbegriff ist sehr weit. Die allermeisten Künstler:innen kommen aus anderen Bereichen – Bildende Kunst, Film, Comedy, Aktivismus. Es gibt auch keinen literarischen Stoff und auch nicht die üblichen Hierarchien und Aufteilung zwischen Regisseur:innen und Schauspieler:innen. Es sind Menschen auf der Bühne, die Autor:innen ihrer selbst sind – Produzent:in, Autor:in, Performer:in in einer Person.

Sie haben sich entschieden, mit dieser Biennale auf den Bühnen des Staatstheaters zu bleiben.

Wir sind in einem Bau, der für Eurozentrismus steht. Das Neobarocke gaukelt eine längere Historie vor als das Gebäude eigentlich hat. Es wurde von Wilhelm II. eröffnet. Wir versuchen, uns dem Phänomen Theater und auch diesem Bau von den Rändern her zu nähern, aus der Perspektive der Außenseiter. Im angloamerikanischen Raum wird, wenn ein historischer Vergleich zu Donald Trump gesucht wird, immer wieder Wilhelm II. genannt. Das ist wissenschaftlicher Konsens. Mich hat dieser Bau gereizt, die koloniale Aufladung, seine Entstehungszeit zum Höhepunkt der deutschen kolonialen imperialistischen Ambitionen. Viel spannender ist aber die aktuelle Perspektive.

Wie schlagen Sie den Bogen ins Heute?

Es gibt, auch in Europa, genügend weiße Männer, die versuchen, ihre Macht auf Kosten sowieso schon marginalisierter Gruppen zu stärken – queere Menschen, Trans-Menschen, Migranten, BiPoc-Menschen. Es scheint für Populisten ein Erfolgsrezept zu sein, auch dass man mit solchen Scheingefechten von dringenden und echten Problemen ablenkt. Umso wichtiger ist es, ein Festival auf die Beine zu stellen, das für eine diverse, offene Gesellschaft steht – und diversen Künstler:innen ein Forum zu bieten. Ich finde auch, bestimmte Wörter müssen nicht mehr gesagt werden und gewisse Stücke nicht mehr gespielt werden auf deutschen Bühnen. Das Standard-Drama-Material ist historisch. Dadurch entspricht es in dem, was es zeigt, nicht mehr unserer Welt und nicht mehr unserem Menschenbild. Zwar behauptet Regietheater, es für unsere heutige Welt zu erzählen. Und doch kommt immer wieder Frauenfeindlichkeit, Homophobie, Rassismus vor – das komplette Paket ist immer wieder dabei.

Begeben Sie sich gedanklich zum 12. September 2022. Wie muss Ihre erste Wiesbaden Biennale gelaufen sein, damit es für Sie eine erfolgreiche Biennale war?

Erfolg definiert sich über so viele verschiedene Ebenen. Ich mache es tatsächlich wegen Begegnungen. Das ist mein Antrieb. Ich hoffe, dass die Künstler:innen eine super Zeit in Wiesbaden verbringen, dass sie auf ein super Publikum treffen und dass es zwischen beiden zu einem tollen Austausch kommt. Natürlich wäre es auch toll, wenn viele Menschen aus den Communities, die wir auf der Bühne präsentieren, im Publikum wären. Wie das Festival rezipiert wird, ist vielleicht zweitrangig. Ich habe keinen didaktischen Anspruch. Aber die Biennale bietet zahlreiche Möglichkeiten, seine eigene Perspektive nochmal zu überprüfen oder zu hinterfragen.

Wer hat größeren Bedarf, die eigene Perspektive zu hinterfragen – das Theater als Institution oder das Publikum?

Sehen wir uns doch mal die Welt an, die wir draußen vor der Tür haben, und die Diskurse, die es da gibt und die Entwicklungen im gesellschaftlichen Bewusstsein – viele Rückschritte, aber auch große Fortschritte. Da muss man sich als Theatermacher fragen, ob auf der Bühne eigentlich abgebildet werden. Das ist eine eindeutige Frage an das Theater, auch als Plattform. Im Allgemeinen ist das Publikum völlig okay und muss nicht erzogen werden. Das ist nicht Sinn der Sache.

MENSCH

Wie gehen Sie mit Druck um?

Ich schlafe manchmal nicht ganz gut. Ich habe auch Ängste und Sorgen, die teilweise irrational sind. Und die habe ich vor allem nachts. Der Antrieb ist aber stärker.

In welchem Zustand sehen Sie unsere Welt?

Gerade bin ich eher pessimistisch. Wir waren ja an einem Punkt, wo wir diese Covid-Pandemie soweit überstanden hatten, ein sensationeller Erfolg der Medizin, das hätte auch ganz anders laufen können. Da dachte man, es gibt ganz viele Herausforderungen, aber die bekommen wir bestimmt alle gut in den Griff. Und jetzt? Wenn uns irgendwelche Autokraten mit aller Gewalt zurück in eine Welt des 20. Jahrhunderts bomben, dann glaube ich nicht mehr daran, dass wir das noch hinkriegen. Das ist total bitter.

Wie nehmen Sie Wiesbaden als Kulturstadt wahr?

Es gibt ein sehr großes Angebot, das habe ich unterschätzt. Wenn man sich den Veranstaltungskalender anschaut, der ist schon ganz schön voll. Es gibt ein großes bürgerschaftliches Engagement, was ich toll finde. Wiesbaden ist aber auch viel vielfältiger und diverser als ich es eingeschätzt habe. Wenn man mal über die Schwalbacher Straße hinausgeht, ist das schon eine sehr unterschiedlich geprägte Stadt.

Als Theatermensch sind Sie viel unterwegs. Wo und was ist für Sie zuhause?

Ich bin geboren in Bonn, also Rheinländer, lebe in München, und das schon seit fast zwanzig Jahren, aber nicht immer gerne. Das würde ich nicht als Heimat bezeichnen. Es klingt trivial, aber als internationaler Kurator ist meine Heimat mein Netzwerk. Leute, die aus Südafrika oder aus Israel kommen und die ich, wenn nicht gerade Pandemie ist, ein bis zwei Mal im Jahr sehe oder auf Festivals treffe. Ich bin wenig nostalgisch oder sentimental, was Orte angeht. Ich habe kein gutes Gedächtnis, deswegen mache ich Theater, es geht mir immer um den Moment. Ich weiß noch nicht mal, wo ich während der Biennale in Wiesbaden untergebracht sein werde. Im Allgemeinen nehme ich mir das günstigste Hotel. Ich habe auch kein Büro. Du kannst mich irgendwo an einen Tisch setzen, ich brauche nur Wlan, dann fange ich an zu arbeiten.

Wie verbringen Sie einen Tag am Strand?

Ich bin der absolute Atlantik-Strand-Gänger. Das heißt, erst am Nachmittag hin, auf keinen Fall über Mittag. Ich habe gerne sehr kaltes, also wirklich sehr sehr kaltes Wasser, und auch gerne Brandung. Und ich mag es, wenn es nachts auf 12 Grad abkühlt. Also die Mittelmeer-Experience ist nicht mein Ding. Was ich am Strand mache, ist mit drei Kindern relativ klar definiert (lacht). Bücher werden mitgenommen, aber kaum gelesen.

sensor präsentiert die Wiesbaden Biennale vom 1. bis 11. September im Staatstheater. Das volle Programm, Infos und Tickets: www.wiesbaden-biennale.eu