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Editorial Juni-sensor: Behinderte als ganz normale Menschen wahrnehmen – das kann doch nicht so schwer sein

DirkFellinghauer_kom

Meine erste bewusste Begegnung mit Behinderten,

liebe sensor-Leserinnen und –Leser, hatte ich als Grundschüler mit dem Vater meines (bis heute) bestens Freundes. Er war nach einem Arbeitsunfall beinamputiert. Und ging damit so selbstverständlich um, dass wir Kinder kaum eine Chance hatten, das komisch zu finden. Besonders war es schon für uns, auch interessant. Er zeigte uns sein künstliches Bein, erklärte es uns, „spielte“ und scherzte damit. Er spielte auch ohne das Bein, und zwar Fußball, genauer gesagt Sitzfußball. Versehrtensport nannte sich das damals. Oft nahm er meinen besten Freund und mich mit, wir durften zuschauen, wie er und seine Sportfreunde im Wahnsinnstempo über den Boden der Turnhalle rutschten und mit welcher Wucht sie einbeinig Tore schossen. Und wir durften nach dem Training mit in die Kneipe, mit den Großen, wie die Großen. Wir liebten diese Abende.

Meine nächste intensive Begegnung mit Behinderten war die Zeit meines Zivildienstes. „Individuelle Schwerstbehindertenbetreuung“ nannte sich das, was ich machte. Einer meiner Schützlinge war Thomas. Geistig behindert nach einem Suizidversuch. Ein junger Mann mit tragischer Geschichte. Und Liebling aller Zivis. Weil er einfach ein cooler Typ war. Er brauchte 24-Stunden-Betreuung, in zwei Schichten. Von 8 Uhr morgens bis 20 Uhr, von 20 Uhr bis 8 Uhr morgens, immer eine Woche lang. Ich hatte in der Regel die „Tagschicht“, und nahm ihn einfach überall hin mit. In die Stadt, zu öffentlichen Veranstaltungen, nach Hause. Wir erregten Aufsehen, keine Frage. Aber das war das Problem derer, die manches, was Thomas machte, seltsam fanden, und nicht unseres. Wir hatten großen Spaß miteinander.

Der körperlich behinderte Vater meines besten Freundes, der geistig behinderte Schützling während meiner Zivi-Zeit – zwei unterschiedliche Erfahrungen mit einer gleichen Erkenntnis: Für Menschen mit Beeinträchtigung ist manches nicht möglich, vor allem ist aber sehr vieles möglich, und zwar fast selbstverständlich. Wie selbstverständlich, das liegt auch an ihrer Umwelt und an ihren Mitmenschen. „Behindert ist man nicht, behindert wird man“, habe ich gelesen. Da ist etwas dran.

Dieser sensor schafft Begegnungen mit Menschen unserer Stadt, die mit Behinderung leben. Mit ihren Geschichten zeigen sie, was geht, in ganz unterschiedlichen Bereichen des Lebens. Das soll nicht heißen, dass Betroffene und ihre Angehörigen nicht mit Problemen, Herausforderungen und Schwierigkeiten zu kämpfen haben, im Gegenteil. Aber muss man sich immer darauf konzentrieren? Ich finde nicht. Schon gar nicht als Außenstehender. Eine Gesprächspartnerin wünscht sich, dass man ihre Tochter „als ganz normalen Menschen wahrnimmt“. Das kann doch eigentlich nicht so schwer sein.

Dirk Fellinghauer, sensor-Selbstverständlichkeitsbeauftragter