Interview: Dirk Fellinghauer. Foto: Arne Landwehr.
„Eine Stadt und die Schuld – Wiesbaden und die NS-Vergangenheit seit 1945“ heißt Ihr gerade erschienenes Buch. Wenn Sie rund 430 Buchseiten auf eine Antwort zusammenfassen: Was kennzeichnet den Wiesbadener Umgang mit der NS-Vergangenheit?
Der Wiesbadener Umgang ist exemplarisch für den westdeutschen Umgang, und dieser ist sowohl eine Erfolgs- als auch eine große Defizitgeschichte. Das ist die Quintessenz. Der selbstkritische Umgang mit der eigenen Vergangenheit – sich den eigenen Verbrechen, dem Fehlverhalten zu stellen, zu diskutieren, nicht immer einer Meinung zu sein, aber das öffentlich zur Sprache zu bringen – ist eine ganz große Errungenschaft der Bundesrepublik und auch von Wiesbaden. Dies aber nicht in dem Sinne, dass man stolz drauf sein sollte. Die Deutschen und Wiesbadener sind nur deswegen die Weltmeister des Erinnerns, weil sie auch die Weltmeister im Massenmord waren. Was Defizite angeht: Die allermeisten Täter, die direkt am Holocaust beteiligt waren, wurden nicht bestraft und zur Rechenschaft gezogen. Es wurden zwar riesige Summen an Wiedergutmachung bezahlt. Aber die allermeisten sind ohne jegliche Zahlung aus dem Leben geschieden. Zudem gab es leider aus Sicht der verfolgten Opfer skandalöse Kontinuitäten – Leute, die im Dritten Reich Karriere gemacht hatten, haben das auch nachher in der Bundesrepublik wieder getan. Das war für diejenigen, die gelitten haben, unerträglich.
Welches ist Ihre ursprüngliche Motivation für das Buch?
Ich bin sozialisiert worden in den neunziger Jahren. Da waren die Debatten über die NS-Vergangenheit der Punkt, der mich zum politischen Menschen gemacht hat. Ich habe als Heranwachsender, der sich mit der Thematik noch gar nicht auseinandergesetzt hatte, gespürt, dass sich bei diesen Debatten die Gesichter der Menschen verändert haben, da wurde eine andere Frequenz in der Stimme angesprochen, da ging es um wirklich was. Das hat mir gezeigt, das sind wichtige Debatten. Darüber mehr zu erfahren, es also wissenschaftlich zu untersuchen und auch diejenigen zu verstehen, die man in solchen Debatten als Gegenüber oder Gegner hatte, das war meine Hauptmotivation. Der Hauptpunkt meines Buches ist, dass über die eigentliche Schuld, die jenseits der juristischen Schuld liegt, also über moralisches Fehlverhalten und individuelle Schuldanteile viel zu wenig gesprochen wurde und auch noch wird.
Verstehen Sie Menschen, die eine Aufarbeitung der Geschichte kritisch sehen oder sich ihr gar verweigern, nun besser?
Es gibt immer Grenzen des Verstehens. Es ist mir aber durch die wissenschaftliche Beschäftigung viel verständlicher geworden, warum sich Menschen gegen eine kritische Aufarbeitung gewendet haben, warum auch heute Menschen sich in Unbehagen befinden, wenn die NS-Vergangenheit so prominent zur Sprache kommt. Ich kann das verstehen, aber nicht gutheißen.
Sie sagen, Wiesbaden war exemplarisch – haben Sie trotzdem auch Wiesbaden-spezifisches gefunden?
Bei der Diskussion um die Umbenennung der Rudolf-Dietz-Schule in Naurod konnte ich zunächst überhaupt nicht verstehen, mit welcher Inbrunst hier jemand verteidigt worden ist, der nachweislich antisemitische Gedichte geschrieben hat und bis ins hohe Alter in der NSDAP aktiv war. Er war aber unabhängig von der politischen Biografie so verankert in den persönlichen Biografien der Nauroder, dass ich es dann doch nachvollziehen konnte. Únd in keiner anderen Landeshauptstadt außer Wiesbaden gab es einen zweifachen Oberbürgermeister, der als Nationalsozialist im Amt war und anschließend erneut. Die Bundesrepublik insgesamt wurde mit Funktionseliten der Nationalsozialisten wieder aufgebaut –Wirtschaft, Politik, Verwaltung, alle Institutionen. Erich Mix wurde nicht trotz, sondern wegen seiner NS-Vergangenheit 1953 als FDP-Kandidat erneut zum Oberbürgermeister gewählt. Ein Fünftel der Wiesbadener waren NSDAP-Mitglieder, 1 Prozent waren Verfolgte des NS-Regimes – da ist es eine einfache Rechnung, wie man Wahlen gewinnen konnte
Wie beurteilen Sie den heutigen Umgang Wiesbadens mit seiner NS-Vergangenheit?
Was heute in Wiesbaden sichtbar ist, hat sich seit den 1980er-Jahren entwickelt. Man kann nicht mehr durch Wiesbaden gehen, ohne auf die NS-Vergangenheit hingewiesen zu werden oder über sie zu stolpern. Es gibt das Mahnmal an der ehemaligen Synagoge, und Stadt, Aktives Museum Spiegelgasse, Kulturamt, Privatleute engagieren sich vielfältig. Das ist auch absolut richtig. Gedenkrituale sind wichtig, dazu die eingeübten Gedenktage. Es wird aber Zeit, darüber hinaus auch über die individuellen Verfehlungen der Täter zu reden – ein kritisches Gedenken, um die Mechanismen zu ergründen, die die damals die Verbrechen möglich gemacht haben
MENSCH
Sie haben am Anfang Ihrer beruflichen Laufbahn ein paar Jahre als Koch gearbeitet. Was ist die Geschichte dahinter?
Weil ich als dritter Sohn der Familie keinen Wehr- oder Zivildienst leisten musste, wollte ich nach dem Abitur und vor dem Studium noch etwas anderes machen und habe mich für eine Koch-Ausbildung im Nassauer Hof entschieden. Das war auch eine gute Entscheidung und Erfahrung, die ich nicht missen möchte. Aber irgendwann dachte ich: Ein Job, wo 14-Stunden-Tage und Arbeiten am Wochenende die Regel sind, nur damit reiche Leute sich einen schönen Abend machen können, das erscheint mir dann doch etwas zu wenig sinnvoll für mein Leben – auch wenn ich nach wie vor großen Respekt vor dem Beruf und vor allen, die ihn ausüben, habe. Heute helfe ich als Lehrer jungen Menschen, die Welt besser zu verstehen. Das erscheint mir dann doch sinnvoller.
Kochen Sie heute noch?
Ich koche privat sehr gerne – am liebsten dann, wenn es auch Anerkennung gibt (lacht). Also wenn Gäste kommen.
Welche historische Persönlichkeit oder welches historische Ereignis hat Sie am meisten beeindruckt?
Die Reichstagsrede von Otto Wels 1933 gegen Hitlers Ermächtigungsgesetz. Obwohl die Lage schon aussichtslos ist, stellt er sich hin und hält als einziger eine Rede dagegen, weil er seine grundsätzlichen Werte nicht aufgeben will. Das war für mich einer der bedeutendsten Akte deutscher Geschichte.
Man hört immer wieder besorgte und ängstliche Stimmen, die sagen, das heutige politische und gesellschaftliche Klima sei „wie 1933“. Ist das so?
Es gibt selbstverständlich Parallelen, wie etwa den aufkommenden Rechtspopulismus, die Entwicklung der Sprache mit Begriffen wie Lügenpresse oder die Bezeichnung von Politikern als Volksverräter und die Pauschalverurteilung von „die“ Politiker oder „die“ Medien. Ein bedeutender Unterschied ist aber, dass heute die Elite, also die, die unter Land mittragen, von unserem Land überzeugt sind und es nicht, so wie die damalige Elite, zerstören will.
Als Historiker beschäftigen Sie sich in erster Linie mit der Vergangenheit. Für welche Zukunftsthemen interessieren Sie sich als Privatmensch?
Als politischer Mensch interessiert mich vor allem die soziale Frage und wie die Industrienationen dieser Welt auf Kosten der anderen Leben, mit allen sozioökonomischen und ökologischen Folgen. Als Privatmensch will ich das Wellenreiten lernen. Ich werde demnächst einen Surfurlaub machen.
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