Von Julia Bröder. Fotos: Kai Pelka.
Der Weg bis hier war schwer, aber Yannik Becker ist zufrieden mit seinem Job. Er arbeitet in der Immobilienverwaltung der IFB Stiftung in Wiesbaden. „Hier traut man mir etwas zu und übergibt mir Verantwortung“, sagt der 29-Jährige. Aufgrund einer spastischen Lähmung hat der Mainzer nie eine Regelschule besucht und blickt auf einen langen und nicht immer leichten Bildungsweg zurück. „Ich war motorisch nicht in der Lage, die Dinge schneller zu verarbeiten, das hat nichts mit meinen kognitiven Fähigkeiten zu tun“, betont er.
Eigener Wille entscheidend
Sein Fachabitur mit dem Schwerpunkt Wirtschaft und Verwaltung absolvierte Yannik Becker an der Edith-Stein-Schule Hochheim, anschließend lernte er Kaufmann für Büromanagement. Er hat die Erfahrung gemacht, dass es trotz offizieller Unterstützung bei der Berufsfindung am Ende vor allem auf den eigenen Willen und das Durchsetzungsvermögen ankommt. Und vielleicht, auch wenn gelungene Inklusion davon eigentlich nicht abhängen sollte, gehört auch ein bisschen Glück dazu. „Ich habe durch meinen Pflegedienst zufällig eine Beraterin gefunden, die selbst eine Behinderung hat und mich mit ihrem Wissen viel besser begleiten konnte“, so Yannik Becker.
Vorgestellt hat er sich bei unterschiedlichen Firmen, teilweise habe er aber direkt gemerkt, dass „die mich nur eingeladen haben, weil sie es mussten“. Ein wirkliches Interesse daran, ihn als behinderten Menschen einzustellen, sei selten zu spüren gewesen. Zum Hintergrund: Im Sinne der Inklusion sind Arbeitgeber in Deutschland unter bestimmten Umständen dazu verpflichtet, Schwerbehinderte zum Bewerbungsgespräch einzuladen. Bei Betrieben mit mehr als 20 Mitarbeiter:innen müssen mindestens fünf Prozent der Belegschaft aus Menschen mit einer Behinderung oder ihnen gleichgestellte Menschen sein – ansonsten zahlen die Firmen eine sogenannte Ausgleichsabgabe. Diese Ausgleichabhabe kommt wiederum den Arbeitgebern zugute, die behinderte Menschen beschäftigen.
Barrierefrei – auch im Kopf
Doch wo stehen wir eigentlich in Sachen Inklusion auf dem Arbeitsmarkt? Welche Möglichkeiten gibt es für behinderte Menschen, am Arbeitsleben teilzuhaben? Was können Firmen tun, um Inklusion voranzutreiben? Was ist mit den Werkstätten? Und: Wer gilt eigentlich als behindert?
Fest steht: Für die Zusammenarbeit mit beeinträchtigten Kolleg:innen braucht es Energie – nicht zuletzt, gerade weil die Art einer Behinderung, das Ausmaß und die Auswirkung auf die Produktivität höchst individuell und keineswegs starr sind.
„Natürlich kostet es Zeit und auch Nerven, all das zu organisieren“, gibt Melissa Groh, Geschäftsführerin der IFB Stiftung, zu. Im Fachbereich „Job“ der Stiftung beschäftigt sie – oftmals im Tandem mit gesunden Kolleg:innen – behinderte Menschen, zum Beispiel im Catering, in der Gebäudereinigung oder im Handwerk. In Georgenborn betreibt die Stiftung einen Supermarkt mit Café, in dem ausschließlich Menschen mit Beeinträchtigung tätig sind. Melissa Groh findet: „Neben solchen Inklusionsbetrieben müssen aber auch Unternehmen aus der freien Wirtschaft bereit sein, ein Umfeld zu schaffen, in dem behinderte Menschen gut arbeiten können – und damit meine ich nicht die Treppe!“ Neben Gebäuden und Ausstattung muss auch die Haltung stimmen. Melissa Groh sagt ganz klar: „Man muss jemanden im Team identifizieren, der schaut, dass es den Kollegen und Kolleginnen gut geht!“ Yannik Becker hat eine 50-Prozent-Stelle. Mehr würde sich nicht lohnen, da er ab einer bestimmten Gehaltsgrenze für seinen Pflege anteilig selbst zahlen müsste – ein weiteres Fragezeigen im Hinblick auf einen inklusiven Arbeitsmarkt.
Selbstbewusste Generation
Wiesbaden sieht Melissa Groh dennoch gut aufgestellt. Die jüngere Generation behinderter Menschen sei sehr selbstbewusst. Durch die enge Zusammenarbeit mit Organisationen wie dem facettenwerk als Verein für Behindertenhilfe oder dem Bildungswerk der Hessischen Wirtschaft könne man vielen Menschen Einstieg und Teilhabe am Berufsleben ermöglichen.
Dazu ein paar Zahlen: Hessenweit ging die Arbeitslosigkeit von Menschen mit Schwerbehinderung in 2022 um 10 Prozent zurück und liegt wieder auf dem Niveau wie vor Corona. In Wiesbaden arbeiten etwa 6.600 schwerbehinderte und ihnen gleichgestellte Menschen, 550 Menschen mit Behinderung sind hier laut Arbeitsmarktstatistik arbeitslos. Hier dockt das Projekt „Neue Wege in den Beruf“ mit einer zweijährigen Orientierungsphase in der Stadtverwaltung an. Vor kurzem startete die 17. Runde.
Unabhängige Beratung für Unternehmen
Seit Mitte 2022 gibt es bei der Werkgemeinschaft e.V. die „Einheitliche Ansprechstelle für Arbeitgeber in Wiesbaden und dem Rheingau-Taunus-Kreis“. Susanne Tölzel und Sabrina Reitze beraten Firmen, die Menschen mit Behinderung einstellen, ausbilden oder beschäftigen möchten, kostenlos. Dabei geht es zum Beispiel um Fördermöglichkeiten, das Thema Arbeitsplatzanpassungen oder die Frage, ob Firmen ihre Bewerber überhaupt auf eine mögliche Behinderung ansprechen dürfen. „Die Kernfrage, mit der wir jedoch die meisten Informationsgespräche beenden ist: Ja super, sehr interessant. Hätten Sie denn jemanden für uns?“, freut sich Susanne Tölzel. Oft höre sie: „Bei uns bewerben sich keine Menschen mit Behinderung.“
Das wiederum könnte an der wenig inklusiven Formulierung der meisten Stellenanzeigen liegen. „Wir wünschen uns viel mehr Stellenangebote, in denen klar zum Ausdruck kommt, dass Bewerbungen von Menschen mit Behinderung selbstverständlich willkommen sind“, so Sabrina Reitze. Im weiteren Prozess müsste es normal werden, dass Personalverantwortliche bedenken, wie gut erreichbar ihre Räumlichkeiten sind. „Die Belange von Menschen mit Behinderung müssen einfach mitkommuniziert werden. Das ist für die meisten Arbeitgeber, vor allem die kleineren ohne große Personalabteilung, anfangs nicht einfach, aber wir geben gerne Impulse.“
Behinderung als Bereicherung
Sie sind überzeugt: Divers aufgestellte Teams agieren langfristig geschickter, und manche Behinderungen wirken sich durchaus positiv im Arbeitsleben aus. „So können sich Hörbehinderte oft äußerst gut konzentrieren und haben ein besseres Sehvermögen. Blinde Menschen haben oft herausragendes Tastvermögen und eine sehr feine auditive Wahrnehmung. Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung zeichnen sich häufig durch ausgeprägtes logisches Denkvermögen, Detailliertheit, Gewissenhaftigkeit, Zuverlässigkeit oder besonders sensible Sinneswahrnehmung aus“, wissen die Expertinnen – und: „Jeder Mensch bringt ganz eigene Stärken mit.“
Inklusionsvereinbarung der Stadt
Das zeigt noch einmal, wie vielfältig das Thema Inklusion gedacht werden muss. Begonnen damit, dass viele Behinderungen gar nicht sichtbar sind, für die betroffenen Personen aber durchaus eine Herausforderung im Arbeitsleben darstellen. Deshalb möchte Marcus Bittner, Leiter des Personalamts in Wiesbaden, auf unsere Interviewanfrage auch niemanden ins Gespräch schicken. Das könnte Druck erzeugen oder oberflächlich wirken. Bemühungen – und auch Erfolge – der Stadt, ihre Ämter und Betriebe inklusiv aufzustellen, gibt es durchaus.
„Ein großer Arbeitgeber wie die Landeshauptstadt Wiesbaden kann es sich schlichtweg nicht erlauben, das Arbeitskräftepotential im Hinblick auf Personalmangel nicht in den Blick zu nehmen“, so Marcus Bittner. Erst Ende September hat er zusammen mit Oberbürgermeister Gert-Uwe Mende, Dieter H. Menger als Vertreter der Gesamtschwerbehindertenvertretung und Petra Schultes als Vorsitzende des Gesamtpersonalrates eine neue Inklusionsvereinbarung unterschrieben.
Die Quote übertreffen
Quasi als Nachfolgerin der Integrationsvereinbarung von 2005 soll diese verbindlich dafür sorgen, dass behinderten Menschen in Wiesbaden als vollwertigen Arbeitnehmer:innen begegnet wird und ihre Chancen im Berufsleben sich verbessern. Angestrebt ist laut Vereinbarung eine Beschäftigungsquote, die die gesetzliche Quote um mindestens drei Prozentpunkte übersteigt – so wie es mit 8 Prozent behinderter Beschäftigter bei der Stadt seit mehreren Jahren der Fall ist. Zu den konkreten Maßnahmen gehört neben der behindertengerechten Gestaltung von Büros auch die verpflichtende Teilnahme von Führungskräften an Inklusionsschulungen.
Auch Marcus Bittner weist darauf hin, dass eine Behinderung keineswegs starr ist. So gibt es Situationen, in denen bisherige Jobs nicht mehr erledigt werden können, weil der Gesundheitszustand sich ändert: „Dann finden sich in der Regel andere Möglichkeiten. Für Menschen, die nicht mehr adäquat eingesetzt werden können, haben wir sogenannte Sozialstellen eingerichtet, um diesen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern trotzdem noch einen sinnvollen Einsatz zu bieten.“ Aber auch die entgegengesetzte Entwicklung ist möglich. Marcus Bittner: „Schwerbehinderte Kolleg:innen verbleiben länger bei dem Arbeitgeber und entwickeln sich in nicht seltenen Fällen zu Leistungsträger:innen ihres Teams. Dies schließt ein erfolgreiches Bewerben auf Führungspositionen mit ein.“
Identifikation und Struktur in der Werkstatt
Gleichzeitig gibt es Menschen, die ihre Behinderung stärker einschränkt. Diese Personen finden etwa in Behindertenwerkstätten eine Beschäftigung, in Wiesbaden betrieben vom facettenwerk und von Evim. Nicht selten stehen die Einrichtungen in der Kritik. Sie hinderten die dort arbeitenden Menschen am Übergang in einen „richtigen“ Job, heißt es. Auch wird bemängelt, dass Mitarbeitende in Werkstätten nicht einmal den Mindestlohn verdienen.
Diese Kritik weist Dr. Simeon Ries, Geschäftsführer des facettenwerks, ab: „Unsere Aufgabe ist es, Menschen mit Behinderung, die dauerhaft erwerbsgemindert sind, zu helfen. Dazu gehört auch, ihnen die Möglichkeit für eine Tätigkeit zu geben, die zu ihren Fähigkeiten passt und auf die sie stolz sein können“, sagt er und betont: „Das schafft Identität und gibt Struktur. Wir hindern niemanden am Übergang in eine reguläre Erwerbstätigkeit.“ In den Werkstätten stehen die Beschäftigten in einem „arbeitnehmerähnlichen Verhältnis“, das geknüpft ist an ein System aus sozialen Leistungen – daraus ergibt sich die Zahlung unter der Mindestlohngrenze.
Erfahrung in freier Wirtschaft
Georg Fischbach und Mälek Bahrini arbeiten beim facettenwerk. Er in der Verpackung und Sortierung, sie als „Mädchen für alles“, wie sie selbst sagt. Beide schätzen das Umfeld und die Unterstützung, die sie hier bekommen. Er ist 54 und hat bereits Erfahrung in der freien Wirtschaft gesammelt – im Familienbetrieb des Schwagers. „Ich habe das gemacht, was ich konnte, aber als die Förderzuschüsse nach einem Jahr ausgelaufen sind, konnte mein Schwager sich das nicht mehr leisten.“ Die zehn Jahre bis zur Rente möchte er auf jeden Fall beim facettenwerk bleiben.
Die 24-jährige Mälek Bahrini hingegen hat nach dem Hauptschulabschluss auf einer Förderschule versucht, sich in einer Bäckerei zu bewerben – aufgrund ihrer Lernbehinderung habe sie es unter Druck gesetzt, dass direkt zu Beginn des Einstellungsprozesses einen schriftlichen Test absolvieren musste. „Ich habe gar nicht erst die Chance bekommen, meine möglichen Kolleg:innen kennen zu lernen und zu beweisen, dass ich ins Team passe“, sagt sie. Trotzdem hat sie „schon noch das Ziel, in einem Unternehmen zu arbeiten. Aber dafür müssten sich die Leute erst einmal ändern.“
Optionen für den Übergang
Die Träger der Werkstätten bieten verschiedene Möglichkeiten für den Übergang in einen regulären oder teilregulären Job an: Außenarbeitsplätze in eigenen Betrieben – Evim unterhält zum Beispiel eine Postfiliale, ein Café und eine Gärtnerei –, Praktika oder sogenannte BiBs: Berufsintegrierende Beschäftigungen. Als Job Coach hilft Anna-Lisa Neeb den Mitarbeiter:innen des Evim-Werkstättenverbunds bei der Vermittlung. 40 Prozent lassen sich dazu beraten, für mehr als 120 Personen haben Anna-Lisa Neeb und ihre Kolleg:innen im vergangenen Jahr eine Stelle in der freien Wirtschaft gefunden. Ihr und Werkstattleiter Bernhard Schmauch ist wichtig: „Wir gehen immer zuerst von der Person und ihren Bedürfnissen aus und nicht umgekehrt von einer zu besetzenden Stelle.“
Der erste Arbeitsmarkt öffne sich in Zeiten von Fachkräftemangel und wachsendem sozialen Bewusstsein zwar zunehmend. Er müsse aber nicht zwangsläufig für jeden Menschen mit Behinderung das oberste Ziel sein. „Ich bin froh, dass es die Reha-Werkstatt als geschützten Raum gibt“, sagt Edith Barkaszi. Die 42-Jährige arbeitetet aufgrund einer psychischen Erkrankung hier. Seit kurzem geht sie an zwei Tagen pro Woche ins Stadtarchiv und digitalisiert historische Dokumente. Angestellt ist sie weiterhin bei Evim und somit auch nicht sozialversicherungspflichtig. Vom Stadtarchiv erhält sie zusätzlich einen Lohn und vor allem: die Chance, ihre Fähigkeiten auszubauen und ihr Selbstbewusstsein zu stärken.
All diese Geschichten zeigen: Die Erfahrungen mit Inklusion sind so vielseitig wie die Menschen, die sie sich wünschen. Gut, dass sich in Wiesbaden – hoffentlich immer mehr – tut.
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Recruiting-Beratung
Am 31.01.2024 bietet die EAA eine Informationsveranstaltung zum Thema Recruiting an. Die Teilnehmerzahl ist begrenzt, Anmeldung an eaa@werkgemeinschaft-wiesbaden.de.