Direkt zum Inhalt wechseln
|

Kiez Couture – Maßgeschneiderte Mode entsteht in Wiesbaden auch dort, wo man es kaum vermuten würde

Titelstory_Mode_LenaMueller02

 

 

Von Sabine Eyert-Kobler und Dirk Fellinghauer. Fotos Kai Pelka und Melanie Maier.

Die Grande Dame der Wiesbadener Modewelt hat es sich anders überlegt. Lollo Grund  hat sensor zwar ein ausführliches Interview gegeben. Gemeinsam mit ihren Kolleginnen der  nächsten Generation, dem aufstrebenden Nachwuchs der Stadt, wollte die Inhaberin von Elise Topell (www.elise-topell-couture.de), dem traditionsreichen Couture-Haus auf der Wilhelmstraße, dann aber doch nicht in einer Geschichte erscheinen. Also lassen wir „nur“ die fünf Modeschöpferinnen von ihrer faszinierenden Arbeit erzählen, die Lust darauf haben  – und die nicht unbedingt eine Aushängeschildadresse wie die teure Rue brauchen, um ihre hochwertige Mode an die Frau zu bringen.

Schritt für Schritt nachhaltig

Für Lena Müller (www.atelierlenamueller.de) spielt das Thema Nachhaltigkeit eine große Rolle. Sie hat sich nach ihrer Ausbildung zur Herrenmaßschneiderin in Frankfurt und einem Studium der Bekleidungstechnik in Berlin 2010 auf die Herstellung von Wäsche und Dessous spezialisiert. Bei der Gründung ist sie Schritt für Schritt vorgegangen. „Am Anfang hatte ich mein Atelier in der eigenen Wohnung, dann in einem kleinen Raum im Hinterhof, ehe ich nun meine Bleibe in der Gneisenaustraße gefunden habe.“ Auch in ihrer Arbeitsweise geht sie sehr bedacht vor: „Durch mein Studium habe ich gelernt, wie man in der Industrie Bekleidung herstellt und versuche, beide Bereiche miteinander zu verbinden. Da, wo ich eine rationellere Arbeitsweise einsetzen kann, tue ich das – natürlich immer ohne einen Verlust an Qualität.“ Auf eine handwerkliche Verarbeitung der Kleidung legt sie immer noch sehr großen Wert, aber ihre Schnittkonstruktion erstellt sie am Computer und nicht mit Lineal und Stift auf Papier.

Kleidung fürs Leben

„Leider hat der Wert von Kleidung durch die industrielle Massenanfertigung extrem verloren. Meine Generation kennt es zum Beispiel gar nicht mehr, zum Schneider zu gehen“, bedauert die 31-Jährige. Auch das Erkennen eines qualitativ hochwertigen Stoffes falle vielen schwer. Das sei aber auch kein Wunder, wenn man in einer Gesellschaft sozialisiert werde, die T-Shirts für 3 Euro nicht merkwürdig finde. „Die Kleidungsstücke, die ich produziere, sollen ‚ein Leben lang halten‘ und Freude bereiten“, beschreibt sie ihr Credo. Dafür sei der Einsatz von hochwertigen Materialien unverzichtbar, die sie aus deutschen und europäischen Webereien beziehe: „Wenn möglich, setze ich Bio-Stoffe ein. Hier ist es aber noch immer schwer, eine geeignete Auswahl zu finden. Mich treibt der Gedanke an, ein Bewusstsein für Ressourcen sparende, nachhaltig produzierte und hochwertig verarbeitete Kleidung zu schaffen.“ Wiesbaden hat sie als Standort gewählt, weil „der prachtvoll verschlafene Altbau-Charme und seine zurückhaltenden Bewohner“ immer für eine positive Überraschung gut seien. Sie selbst ist vor Überraschungen als Unternehmerin recht gut gefeit: „Durch meine Teilzeitstelle am Staatstheater habe ich ein geringeres finanzielles Risiko, als wenn ich ausschließlich selbstständig arbeiten würde. Trotzdem ist es für mich wichtig, meine unternehmerische Tätigkeit zu beobachten und auszuwerten: Rechnet sich das, was ich tue?“

Businessmode jenseits des Einheitsgraus

Einem ganz anderen Modethema hat sich Judith Bauer verschrieben. „Mir geht es vor allem darum, dass Businessmode nicht nur ein klassischer grauer Hosenanzug sein muss, sondern individuell, selbstbewusst und trendorientiert sein kann“, beschreibt die ebenfalls 31-Jährige die Besonderheit ihrer Schneiderkunst. Sie hat sich mit ihrem eigenen Label „JK – aus Meisterhand“ (www.jk-ausmeisterhand.de) 2011 selbstständig gemacht und fertigt hauptsächlich alltagstaugliche, tragbare und perfekt sitzende Garderobe für Geschäftsfrauen. Ihre Ausbildung absolvierte sie bei „7th Heaven Brautmoden“, ehe es sie als Gesellin zum Hamburger Modelabel „Tulpen“ zog. Dort machte sie dann auch ihren Meister als eine der acht besten aus allen Gewerken. Sie blieb in der Hansestadt für eine dreijährige Anstellung beim Modelabel Marc Anthony, bevor sie sich in ihrer Heimatstadt niederließ. „Für mich bedeutet ‚Couture‘ hochwertige Verarbeitung, gute Stoffqualitäten und ‚Liebe zum Detail‘. Couture heißt nicht, dass die fertigen Kleidungsstücke unbezahlbar sein müssen, aber die viele Handarbeit muss natürlich ihren Preis wert sein“, beschreibt sie ihr Berufsverständnis. Dazu gehören auch mehrere wichtige Schritte auf dem Weg zum Maßanzug: Nach dem Ausmessen wird ein individueller Schnitt erstellt und aus einem Probestoff vorgenäht. Eine sogenannte „Nesselprobe“ ist notwendig, um die perfekte Passform zu garantieren. Erst im Anschluss daran wird aus dem ausgesuchten Stoff der Anzug genäht. Und erst nach mehreren Anproben nimmt eine Kundin ihr individuelles Stück mit nach Hause. In der Regel vergehen für den gesamten aufwändigen Weg zwei bis vier Wochen. Ihr unternehmerisches Risiko trägt Bauer mit viel Mut und Gelassenheit: „Es gibt gute Zeiten, und manchmal lebt man auch nur von der Hand in den Mund. Aber das ist der Beruf allemal wert!“

Im Zeichen des Flamingos

Lara Melanie Renner (www.lara-loca-couture.com), „die Junge aus dem Hinterhof“, kann sich in letzterem Punkt zurücklehnen: „Der finanzielle Teil ist im privaten Bereich abgesichert, so dass ich mich voll und ganz meiner Kreativität widmen kann.“ Die 33-Jährige, die bei ihrer Mentorin Lollo Grund im Salon Elise Topell gelernt hat, schloss 2007 ihre Ausbildung als jahrgangsbeste Damenschneidermeisterin der Region ab. Bis 2011 leitete sie das Atelier bei Elise Topell, ehe sie vor dem Schritt in die Selbstständigkeit für ein Jahr zu Pio Okan nach Düsseldorf ging. Für sie war es besonders wichtig, „eine Mode zu schaffen, die alle Altersgruppen anspricht und tragbar ist“. Eine Besonderheit bei Lara Loca: „Zu jedem Modell gibt es zudem den passenden Hut und Schmuck.“ Ein weiterer hoher Wiedererkennungswert ihres Stils ist die elegante Silhouette des Flamingos, welcher sich im Logo befindet, sich aber auch in jedem einzelnen Stück wiederspiegelt: „Alles wird in Handarbeit hergestellt: Perlen werden von Hand aufgestickt, die Einlagen handpikiert und selten geklebt.“ Auch sie findet bedauerlich, dass sich das Bewusstsein der Menschen zum Billigtrend hin entwickelt habe. „Die hochwertigen Stoffe aus Naturfasern, die ich verwende, werden ausschließlich in den europäischen Modestädten Mailand, Paris, Düsseldorf und London eingekauft. Die Herstellung der Kleider erfolgt natürlich ebenfalls in meinem Atelier“, erklärt sie eine Arbeitsweise, die entsprechend ihren Preis hat. Als Vorbilder nennt sie Karl Lagerfeld, Valentino, Coco Chanel und Oscar de la Renta. Wiesbaden habe sie nicht nur als Standort gewählt, weil es ihre Heimatstadt ist. Auch wenn rund um ihr Atelier und Geschäft in der Hermannstraße so gar nichts davon zu spüren ist: das Flair einer Kur- und Kongressstadt ist für sie ein Standortvorteil: „Wiesbaden hat eine sehr modebewusste Damenwelt, und ich bin hier sehr gut vernetzt. Die beste Vermarktungsidee ist aber immer noch die Empfehlung meiner Kundinnen!“

Emanzipiert feminin

Jede Frau ist individuell wie ihre Kleidung und keine gesichtslose Massenware“, beschreibt die in St. Petersburg geborene Anna Wojtkowiak (www.anna-w.de) ihren extravaganten Stil: „Emanzipation heißt nicht, in einem pseudomaskulinen Look als Neutrum auf die Straße zu gehen.“ Das Privileg der emanzipierten Frau sei es vielmehr, sich auch als feminine Frau zu zeigen und sich von der grauen Masse abzuheben. Ihren Stil beschreibt sie als „klar mit geometrischen Formen und Silhouetten, inspiriert von dem berühmten Architekten Le Corbusier, aber doch weiblich mit verspielten Elementen.“  Die heute 47-Jährige war bereits als Jugendliche fasziniert von Mode und hat neben ihrer Schulausbildung die Abendschule der Künste besucht. Nach erfolgreichem Abschluss studierte sie zunächst Management, dem sich ein Studium an der St. Petersburger Hochschule für Mode und Design anschloss. 1993 gründete sie in Narva/Estland mit „ENACS“ (Estonian New Avantgarde Couture Studio) ihr erstes eigenes Modestudio mit 15 Mitarbeiterinnen und vermarktete von dort aus ihre eigenen Entwürfe mit eigenen Boutiquen in Narva und – dies bis heute – in St. Petersburg. Nach einer Zwischenstation in Leipzig, wo sie seit 2004 unter ihrem jetzigen Label „AnnA W“ Modelle für ausgesuchte Kunden entwarf, verlegte sie 2007 ihren Wohnsitz in die „Modeachse Frankfurt – Wiesbaden“. „Die kulturelle Geschichte Wiesbadens und der russische Einfluss haben für mich eine hohe Bedeutung“, beschreibt sie ihr Faible für die Stadt, in der sie auch das herausragende Ereignis ihres bisherigen Werdegangs organisierte: „ Meine eigene Modenschau im Wiesbadener Kurhaus, die ich 2011 unter dem Motto ‚Wiesbadener Frühlingserwachen‘ vor über 300 geladenen Gästen präsentierte.“ Im erlesenen Publikum saßen neben dem russischen Sonderbotschafter auch der russische und ukrainische Generalkonsul.

Tragbar über eine Saison hinaus

Auch Wojtkowiak versteht ihre Mode als nachhaltig: „Zum einen habe ich Kollektionen aus und mit ehemaliger Militär- sowie Vintagekleidung entworfen. Aber auch eine Veränderung des bestehenden Outfits mit neuen Stilelementen und Accessoires ist nachhaltig.“ Zudem sei qualitativ hochwertige Kleidung per se nachhaltig, da diese den einzelnen Modesprüngen nicht unterworfen sei, sondern über Jahre hinweg getragen werden könne. Die vergleichsweise hohen Preise relativiert sie: „Couture ist in der Regel nicht hochpreisig, außer ich erwerbe Luxuslabels! Wenn ich aber für die Anfertigung eines Kleides 10 bis 15 Stunden – ohne Beratung – benötige, kann ich dieses nicht für 70 Euro verkaufen.“ Schließlich sei man ja beispielsweise auch bereit, für einen Friseurbesuch 75 Euro zu zahlen, und der dauere durchschnittlich etwa eine Stunde: „Eine Frisur ist von kurzer Dauer, ein individuelles, hochwertiges Kleidungsstück aber hält Jahre.“ Leider sei bei vielen Schneidern und Designer der Qualitäts- und individuelle Aspekt in den Hintergrund getreten, bedauert Wojtkowiak. Auch werde vieles nicht mehr selbst gefertigt, sondern in Baukästen zugekauft und nur noch angepasst. Das aber habe mit dem eigentlichen Beruf des Maßschneiders nichts mehr zu tun.

Mit Haltung in die Modebranche

Noch „in den Startlöchern“ für die Eröffnung ihres ersten eigenen Showrooms steht Galatea Ziss. Die 29-Jährige wird im September 2015 das „Atelier für Bekleidung“ am Kaiser-Friedrich-Ring 8, gegen über der Ringkirche, eröffnen. Nach ihrer klassischen Lehre zur Maßschneiderin bei der Obermeisterin der Frankfurter Maßschneider-Innung, Heike Rahusen-Marsch, folgte bereits in jungen Jahren eine dreijährige Gesellenzeit im Ausland: Dazu gehörten Praktika in Paris, unter anderem im Atelier Caraco-Canezou, welches auch für die Haute Couture-Häuser Dior, Givenchy und Gaultier arbeitet, sowie in London bei Vivienne Westwood. „Anschließend war ich als selbstständige Schneiderin im  Rhein-Main-Gebiet, unter anderem für Lili Maras in Frankfurt und in London für Studenten der Central Saint Martins School of Design und Vivienne Westwood tätig“, beschreibt sie ihren beachtlichen bisherigen Werdegang. Danach absolvierte sie ein zweijähriges Modedesign-Studium und einen Maßschneidermeisterkurs an der Deutschen Meisterschule. „Der bewusste Konsum, das kritische Hinterfragen und der Wille, Verantwortung zu übernehmen“ waren für sie die Auslöser, ein eigenes Unternehmen gründen zu wollen, da diese Haltung in der Modebranche sehr selten vorkomme. Außerdem möchte sie Bekleidung für Frauen und Männer kreieren, die zeitgemäß in ihrer Gestaltung, aber unabhängig von schnelllebigen Trends sowie in der Produktionsweise sind: „Lokal produziert, mit kurzen Transportwegen, transparenten Handelspartnern sowie einer fairen Bezahlung aller Beteiligten.Ich arbeite hauptsächlich mit Familienunternehmen zusammen und werde ausschließlich in meiner eigenen Werkstatt in Wiesbaden produzieren.“ Die Begeisterung für „Couture“ beziehe sich meist auf romantische und statussymbol-aufgeladene Assoziationen und nicht auf die traditionelle, hochwertige, handwerkliche und professionelle Fertigung, die einen hohen Preis erfordere und rechtfertige.

Der Charme und die Geborgenheit, die Architektur, das vielfältige kulturelle Angebot und die leichte Erreichbarkeit in der Metropolregion waren für die gebürtige Wuppertalerin Faktoren für die Standortwahl. Auf ihr Unternehmen will sie neben einer außergewöhnlichen Schaufenstergestaltung und ebensolchen Veranstaltungen, wie zum Beispiel Lesungen, Ausstellungen und Konzerten, sowie einem interessanten Internetauftritt auf sich aufmerksam machen. Zur Entwicklung im Schneiderhandwerk sagt sie: „Der Beruf der Schneiderin hat sich sehr verändert. Es gibt generelle Demokratisierungstendenzen in der Modebranche, also viele Quereinsteiger, den Trend zum Do-it-yourself (D-I-Y), aber auch neue Konzepte und Nischen, wie zum Beispiel Upcycling, 3D-Druck und Werkstattkollektive.“ Modeinteressierte dürfen gespannt sein, welche Ideen künftig in Wiesbaden Früchte tragen werden.