Von Dirk Fellinghauer.
Groß muss bei der Wiesbadener CDU die Verzweiflung sein, sie könnte bei der Kommunalwahl am 6. März nicht genügend Stimmen zusammenbekommen. Anders lässt sich nicht erklären, dass die Partei Briefe in der Stadt verteilt mit plumpen Parolen und Forderungen zum Thema Flüchtlinge, die sonst aus weitaus rechteren Lagern kommen. In sozialen Medien wird das Schreiben von manchen für buchstäblich so unglaublich gehalten, dass ernsthaft die Echtheit angezweifelt wurde. Diese bestätigte CDU-Kreisgeschäftsführer Hans-Martin Kessler jetzt auf sensor-Anfrage.
Damit verlässt die CDU die „Wiesbadener Linie“. Zu dieser gehört, dass sich alle Rathaus-Fraktionen darauf geeinigt haben, das Flüchtlingsthema aus dem Wahlkampf herauszuhalten. Als Absender des Briefs fungieren per Briefkopf und Unterschrift: der als „CDU-Spitzenkandidat zur Stadtverordnetenversammlung“ apostrophierte Wolfang Nickel, der auch Stadtverordnetenvorsteher ist und unbedingt wieder werden möchte, sowie Bernhard Lorenz als „Vorsitzender der CDU-Rathausfraktion“.
Kein Wort über Integration
Das Schreiben bedient und schürt Ängste und suggeriert zudem, an der Wiesbadener Wahlurne – bei der Kommunalwahl, also der Wahl der Stadtverordnetenversammlung und der Ortsbeiräte – werde über Wohl und Wehe (mindestens) der ganzen Republik entschieden. Kein Wort übrigens ist in dem einseitigen Schreiben zum Thema Integration zu finden.
Während CDU-Fraktionschef Bernhard Lorenz als Haudrauf bekannt ist und diesen Ruf gerne pflegt, sorgt vor allem die Tatsache, dass Wolfgang Nickel den Brief unterschrieben hat, für Irritation und Unverständnis. Auch wenn der 70-Jährige hier als Wahlkämpfer für seine Partei auftritt, kann man nicht darüber hinwegsehen, dass er sich in seinem Amt als Stadtverordnetenvorsteher und „erster Bürger“ der Stadt für derartige Stimmenfang-Methoden auf dem Rücken einzelner Gruppen eigentlich zu schade sein müsste.
In einem Wiesbaden-Check zur Kommunalwahl stellte hr-Korrespondentin Andrea Bonhagen erstaunt fest: „Die Partei ALFA von AfD-Aussteiger Bernd Lucke plakatiert in Wiesbaden rechter, als die AfD auftritt.“ Genau diese Partei ALFA hat nun bereits genüsslich den CDU-Brief geteilt, und einer ihrer Wiesbadener Kandidaten kommentiert das Schreiben erfreut als Beleg, dass „wohl immer mehr Politiker auf den Kurs von Alfa einschwenken“.
Stärke? Im Gegenteil!
„Stärke zeigen“ heißt der zentrale Wahlkampfslogan der Wiesbadener CDU. Mit diesem Schreiben entlarven sich die verantwortlichen Christdemokraten als Schwächlinge. Anders kann man Vertreter demokratischer Parteien nicht nennen, die sich aus purer Panik auf das Niveau derer herablassen, denen sie eigentlich mit Selbstbewusstsein und überzeugenden Argumenten, mit Entschiedenheit und klarer Kante – und ja, eben mit eigener und echter Stärke – begegnen müssten.
Hier unsere Fragen an CDU-Kreisgeschäftsführer Hans-Martin Kessler und seine Antworten – mit Interpretationsspielräumen auch zwischen den Zeilen:
Ist dieses Schreiben echt?
„Ja.“
Handelt es sich um eine offizielle Wahlkampfmaßnahme der CDU Wiesbaden?
„Es handelt sich um ein persönliches Anschreiben der beiden CDU-Spitzenkandidaten Wolfgang Nickel und Bernhard Lorenz.“
Von wem und auf welchem Wege wurde der Text verfasst?
„Der Text wurde nach ausführlicher interner Beratung von den beiden Spitzenkandidaten unterschrieben.“
Gab es einen innerparteilichen Abstimmungsprozess?
„Die parteiinternen Gremien tagen nicht öffentlich. Der Kreisvorstand der CDU Wiesbaden hat den Inhalt des Briefes zur Kenntnis genommen.“
In welcher Auflage und auf welchem Wege/welchen Wegen wird der Brief verbreitet?
„Der Brief wurde an einen Großteil Wiesbadener Wählerinnen und Wähler versendet.“
Wird der Text seitens der CDU Wiesbaden auch aktiv im Internet veröffentlicht?
„Nein, bis jetzt nicht.“