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Die Letzten ihrer Art: Alte Handwerkbetriebe als wohltuende Inseln der Wertigkeit – Vier Beispiele aus Wiesbaden

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Von Anja Baumgart-Pietsch. Fotos Arne Landwehr.

Gibt man bei Wikipedia „Historischer Beruf“ ein, erscheinen seltsame Wörter, die höchstens noch Lesern historischer Romane etwas sagen dürften. „Anisölbrenner“? „Chausseewärter“? „Repasseur“? „Salpetersieder“? „Korsettmacher“?  Das sind wirklich Berufe vergangener Jahrhunderte. Aber auch der „Schriftsetzer“ gehört schon zu den ausgestorbenen Handwerksberufen, obwohl die Autorin dieser Zeilen noch einige im Bekanntenkreis hat, die diese Ausbildung absolviert haben. Auch der „Klischeeätzer“, der Hoch-, Tief – oder Offsetdrucker, der Metteur gehören zu den Druckgewerben, für die mittlerweile keine Verwendung mehr besteht. „Mediengestalter Digital“ werden jetzt an ihrer Stelle ausgebildet. Doch viele der alten Handwerksdisziplinen  finden in ihren Nischen immer noch statt und werden auch weiterhin bestehen bleiben. Vier von ihnen haben wir in Wiesbaden besucht.

Musikinstrumente etwa lassen sich nicht so einfach in der Fabrik herstellen, auch wenn die Chinesen Entsprechendes versuchen. Aber eine Geige, ein Fagott oder eine Harfe, die ein Profimusiker für spielenswert erachtet, wird noch immer vom Handwerker gebaut. Und auch Kunstschmiede, -glaser, -schnitzer und ähnliche Handwerker wird es so lange geben, wie individuelle Handarbeit wertgeschätzt wird.

Die Liste lässt sich fortsetzen – auch in Wiesbaden. „Ich tue mich schwer damit, vorauszusagen, welche Handwerksberufe demnächst aussterben werden“, sagt Dirk Kornau, Pressesprecher der Wiesbadener Handwerkskammer. Es gebe zweifellos Handwerksberufe, wo eher wenige Ausbildungsverhältnisse bestünden. Aber das sei auch regional recht unterschiedlich: „In Bayern werden Sie sicher noch Bürsten- und Pinselmacher finden, und an der Nordseeküste gibt es bestimmt einige Bootsbauer. Selten geworden sei etwa der Beruf des Buchbinders. Trotzdem wurde in diesem Ausbildungsberuf unlängst eine junge Frau in Wiesbaden zum Lehrling des Monats ausgezeichnet. Uhrmacher und Schuhmacher nennt Kornau als zwei weitere Berufe, die relativ rar sind. Er bleibt optimistisch: „Es gibt wohl aktuell wieder zunehmend Menschen, die Wert auf eine hochwertige mechanische Uhr oder maßgefertigte Schuhe legen.“

Spannende Ausflüge in alte Welten
Lässt man sich auf der Seite der Handwerkskammer (www.hwk-wiesbaden.de) mal aktuelle Zahlen anzeigen, so findet man über 300 Friseure und über 150 Kraftfahrzeugtechniker als Spitzenreiter. Wiesbadener Korbflechter, Elfenbeinschnitzer, Fleischzerleger, Flexografen und Müller lassen sich dagegen insgesamt an einer Hand abzählen. Es ist richtig spannend, einen Ausflug in die Welt alter Handwerksberufe zu unternehmen.  Wer sich auf die Suche macht, finden Menschen, die den Computer – wenn überhaupt – nur privat oder für die Buchhaltung benutzen. Die mit ihren Händen zu arbeiten wissen, schöne Dinge herstellen, Nachhaltigkeit praktizieren  – und am Abend nicht nur wissen, sondern auch sehen, was sie „geschafft“ haben.

Der Kunstschmied

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Den ersten Fauxpas begehe ich schon, als ich Steffen Schmidt die Hand schütteln will. „Die geb ich Ihnen nicht“, grinst der Bierstadter Kunstschmied, und als er sie mir entgegenstreckt, sehe ich auch, warum: Die Handfläche ist rabenschwarz. Der Kunstschmied geht eben den ganzen Tag mit heißem Metall um. „Aber das geht ab“, versichert der Meister glaubhaft, und sein Kollege nickt eifrig. Schmidt besetzt mit seinem Handwerksbetrieb eine Nische, die heute nur noch selten gefüllt wird, denn auch hier ist das Internet eine Konkurrenz – Baumärkte sowieso, da lassen sich Zäune und Gitter halt auch auf Maß bestellen. Wer aber echte Qualität am Haus haben möchte, geht doch am besten zum Kunstschmiedemeister, denn so unbezahlbar, wie es klingt, ist die Handarbeit gar nicht.

Selbst wenn Zäune oder Fenstergitter mit Blattgold verziert werden, bewegt sich das Honorar des Schmieds noch in finanzierbarem Rahmen. Das nutzen gerade in Wiesbaden Villenbesitzer, die ihre denkmalgeschützten Objekte auch auf diesem Gebiet vom Fachmann restaurieren lassen möchten. Gerade liegt ein großer, verschnörkelter Eisenzaun in Schmidts Werkstatt, der nicht nur generalüberholt werden muss, sondern auch noch einen Schaden aus dem Zweiten Weltkrieg hat, den die Kunstschmiede nun endlich beseitigen werden. Ein Bombensplitter oder eine Kugel hat zwei Zaunteile aufgebogen. „Wenn so ein Zaun erzählen könnte, käme sicher eine Menge zutage,“ sinniert Steffen Schmidt, für den es nie eine Frage war, den gleichen Beruf wie Vater und Opa zu ergreifen.

Die Werkzeuge der Vorfahren
Noch heute benutzt er die Werkzeuge der Vorfahren, noch heute ist die Werkstatt am gleichen Platz, mitten im Wohngebiet – und deswegen kann er auch bestimmte Maschinen, die es heute zur Arbeitserleichterung geben würde, nicht aufstellen: „Die Vibration von so einem Hammer würden Sie drei Häuser weiter noch spüren.“ Deswegen ist hier wirklich noch alles handgemacht. Nur die Esse hat keinen Blasebalg mehr, sondern eine elektrisch gesteuerte Luftzufuhr. Einen Computer brauche man nur zur Büroarbeit, sagt der Meister. In der Werkstatt wäre das nicht nur ein Fremdkörper: „Der wäre von dem ganzen Staub auch gleich hinüber“. Schmidt und seine Kollegen entwerfen und zeichnen von Hand und schmieden ihre Werkstücke fast so wie in früherer Zeit. Nachwuchs gibt es hier indes keinen mehr. „Wenn ich nicht in den nächsten fünf, sechs Jahren einen Nachfolger finde, muss ich zumachen“, bedauert der Schmied, aus dessen Werkstatt nicht nur zahllose detailreich geschmückte Firmenschilder von Hotels – „auch in der Drosselgass´ in Rüdesheim!“ – stammen, sondern auch die riesige Orgelverkleidungswand im Thiersch-Saal und der Kirchturm-Gickel in Bierstadt. Ein vielseitiger Meister eben.

Der Geigenbauer

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„Die Zeit scheint stehengeblieben zu sein“ – dieses Klischee kommt auch bei Christoph Götting sofort in den Journalisten-Sinn, gleich beim Übertreten der Türschwelle seiner kleinen Werkstatt in Dotzheim. Es riecht nach geheimnisvollen Essenzen, Werkzeuge liegen auf dem Tisch, deren Benutzung sich dem Laien nicht gleich erschließt, und daneben liegt ein Stück Holz, das  zum Musikinstrument werden will. Götting baut hier im Wiesbadener Vorort absolute High-End-Instrumente, nichts für Schüler, sondern für Spitzen-Musiker.  Er stammt aus Wiesbaden und hat an der renommierten Geigenbauschule im bayrischen Mittenwald – erste Adresse in Deutschland – sein Handwerk gelernt. Dann hat er es viele Jahre lang in England praktiziert. Dort, so erklärt der freundliche Mann mit der grünen Meister-Eder-Schürze, habe er hauptsächlich Geigen aus vergangenen Jahrhunderten restauriert. Und dabei gelernt, worauf es ankommt, um ein Instrument zu bauen, „in das sich Musiker verlieben“. Etwa 200 Stunden stecken in einer Götting-Violine, Hauptsache ist aber seine Erfahrung.

Lacke nach Geheimrezepten
Leidenschaft nennt Götting dann auch als erste Voraussetzung für diesen Beruf, neben handwerklichem Geschick, Verständnis für Musik, Liebe zum Material Holz und auch chemischen Kenntnissen – denn die Lacke für die Instrumente stellt jeder Geigenbauer selbst nach überlieferten und selbst weiterentwickelten „Geheimrezepten“ her. Der Lack beeinflusse nicht unwesentlich den Klang des Instruments, erklärt Götting. Daher kocht er ihn selbst, ganz wie ein Alchimist. Auch hier gibt es keinen Computer in der Werkstatt, obwohl Götting mittlerweile natürlich von einer Webseite profitiert, über die ihn viele Kunden finden. Instrumentenbau, so wie er ihn betreibt, ist ein retrospektives Handwerk. Es baut auf Jahrhunderten auf. Es gebe schon Kollegen, die mit Maschinen das Holz bearbeiten, natürlich gibt es auch elektronische Geigen oder Fernost-Billig-Nachbauten. „Darf es alles. Aber ich habe damit nichts zu tun“, sagt Götting, der im Laufe der Jahre etwa 85 eigene Geigen gebaut hat. Das klingt wenig – aber Unikate dieser Qualität sind auch wirklich etwas Besonderes. Und daher darf der Geigenbauer sich auch den Luxus leisten, so zu arbeiten, wie er arbeitet: Wie einst Stradivari im italienischen Cremona, umgeben von Düften, Klängen und edelsten Hölzern. Und ganz allein.

Die Buchbinder

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Es riecht nach Papier, nach Pappe, Leder, Leim und anderen Dingen „von früher“, die bald sicher kaum noch jemand auf Anhieb identifizieren können wird. Papier, heute oft spöttisch-despektierlich „Totholz“ genannt,  ist das Haupt-Handwerkszeug der Gebrüder Sorajewski, zweier Buchbinder, die nahezu die Letzten ihrer Art in Wiesbaden sind. Obwohl Siegfried (78) und Günter (77) Sorajewski davon überhaupt kein Aufhebens machen. „Es ist, wie es ist“, sagen sie – und das schon seit über 50 Jahren. Bereits die Berufswahl war pragmatischen Erwägungen geschuldet. „Wir waren Flüchtlinge aus Ostpreußen, gestrandet im kleinen Nassau an der Lahn, und haben eben die Lehrstellen genommen, die es damals gab“, sagt Siegfried, dem das Buchbindehandwerk dann aber doch ganz gut gefiel: „Es war drinnen, gemütlich und warm, nicht draußen auf dem Bau oder sowas“. Und so lernte das Gleiche dann auch sein jüngerer Bruder. In vergangenen Zeiten leisteten sich noch manch ein Betrieb und viele Behörden eine eigene Buchbindeabteilung, in der Geschäftsunterlagen und Fachzeitschriften eingebunden wurden. So fanden Günter und Siegfried zunächst Arbeit.

Die Brüder verstehen sich blind
Die Brüder aber wollten sich lieber selbstständig machen und fanden 1965 die kleine Werkstatt in der Herderstraße, die noch heute eine Zeitreise möglich macht: Liebenswert vollgepackt, mit antiquiertem Radio, Klebezetteln, auf denen steht „Bin gleich wieder da“, mit Oldtimer-Fan Günter Sorajewskis Rallye-Pokalen auf Wandregalen und mattgrünlackierten Schneide- und Präge-Maschinen, die man unter den Stapeln kaum erkennt. Selbstverständlich wissen die beiden Brüder genau, wo sie alles finden – wenn nicht der Eine, so der Andere, denn Teamwork betreiben die beiden ganz selbstverständlich, auch wenn sie es so nicht nennen. „Man muss sich doch freuen, wenn der andere etwas besser weiß“ – diese Einstellung muss man mittlerweile im Berufsleben suchen. Bei Sorajewskis ist sie ganz natürlich, die Brüder verstehen sich blind. Die Kundschaft indes wird kleiner, es gibt nur noch ein paar Kanzleien oder Firmen, die ihre Unterlagen regelmäßig zum Einbinden bringen.

Ansonsten kommen eher Kunden mit einzelnen, wertvollen, antiquarischen Büchern, die sie neu eingebunden haben wollen. Das erledigen die beiden Handwerker – „Künstler“ wollen sie sich nicht nennen lassen, obwohl Farb- und Formempfinden wichtige Bestandteil ihrer Arbeit sind –   akribisch genau. Und schreiben auch ihre Buchhaltung und Kundenkartei auf ganz normale Zettel. Computer? Auch hier Fehlanzeige. „Eine Schreibmaschine haben wir da hinten irgendwo“, zeigt Siegfried Sorajewski in den hinteren Teil der Werkstatt.

Der Scherenschleifer

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„Alte Handwerke? Na ja, ich bin alt und Handwerker bin ich auch irgendwie“, grinst Hans Warth-Leimbert. „Aber so richtig gelernt hab´ ich das ja nicht.“ Das könne man schon, sagt der ehemalige Kameramann, der als Rentner jetzt noch einmal etwas ganz Anderes macht. „Schneidwerkzeugmechaniker heißt der Beruf offiziell. Aber ob es da Azubis gibt?“ Doch Warth-Leimbert, der „Scherenschleifer vom Wochenmarkt“, hat sich natürlich schon in seinem „neuen“ Gewerbe richtig umgeschaut. „Ich war bei Kollegen und habe denen genau zugesehen“, sagt der mittlerweile dreimal pro Woche aktive Mann fürs Scharfe. Dann hat er investiert – in eine italienische „Ape“, die er als Mini-Werkstatt umbaute, in ein „Corporate Design“ mit  einer „scharfen“ Chilischote als Logo und in eine ordentliche Schleifmaschine. Mit dieser steht er jetzt mittwochs und samstags auf dem Wiesbadener Wochenmarkt, nicht als offizieller „Marktbeschicker“, denn das dürfen nur Leute sein, die Lebensmittel oder Blumen anbieten. „Aber ich habe mit dem Café Lumen vereinbart, den Platz nutzen zu dürfen“. Und so schleift Hans Warth-Leimbert jetzt Wiesbadens Messer und Scheren. Für den Haushaltsgebrauch, aber auch für Profiköche. „Nur keine Haar-, Nagel- oder Stoffscheren. Da braucht man noch andere Maschinen“, berichtet er.

Gegen die Wegwerfgesellschaft
Seit kurzem steht er mit der Ape auch freitags in Biebrich. Und hat Stammkunden gefunden, die es mögen, ihre Schneidwerkzeuge unter seiner kundigen Hand wieder richtig schärfen zu lassen, anstatt sie wegzuwerfen. „Das war auch so ein bisschen mein Gedanke: Gegen die Wegwerfgesellschaft anzugehen“, meint der Schleif-Spezialist.  Mehr, als er macht, will er gar nicht machen: „Ich will das ja ohne Druck tun. Es macht Spaß“. Das sieht man ihm an, wie er da fast liebevoll die Klingen einer alten, gravierten Schere gegen das funkensprühende Bandschleifgerät drückt, bis sie genau das richtige Maß an Schärfe haben. Dann schneidet Hans Warth-Leimbert probeweise zwei- dreimal in ein Blatt Papier und ist zufrieden. Der Kunde, der die Schere abholt und ihm gerade mal vier Euro dafür bezahlen muss, ist es auch.