Interview: Dirk Fellinghauer. Foto: Arne Landwehr.
ENGAGEMENT
Was sind eure Ziele als Vorstand der Wiesbadener Wirtschaftsjunioren?
Wir sind vier gleichberechtigte Leute im Vorstand – mit Verantwortung für die Ressorts Gründung & Unternehmertum, Beruf & Familie, Digitalisierung & Innovation und Wirtschaft & Bildung. Als Stimme der jungen Wirtschaft wollen wir Netzwerke schaffen und Aufbruchsstimmung verbreiten, mehr junge Leute reinholen, aktiver sein (-> Wirtschaftsjunioren Wiesbaden auf Instagram) und wirklich unsere Stimme nutzen. Wir haben krasse Unternehmen in der Region, die wollen wir zusammenbringen. Ich bin auch in der IHK- Vollversammlung, da sind wir nur drei Mitglieder unter 35. Da müssen wir mehr Power reinlegen. Aber ich habe das Gefühl, wir werden verstärkt gehört und gesehen.
Wie wirtschaften Junioren anders als die vorherigen Generationen?
Wir gehen etwas aus dem gefühlten Spießertum raus. Die IHK hat auch ein verstaubtes Image, das nicht mehr zutrifft. Da sind sehr viele junge Leute am Start, da geht richtig was ab. Aber die Außenwahrnehmung ist noch eine andere. Da glaubt man wohl, dass wir auch bei den Wirtschaftsjunioren alle mit Sakko und Krawatte dasitzen. Wir duzen per se und versuchen, locker und authentisch unterwegs zu sein. Ich glaube, mit meiner Amtsübernahme gab es zum ersten Mal Pizza und Bier anstatt Wein. Am Ende dreht es sich ja um unsere Zukunft als Standort Wiesbaden, und wir sind nun mal die neue Generation. Da müssen wir auch gucken, dass wir nicht nur meckern, sondern auch was umsetzen können und die richtigen Personen zusammenbringen und Synergien entstehen.
IHK-Präsident Christian Gastl hat 2017 im 2×5-Interview gesagt – „Wachstum ist der Motor alles wirtschaftlichen Handelns“. Würdest du das auch so unterschreiben?
Nicht vorbehaltlos. Gesunder, nachhaltiger Wachstum schon. Dafür brauchen wir in Wiesbaden zum Beispiel auch das Nachtleben. Es geht nicht nur um wirtschaftliches Wachstum, sondern auch darum, dass unsere Stadt so attraktiv bleibt, nicht nur von den Arbeitgebern, sondern auch vom Lebensgefühl her – dass ich auch meine Leute hier halten kann. Mit meinem Unternehmen habe ich mehr Mainzer als Wiesbadener im Team. Ich sage immer, kommt doch hier nach Wiesbaden rüber, da spart ihr euch die Fahrt – aber die bleiben da. Zum Arbeiten nach Wiesbaden, aber Leben in Mainz. Wir müssen schauen, dass wir ein attraktiver Standort bleiben. Wir haben die Hochschule Fresenius hier, die Hochschule RheinMain wächst und wächst, aber die gehen halt nach dem Studium alle weg. Aus meinem Studiengang waren es gerade zwei, die geblieben sind. Wie schaffen wir es, das zu drehen? Das hat nicht nur mit der Attraktivität der Arbeitgeber zu tun, sondern auch mit unserem Leben hier, mit dem Angebot.
Was bedeutet Nachhaltigkeit für die junge Unternehmergeneration?
Ich habe schon das Gefühl, dass auf ein organisches, solides Wachstum geachtet wird und auf wirklichen Nutzen – nicht mehr nach dem Motto, wir müssen das nächste Einhorn sein. Allein, womit sich die junge Generation beschäftigt, das sind ja schon die Themen, wo es nicht mehr nur darum geht, viel Geld zu machen. Auch hier geht es in Richtung Work-Life-Balance. Gefühlt wollen alle nur noch vier Tage die Woche arbeiten. Das kann schon ein Zukunftsmodell sein. Aber dafür muss eine Stadt auch ausgerichtet sein.
Mit einem ordentlichen Nachtleben zum Beispiel. Dazu habt ihr neulich einen Abend gemacht. Welche Probleme und Lösungsansätze kamen zur Sprache?
Eine Erkenntnis war: Es ist gar nicht so schlimm, wie oft gesagt wird. Aber es fehlt an Sichtbarkeit. Wir werden das Thema jetzt auch in die IHK-Vollversammlung einspielen und hoffen da auf Unterstützung in Richtung eines Beschlusses, gerade auch, was die strenge Gesetzgebung für die Gastronomie angeht. Es geht auch um die Botschaft, dass eine Stadt nur überlebt mit der „Kreative Klasse“-Zielgruppe nach der Theorie des US-Ökonomen Richard Florida. Wir müssen die Leute hier halten und mehr Wahl-Wiesbadener bekommen.
MENSCH
Hast du ein Lebensmotto?
Try and Error! Immer, immer, immer! Da bin ich sehr von „Lean Startup“ geprägt. Einfach versuchen und machen, und wenn es nicht klappt, was Neues machen. Es gibt nichts Falscheres als Nichts zu machen.
„Gewalt in Wiesbaden“ ist das Titelthema unserer aktuellen sensor-Ausgabe. Wie erlebst du den für manche gefühlt gefährlichen, angeblichen Kriminalitäts-Hotspot Inneres Westend, wo du in der Hellmundstraße mit deiner Kaffeerösterei ansässig bist?
Ich fühle mich hier super super safe – und sicherer als an manchen anderen Stellen in Wiesbaden. Die Straße ist immer belebt. Ich glaube kaum, dass man hier wirklich überfallen werden kann – für mich ist das Humbug. Ich sehe hier nie etwas Bedrohliches. Klar, hier sind viele Leute, hier wird viel laut und mit kulturellen Sichtweisen diskutiert, hier findet das Leben auch intensiv draußen statt. Genau das macht es für mich zu einem der sichersten Viertel. Anderswo in Wiesbaden gibt es kaum die Möglichkeit, in diesem Maße draußen zu sein. Wir haben hier quasi ungewollt einen „Superblock“, weil die Leute sich einfach ihre Stühle nehmen und raussetzen und sich selbst das Viertel dazu machen. Also ich bin totaler Westend-Fan!
Besondere Merkmale deiner Person sind Lachen, Strahlen, Fröhlichkeit. Woher kommt deine Dauer-Gute-Laune? Und was kann sie dir verderben?
Ich fühle mich hier einfach sehr wohl. Die Stadt als Dorf. Ich bin selten schlecht drauf. Ich bin der Mensch, der die Chancen sieht, und das ist das Schöne auch an Wiesbaden: Wir haben sehr viele Chancen, die wir nur annehmen müssen. Wir sind in einer guten Veränderung drin, müssen jetzt aber aufpassen, in welche Richtung Wiesbaden sich bewegt – dorthin, wo du alles Scheiße findest, oder dorthin, wo du auch die coolen Sachen siehst.
Genauso auffällig ist deine Energie. Wo nimmst du die her?
Definitiv vom Kaffee (lacht). Ein bis zwei Liter Filterkaffee am Tag. Ich brenne halt für mein Thema. Und ich brenne für Wiesbaden, und da stecke ich dann gerne meine Energie rein – vor allem, wenn ich merke, dass es ein bisschen was bringt. Manchmal habe ich zwar das Gefühl, dass wir in tausend Ausschüssen sitzen und mehr babbeln als umsetzen und das über Jahre hinweg. Das raubt mir dann auch Energie. Aber gefühlt passiert doch immer wieder was, woraus ich Energie schöpfe.
Wo und wie schaltest du ab?
Beim Fahrradfahren. Ich habe ein neues Gravelbike. In den Rheingau fahren oder in den Wald, da schalte ich definitiv ab. Und auf Reisen. Ich reise ja nicht an den Pool, sondern zu dem Ursprung meiner Produkte, in die Kaffeeanbaugebieten. Gerade war ich, zum ersten Mal wieder seit der Pandemie-Pause, in Kolumbien. Diese Reisen sind auch immer sehr inspirierend. In Kolumbien zum Beispiel das Lockersein und Draußen sein. Und die autofreien Tage. Jede Woche! Die machen das da überall und ziehen es wirklich in jeder Stadt durch. Die Leute nutzen das und sind ganz verrückt danach, wenn die Stadt zurückerobert wird. Wenn die das so konsequent im ganzen Land hinkriegen, sollten wir das doch in Wiesbaden auch hinkriegen! (lacht).