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„Frau von radikaler Wucht“ – Ein intensiver Nachruf auf Sigrid Skoetz von Staatstheater-Schauspieler Paul Simon

Die Nachricht klang – und klingt immer noch – für viele, die sie kannten, unwirklich. Sigrid Skoetz ist Ende Oktober überraschend verstorben. An diesem Mittwoch, 30. November, um 12 Uhr wird die langjährige Leiterin des Walhalla-Theaters und des Walhalla im EXIL auf dem Südfriedhof beerdigt. Alle, die sich von der einzigartigen Theaterfrau verabschieden wollen, sind willkommen zur Trauerfeier mit anschließender Beisetzung. Einer, der besonders intensiv mit Sigrid Skoetz zusammengearbeitet hat, ist der Staatstheater-Schauspieler Paul Simon. Er hat einen intensiven persönlichen Nachruf verfasst, den er „Nachschrei“ nennt und den wir hier in voller Länge veröffentlichen.

Sigrid ist tot. Keine Schwerkraft Ein Nachschrei:

„Jaaaaaa, das ist guuuuuuuuuut. Wir müüüüüssen das soooo maaacheeeeeeen! Niiiicht gemüüüütlich. Alles ist immer gemüüüüütlich. Sooooooo müüssen wir das machen! Biiiitteeee.“, ertönte es abermals aus einer verdunkelten Ecke des Offs bei mitternächtlichen Proben im Walhalla im Exil. Da saß eine Person, die ganz beiläufig an einem winzigen Lichtregler mit ihren Fingern schraubte, während sie mit staunendem Blick und voller Hoffnung für die Sinnhaftigkeit des Moments dem Geschehen beiwohnte.

JA! Diese Person war Sigrid Skoetz. Eine Theatermacherin. Ein Phänomen. Ein Wunder.

Eine Frau von radikaler Wucht in ihren komplexen Gedankengängen und der gesamten Hingabe ihres unerschöpflichen Herzens für die Sache.

Als ich 2017 von der HMT Leipzig ins Erstengagement ans Staatstheater Wiesbaden engagiert wurde und den Fotografen Simon Hegenberg kennenlernte, dauerte es nicht lange, dass ein Name fiel: Sigrid.

Keine Ahnung von den Menschen, der Hauptstadt Hessens und der Kunstszene Wiesbadens, erfuhr ich schleunigst, wie wichtig in diesem Gebilde der Gesellschaft Frau Skoetz ist. Sigrid!

Am 16. Februar 2018 eröffnete das Walhalla im Exil unter anderem mit der „Kinski-Performance“! Eine unvergleichliche „neue“ Spielstätte in einer provinziell anmutenden Stadt. Videos, Texte und Schauspiel nach Klaus Kinskis schriftlichen Ergüssen, durfte ich mit meinen sehr geschätzten KollegInnen Llewellyn Reichman und Max Pulst das Licht der Welt erblicken lassen.

Realisiert in Zusammenarbeit mit Sigrid Skoetz. Ein Abend, den ich nie vergessen werde. Ein Rausch.

Kurz nach der beendeten Vorstellung im paar Straßen weiter stehenden Staatstheater (Max & Llewellyn gaben „Antigone“ in einer Inszenierung von Manfred Karge zum Besten) verzierten wir Llewellyns Körper in ihrer Garderobe mit schwarzen Filzstiften. Aufgrund des laufenden Spielbetriebs im Theater hatten wir kaum Zeit zu Probieren für die bevorstehende Premiere unserer Performance im Walhalla und malten uns Spickzettel aufs eigene Fleisch mit den Texten Kinskis.

Wir zogen zu dritt durch die Fußgängerzone ins Exil in der Nerostraße (schon im Kostüm!) und besudelten mit einer enormen Energie, Spielfreude und Spaß an der Verwandlung die frisch eingeweihten Bretter vor den Augen der sich versammelten ZuschauerInnen. Dieser Abend sollte der Startschuss für die darauffolgenden Projekte in dieser andersartigen Spielstätte für die Stadt Wiesbaden sein.

Sigrid wollte immer mehr als nur Theater. Mehr als die Stadt. Aber vor allem mehr als das Leben.

Wir realisierten 2018 zusammen die „Hamletmaschine“ von Heiner Müller in nur ungefähr vier bis fünf Proben, die meist in der Mittagspause oder nach Vorstellungen in der Nacht möglich waren. Sigrid, Llewellyn und ich gründeten das „Exil Kollektiv“, dem auch die kreativen Köpfe Simon Hegenberg, Hans Kranich, Matze Vogel, Marie Zbikowska und andere. angehören sollten.

Wir bemalten die schwarzen Wände mit bunter Straßenkreide unter anderem mit eigenen Zitaten wie: „Mit dem Zweiten fickt man besser.“ oder „Wer nicht dabei war, wird nie verstehen, warum das Alles nicht besser war.“, legten leuchtend pinken Pappboden aus, zerschnitten Zeitungen, besorgten Kinderspielzeug, warfen uns halbnackt an Megaphon und mimten uns die verschwitzte Seele aus dem Leib.

Bei Sigrid zu spielen bedeutete: Nichts zurückhalten. Immer Alles geben.

Der von Schweiß geschwängerte Geruch des Raumes, der stickige Dunst der Nebelmaschine, die grellen Lichter, die tiefschwarz gestrichenen Wände. Kein Entkommen. Aber Willkommen!

Sigrid schaffte mit ihrem Walhalla im Exil einen „Orcus der Liebe“ auf ein paar Quadratmetern, in der die Zeit für immer stillzustehen schien. Leidenschaftlicher Exzess.

2019 realisierte Sigrid mit mir zusammen das Buch „EXODUS“ nach DJ Stalingrad. Sie fragte, ob ich eine weitere Idee für eine folgende Exil-Produktion hätte. JA! Nach der fulminanten „Hamletmaschine“ lag mir dieser Roman mit erschütternden und eindringlichen Texten auf dem Herzen, worauf sie sofort beglückt und neugierig ansprang.

Ich traf mich mit ihr eines Nachmittags auf eine Cola im Exil zu einer „Konzeptionsprobe“. Erzählte ihr, was ich damit vorhabe. Dass ich das Buch für einen etwa einstündigen Monolog voller Intensität und menschlicher Abgründe bearbeiten und kürzen wollen würde. Sie hörte mir etwa eine halbe Stunde gespannt zu und sagte dann nur: „Duuuuu biiiist auch Schlagzeuger, Paulll. Wir brauuuuchen ein Schlaaaagzeug für diiich. Baaam, Baaaam, Baaaaam. Uuund dann maaachen wir das. Du braaauchst die Energiiiiiie von Aaaanfaang an! Der Teeext ist sooooo guuuuut. Soooooo guuuuuuuuuut. Aber wir brauchen ein Schlaaaagzeug füüür diiich. Sooooooo maaachen wir daaas!“

Ohne Sigrid wäre die Produktion nicht das geworden, was sie dann werden sollte. Mein Grundgedanke des Konzepts war: ein Stuhl, leere Flaschen Bier & Wodka und alte, versiffte Zeitungen auf dem Boden. NEIN! Ein Schlagzeug und eine Rampe quer durchs Walhalla im Exil. Umgeworfene Stühle. Ein Hardcorekonzert. Ekstase. Oh, Sigrid! Du hattest mich. Ein Bandproberaum ohne Band! Ein Vergessener ohne Hoffnung. Das waren Sigrids Gedanken. Die Tiefe zu erkennen, um damit das Dunkelste der Seele zu begreifen. Sie verhalf mir damit in eine existenzielle Verkörperung und schaffte ein Setting, welches der Figur eine Kraft gab, um lebendig zu werden. DJ STALINGRAD was born! EXODUS IM EXIL.

Durch die COVID-19-Pandemie im Jahre 2020 (und die Einstellung des Spielbetriebs) wurde aus Teilen der abgefilmten Liveperformance von „Exodus“ (DE-DA Productions) und einer komplett neu entwickelten Szenerie (gedreht in der Wartburg des Staatstheaters Wiesbaden) sogar ein mittellanger Film, mit meinem befreundeten Kollegen Denislav Kanev-Matzel verwirklicht, den es immer noch bei YouTube zu finden gibt.

Es war eine Bereicherung für mich, in diesen Räumen spielen zu dürfen, sich mit Sigrid auszutauschen, zu streiten und mit den Worten zu ringen bei aufkommenden Missverständnissen.

Es war gefährlich. Es war radikal. Laut. Angstbefreit. Nervenaufreibend. Voller Wut. Voller Hoffnung. Voller Leben.

Sigrid kam an manchen Tagen vor Vorstellungsbeginn in die „Umkleidekabine“ des Exils (ein ca. 1 qm² kleiner Raum mit einem winzigen Kühlschrank, Spiegel, Sofa und mit kaputter Schiebetür neben dem Bartresen), in der ich mich für den Auftritt warm schminkte und flüsterte mir durch den halbgeöffneten Türspalt etwa 5 Minuten nach Einlass zu: „Eeees sind heuteee 3 daaa.“ Es war egal. Ich hätte oftmals sogar Geld bezahlt, um da spielen zu können. Nur für sie. Für die am lautesten Lachende im Publikum am Lichtregler, den sie während der Performances selbst bediente. Die vor Freude mit den Füßen stampfende Frau, die lauthals rief: „Soooooooo wiiiichtiiiiig, dass wiiiir das maaaachen!“ Aber für wen?

Für uns? Für die paar Leute? Für was? Für die Kunst!

Sigrid war der giftige Stachel im Baumwollsocken ummantelten Fuß der Wiesbadener Hochkultur. Ich war infiziert. Sigrid war die Kunst.

Danke für Alles liebe Sigrid! Der Rest ist Schweigen. In tiefer Verneigung vor deinem Werk und in Liebe, Paul“

Kulturbeirat würdigt „Koryphäe“ Sigrid Skoetz

„Dass auch abseits des kulturellen Mainstreams Leuchtfeuer möglich sind, hat Sigrid Skoetz eindrucksvoll bewiesen“, so der Vorsitzende des Wiesbadener Kulturbeirats, Ernst Szebedits. „Mit ihr geht eine starke Frau, die unsere Kultur bereichert hat“, sagte er über die „Koryphäe des experimentellen Theaters“ und erinnerte: „Auch in der aktuellen Diskussion um das Walhalla hat sie sich noch intensiv eingebracht und war dem Beirat mit ihren Impulsen präsent.“

Sigrid Skoetz im Gespräch mit Filmemacher Jörg Buschka und Schauspieler Paul Simon:

„EXODUS“ – Der Film