Von Sven Krowas. Fotos Katharina Dubno.
Nach zehn Jahren Leben in Wiesbaden die Seiten wechseln und nach Mainz ziehen – für viele abwegig, für mich nicht nur einen Gedanken wert, sondern sogar einen Versuch. Wenn auch erst mal nur vorübergehend.
Ich habe es getan. Andere Rheinseite. Andere Stadt. Anderes Bundesland. Ich war einen halben Sommer lang Wiesbadener in Mainz. Oder Mainzer aus Wiesbaden? Ich wollte herausfinden, ob ich mir vorstellen kann, von Wiesbaden nach Mainz umzuziehen. Probewohnen also statt Nägel mit Köpfen, ein Experiment. Ergebnis: Ich kann mir sehr gut vorstellen, die Rheinseite zu wechseln und in die Narrenstadt zu ziehen. In Wiesbaden zu bleiben, liegt mir nicht ferner.
WG-Zimmer schnell gefunden
Das WG-Zimmer, das für einen von vornherein festgelegten Zeitraum mein Zuhause werden sollte, war via Internet schnell gefunden. Kriterien: möbliert, relativ groß, am liebsten noch ein Altbau in der Neustadt. Vom Sommer wollte ich auf jeden Fall noch etwas haben, um an lauen Abenden am Rhein sitzen zu können. Meine Ansprüche wurden erfüllt, Dielenboden im Zimmer gab’s on top. Bevor ich meine zukünftigen Mitbewohnerinnen davon überzeugen konnte, dass ich der Richtige bin, gab es eine Führung durch die Räumlichkeiten. Dass unter dem „Ladies“-Schild über dem Badeingang ein „Herren“-Schild hing, fand ich nur fair. Und auch sonst waren die Hinweise auf eine reine Frauen-WG maßvoll. Schminkspiegel im Bad oder Blümchentischdecke in der Küche , okay. Und Männer, die Holunderblütensirup selbst einmachen, sind mir auch noch nicht viele begegnet. Nach der Besichtigung des bald vakanten Zimmers ging es in die Küche mit kleinem Balkon und Ausblick über die Industriegebäude von Schott. Am Horizont ein schmaler grüner Streifen Rheingau.
Mitbewohner-Assesment am Küchentisch
Rund um den kleinen Küchentisch folgte dann das Mitbewohner-Assessment. Bei einem Glas Wasser, natürlich veredelt mit Holunderblütensirup, konnte ich anscheinend alle Fragen, nach meinen Beweggründen, Tagesablauf, WG-Erfahrungen und Lieblingsbiersorte „richtig“ beantworten. Vom ersten Moment an sympathisch waren mir wiederum Lili, in deren Zimmer ich wohnen würde, sowie Lisa und Nora, meine zukünftigen Mitbewohnerinnen. Gleiches galt für Daniel – Noras Freund mit ausgeprägter WG-Präsenz – der wohl mit der von mir genannten Lieblingsbiersorte einverstanden war, denn nach zwei Tagen bekam ich den Anruf, dass ich gerne einziehen könne, wenn ich denn wolle.
Umzug mit einer Autofahrt erledigt
Ich wollte, und drei Wochen später ging ich dann zum ersten Mal in Mainz ins Bett. Der Umzug war mit einer Autofahrt erledigt. An Bord: Klamotten, Bettzeug, Laptop, E-Piano und Gitarre. Lilis Angebot, das Zimmer umzugestalten, nahm ich in Maßen wahr, versetzte den großen Spiegel und verlieh dem Mädelszimmer mit Bandposter, Filmplakat und ein paar Bildern, meine persönliche Note. Auf meine erste Mainzer Nacht, in der ich ziemlich schlecht geschlafen hatte – der Rauchmelder im Treppenhaus meldete alle 30 Sekunden durch Piepen nicht Rauch, sondern seine schwache Batterie – folgte die Nachricht, dass die Theodor-Heuss-Brücke die nächsten acht Wochen renoviert werden würde. Ausgerechnet jetzt, wo ich doch auch feststellen wollte, wie gut ich von Mainz aus zur Arbeit komme: Zwei statt vier Fahrspuren und vierzig statt zwanzig Minuten mit dem Auto zu meinem Arbeitsplatz in einem Wiesbadener Vorort. Die Umstände ließen mich immer häufiger aufs Rad umsteigen.
Feiern geht hüben wir drüben – theoretisch
Fahrrad bin ich in Mainz und aus Mainz heraus gern gefahren; am Rhein, dessen Gelassenheit auf mich schon früh morgens ansteckend und erholsam wirkte und in den Straßen der Neustadt, entspannt irgendwie und schön flach, abgesehen von den Bremsschwellen. Die kommen vor allem beim nächtlichen Heimradeln nach dem Feiern gern überraschend. Und Gelegenheiten zum Feiern hat man in Mainz unter der Woche wie am Wochenende einige, ob in Kneipen wie Hafeneck, Schick & Schön, Onkel Willy’s Pub, den Bistros am mittlerweile ganz schön hippen Gartenfeldplatz, an der Planke Nord, im Pengland oder in den Clubs und Discotheken wie KUZ, Red Cat und SchonSchön. Studenten sei Dank, wird die kritische Masse zum geselligen Beisammensein und Durchtanzen einer Nacht einfach leichter überschritten als in Wiesbaden. Und wo der Mainzer offensichtlich die Qual der Wahl hat , weiß der Wiesbadener manchmal gar nicht, dass er sie ebenfalls hätte und verpasst z.B. die Swing Party im Walhalla, denkt beim Kulturpalast noch an Säulen und goldene Wandbemalung und nicht an Indie-Konzerte, Semesterparties und Tischkicker.
Wein macht Freu(n)de – und der Rhein ist besonders fein
Aber zurück nach Mainz, wo nach fünf Tagen immer noch ein Rauchmelder im Treppenhaus piepste. Schlafen klappte trotzdem, genau wie ich trotz Semesterferien meine eingeschriebenen Mitbewohnerinnen beim Frühstück, Abendessen, Grillen oder Ausgehen besser kennenlernte. Stallgeruch hatte ich nach einer Waschladung mit dem gemeinsamen WG-Waschmittel auch angenommen, optisch war ich schon vorher nicht als Wiesbadener zu outen. Entsprechend ungezwungen bewegte ich mich durch Alt- und Neustadt, zum Beispiel auf ein Glas Wein zum Wochenmarkt. Die Theorie, dass zwischen dem Gläschen Wein und der sprichwörtlichen Mainzer Freundlichkeit ein Zusammenhang besteht, stammt zwar nicht von mir, erscheint mir aber plausibel. Da könnte sich Wiesbaden etwas abgucken („das“ Weinfest als alljährlicher Ausnahmezustand jetzt mal außen vor gelassen). Mehr Alltagsweinstände wären aus städteplanerischer Sicht sicher leichter zu realisieren als die Wiesbadener Innenstadt näher an den Rhein heranzurücken oder umgekehrt. Andererseits, Wiesbaden übt ja schon mal und holt seine unterirdisch Bäche „ans Licht“. Die Nähe zum Rhein war jedenfalls eine Qualität meines Zwischenwohnortes, die ich sehr genossen habe. Eine Runde Joggen, wahlweise über zwei oder drei Brücken, am Ufer sitzen und quatschen oder nur sitzen ohne quatschen, schauen, was sich am Rhein und seinen Ufern so abspielt – eine feine Sache, vor allem dann, wenn man um die Ecke wohnt.
Von Wiesbaden nach Mainz und zurück – ein Katzensprung
Wie nah Wiesbaden und Mainz eigentlich um die Ecke voneinander liegen, ist ja klar, mir aber während meiner Zeit in Mainz erst wieder richtig bewusst geworden. Ein Katzensprung, den ich als „Mainzer“ zum erwähnten Weinfest oder zum Café-Klatsch-Jubiläum gemacht habe, und meine Wiesbadener Freunde wollte ich ja auch nicht ganz vernachlässigen. Letztendlich gibt es gute Gründe für einen Katzensprung sowohl auf die eine als auch die andere Rheinseite. Mit für mich neuen Gründen für eben solche Sprünge nach Mainz bin ich dann nach einem halben Sommer in meine Dachgeschosswohnung zurückgekehrt. Im Gepäck neben meinen Sachen und einem Nachtschränkchen vom Mainzer Sperrmüll auch die nicht neue, aber neu aufgefrischte Erkenntnis, dass gute Freunde das Salz in der Suppe sind, egal ob man sich diese im Altstadt-Café in Mainz oder im Weissenburger Hof in Wiesbaden schmecken lässt.
Mainz hat es mir leicht gemacht. Ich habe mich willkommen gefühlt durch meine Mitbewohner, durch den vielleicht nettesten Kebaphausbetreiber, der im Erdgeschoss unseres Hauses sein Pide an den Mann und die Frau bringt und durch eine gewisse, mir sehr charmante Urigkeit, die die Mainzer Straßen zu durchwabern scheint. Wie genau Wiesbaden mich bei meinem Zuzug vor gut zehn Jahren aufgenommen hat, kann ich nicht mehr sagen. Ganz so homogen unkompliziert und einladend wie in Mainz wabert es in der hessischen Landeshauptstadt vielleicht nicht. Aus Erfahrung kann ich aber sagen, dass ihr Charme kein oberflächlicher ist, der sich in den schönen Altbaufassaden erschöpft. Hinter einer dieser Fassaden im Westend von Wiesbaden bleib ich für den Moment erst mal wohnen.