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Das große 2×5-Interview: Teun Toebes, Aktivist für Menschen mit Demenz, 24 Jahre – Live in Wiesbaden

Interview: Torsten Anstädt, Dirk Fellinghauer Foto: Merlijn Doomernik.

BERUF/UNG

Du hast drei Jahre in der geschlossenen Abteilung eines Pflegeheims gelebt. Wie kam es dazu?

Ich habe meinen Bachelor in Pflege gemacht, war 17 Jahre alt und noch nie in einem Pflegeheim gewesen, hatte noch nie jemanden mit Demenz zuvor gesehen. Als ich hörte, ich müsse ein Praktikum im Pflegeheim machen, sagte ich: Verdammt nein, Demenz und Pflegeheime, das ist nicht sexy. Einerseits kam ich in ein surrealistisches Niemandsland, weil es sich wie ein Ort anfühlte, an dem Menschen lebten wegen einer Krankheit, wie ein Paralleluniversum. Andererseits lernte ich die Menschlichkeit von Menschen mit Demenz kennen. Die Einstellung war wohl ein Schlüssel zu ihren Herzen. Ich habe meine Mitbewohner einfach als liebe Nachbarn gesehen. Aber es gab einen großen Kontrast zwischen der Institution auf der einen Seite und der Menschlichkeit auf der anderen Seite. Und das hat mich so sehr beschäftigt, dass ich anfing, mir große Sorgen zu machen um die Zukunft der Menschen mit Demenz.

 Was wäre denn deine Idee, Menschen mit Demenz besser zu begegnen?

Demenz ist kein Pflegeproblem, Demenz ist ein gesellschaftliches Problem. Was ich von meinen Mitbewohnern gelernt habe: dass das Leben mit Menschen mit Demenz auch schön sein kann. Die Erfahrung, die sie selbst machen, kommt nicht von der Krankheit, sondern von der Art und Weise, wie wir uns ihnen gegenüber verhalten. Das ganze Leben lang ist man ein Familienmitglied oder ein geliebter Mensch, aber wenn jemand an Demenz erkrankt, wird man sofort entmündigt. Die Pflege wird zwischen Angehörigen und professionellen Kräften entschieden und Menschen mit Demenz in den Entscheidungen nicht mit einbezogen Das ist ein Systemfehler, den wir beheben müssen.

Du sagst, wir müssen dringend unsere Sicht auf Demenz ändern – aber wie?

Wir organisieren ein Gesundheitssystem auf der Grundlage dessen, was wir glauben, was die Menschen brauchen. Aber wir fragen sie nicht. Wir schauen sie nicht mehr an. Und genau das wollte ich tun. Indem ich mit Menschen mit Demenz zusammenlebte, konnte ich eine Beziehung zu ihnen aufbauen – als Mitbewohner. So begegneten wir uns auf Augenhöhe und waren eine Gemeinschaft. Mir wird oft die Frage gestellt, welche Produkte wir für Menschen mit Demenz entwickeln sollen. Aber die ganze Botschaft und Vision ist nicht, etwas für Menschen zu entwickeln, sondern sie zu verstehen.

Konntest du eine Beziehung zu den Bewohnern aufbauen?

Ich war immer in der Lage eine Beziehung aufzubauen, sogar bis zum letzten Atemzug der Menschen. Leider ist unser Bild von Demenz tiefschwarz und negativ. Wir denken immer, dass die Demenz zu einem sozialen Tod in unserer Gesellschaft führt. Der heutige Anspruch für Menschen mit Demenz in Pflegeheimen ist, dass sie animiert werden müssen und immer glücklich sein müssen, auf dem Stuhl sitzen und mit digitalen Schmetterlingen spielen sollen. Aber warum ist die Tür zum Garten, wo die echten Schmetterlinge sind, verschlossen? Wir können von Menschen in den letzten Lebensphasen keine Lebensfreude erwarten, wenn wir sie in eine tote Umgebung stecken. Gefälschte Pflanzen, gefälschte Tiere, Roboterhunde. Alles ist verschlossen. Mein erstes Lernziel als Krankenpflegeschüler war es, Menschen waschen zu können. Jetzt denke ich zurück und denke, dass mein erstes Lernziel sein sollte, einfach zuzuhören.

Du hältst Vorträge, hast einen Bestseller geschrieben und nun gemeinsam mit Jonathan de Jong einen Dokumentarfilm veröffentlicht – was bewirkt all das?

Meine Botschaft handelt von einem kulturellen Wandel, der sich anstatt auf Sicherheit und Kontrolle auf Lebensqualität, Glück und Rechte konzentrieren sollte. Wir haben die Gesetze und Prozesse gemacht, wir können sie auch wieder ändern. Nicht mit viel Geld, sondern mit einem Mentalitätswandel. Wir müssen unser Narrativ über Demenz ändern.

MENSCH

 Wie haben deine Freunde auf deinen Umzug in ein Pflegeheim reagiert?

Natürlich hat mein Umfeld sehr erstaunt darauf reagiert, als ich sagte, dass ich in ein Pflegeheim einziehe. Sie fanden meine Gründe sehr ehrenwert, und viele taten es ab mit „Du bist zu idealistisch“. Aber meine Botschaft ist keine Form von Idealismus. Meine Botschaft ist: Erst wenn wir Menschen mit Demenz als vollwertige Menschen ansehen und nicht als Patient, wird sich unser System zu hundert Prozent ändern. Meine Freunde und Familie durften mich besuchen, aber durch COVID konnten nur sehr eingeschränkt Besucher kommen. Also musste ich ihnen hinter einem Fenster zuwinken.

Abgesehen von der Frage des Umgangs mit Demenz: Wo noch muss die Welt sich dringend ändern?

Im Kern geht es nicht um Demenz, sondern um die Art und Weise, wie wir zusammenleben. In unserer Gesellschaft wird Wissen auf die höchste Stufe gehoben, und Demenz ist für viele gleichbedeutend mit Entmenschlichung. Derzeit leben wir nicht zusammen mit Menschen, die einem von uns gesetzten rationalen Standard nicht entsprechen, wie etwa Menschen mit Demenz. Ich glaube, dass wir unsere Gesellschaft schöner und inklusiver gestalten können. Die Botschaft ist daher breiter angelegt und befasst sich mit Menschenbildern, Institutionalisierung und der Organisation unserer Gesellschaft.

Die immense öffentliche Aufmerksamkeit, die du bekommst: Genießt du sie, oder ist sie für dich ein Mittel zum Zweck?

 Es ist vor allem ein Mittel, um die dringend notwendige Veränderung zu erreichen. Ich bin für die Botschaft immer zweitrangig, aber notwendig, um die Botschaft zu vermitteln. Wenn ich alt und grau gewesen wäre, hätten die Leute weniger zugehört, und wir hätten die jungen Leute viel weniger erreicht. Die Stärke liegt gerade darin, dass sich der Wandel auf allen Ebenen der Gesellschaft vollzieht: von den Regierungen bis zu jungen Menschen und von Wissenschaftlern bis zu Visionären.

Kannst du dir vorstellen, eines Tages selbst in die Politik zu gehen?

Ich bin eher verbindend und parteiübergreifend, denn die Botschaft gehört nicht einer bestimmten Partei. Letztlich geht es um eine bessere Zukunft für Menschen mit Demenz und damit um eine bessere Zukunft für uns alle.

Rein hypothetisch: Würdest du gerne ewig leben wollen?

Nein, der Gedanke, ewig zu leben, ist sehr bedrückend. Für mich bedeutet das Recht auf ein gutes Leben auch das Recht auf einen guten Tod. Ich denke auch, dass der Tod etwas Schönes und Ungreifbares hat, jeder gibt ihm seine eigene Bedeutung.

Lesung mit Gespräch und Filmpremiere in Wiesbaden

sensor präsentiert: „Human Forever“  – Deutschlandpremiere: 28. März, 20 Uhr, Caligari Filmbühne

Teun Toebes zog mit 21 bei bester Gesundheit in die geschlossene Abteilung eines Pflegeheims und lebt dort mit Menschen mit Demenz. Auf einer Reise um die Welt sucht er gemeinsam mit Filmemacher Jonathan de Jong nach Antworten darauf, wie die Länder die Pflege von Menschen mit Demenz gestalten.

sensor präsentiert die von der Alzheimer Gesellschaft Wiesbaden in Kooperation mit Torsten Anstädt organisierte Deutschlandpremiere des Films im Caligari, zu der Teun Toebes und Jonathan de Jong aus den Niederlanden anreisen werden, als Medienpartner.

Tickets im Vorverkauf an allen bekannten Stellen und hier – sensor verlost 3×2 Freikarten – Mail mit Postanschrift bis 15. März an losi@sensor-wiesbaden.de

Am Vorabend – am Mittwoch, dem 27. März – moderiert sensor-Chefredakteur Dirk Fellinghauer einen Abend mit Teun Toebes im Presseclub Wiesbaden mit Lesung und Gespräch (begrenzte Platzzahl, Teilnahme nur nach „first come, first serve“-Voranmeldung bis 26. März, 10 Uhr, per Mail mit Betreff „Teun Toebes“ und Postanschrift an hallo@sensor-wiesbaden.de und nach erfolgter Teilnahmebestätigung ).

sensor verlost 3 Exemplare des im Knaur Verlag erschienenen und zum Bestseller avancierten Buchs „Der Einundzwanzigjährige, der freiwillig in ein Pflegeheim zog und von seinen Mitbewohnern mit Demenz lernte, was Menschlichkeit bedeutet“ – Mail mit Postanschrift bis 20. März an losi@sensor-wiesbaden.de

Sowohl im Presseclub als im Caligari wird die Wiesbadener Buchhandlung Vaternahm mit einem Büchertisch präsent sein, Teun Toebes wird im Rahmen beider Veranstaltungen auch Bücher signieren.