Von Jan-Markus Dieckmann. Fotos Kai Pelka.
Das Alte Gericht wird am Samstag zum Schauplatz eines ungewöhnlichen Ausstellungskonzepts: Nach exakt 360 Minuten gehen die Kunstwerke in Rauch auf.
Zeit. Ein kostbares Gut. Heute kostbarer denn je. Ständiger Termindruck und die Möglichkeit, alles und jeden überall zu jedem Zeitpunkt zur Verfügung zu haben, hat unsere Wahrnehmung entscheidend geprägt. Umso kostbarer sind einzigartige, unwiederbringliche Momente, die weder wiederholt noch reproduziert werden können – doch es fällt uns immer schwerer, uns auf solche Situationen einzulassen. Genau das ist der Gedanke, der Babak Nafarieh und Sven Sauer zu ihrem außergewöhnlichen Ausstellungskonzept inspirierte.
Zusammen mit fünf weiteren Künstlern zeigen die beiden Wiesbadener am 17. Mai ab 16 Uhr ihre Werke – für genau 360 Minuten. Keine Sekunde kürzer oder länger, der Countdown wird von einer Uhr herunter gezählt. Danach wandert alles, was keinen neuen Besitzer gefunden hat, ins Feuer. Fotografieren und Filmen ist strengstens untersagt, alles existiert nur für diesen einen Punkt in Zeit und Raum. Auch der Ort spielt eine wichtige Rolle: abseits des Galeriebetriebs findet die Aktion im Zellentrakt des alten Gerichts statt.
Unbehagen über Kunstmarkt
Sven Sauer brennt für das Konzept: „Auf die Idee kamen wir ursprünglich durch eine Partyreihe namens `120 minutes´. Die Party geht zwei Stunden, dann stoppt die Musik mitten im Lied, und alles ist vorbei. Alle haben vom ersten Moment an Vollgas gegeben, das Ganze war unglaublich intensiv.“ Aus dieser Erfahrung wuchs die Idee, auch die Konfrontation mit Kunst durch eine extreme zeitliche Beschränkung emotional aufzuladen. Eines stört Babak Nafarieh am Kunstmarkt schon seit langem. „Wenn Menschen von einer Ausstellung hören, sagen sie sich oft: warum sollte ich jetzt dahin gehen, das läuft ja noch zwei Wochen. Dadurch kamen wir auf unsere Idee. Wir glaubten, alle halten uns für verrückt – tatsächlich haben wir das oft gehört. Aber in kürzester Zeit hatten wir Zusagen von sehr vielen Künstlern, denen es anscheinend genauso geht wie uns.“
Die Entscheidung soll dem Moment überlassen werden. Dadurch können sich die Künstler völlig von ihren Werken lösen – entweder werden sie verkauft oder verbrannt. Viele tun sich schwer damit, ihre „Kinder“ loszulassen. Da aber ihr Ende – so oder so – bereits fest steht, eröffnet das eine völlig andere Herangehensweise. Allein der Ausstellungsbesucher trägt die Entscheidung – eine Verantwortung, die das emotionale Erleben der Kunst stark steigert. „Wir wollen den Besucher mit einbeziehen – und die fassungslosen Gesichter sehen,“ meint Sauer: „Uns geht es nicht um das Verbrennen, es soll nur nichts zurückbleiben.“
Es gibt ein klares Regelwerk: alle Werke müssen nur für dieses Projekt geschaffen werden, es ist in keinem Fall eine Resterampe, und auch die Preise werden nur wegen der drohenden Vernichtung nicht geringer sein als üblich, gefeilscht wird ebenfalls nicht. Sobald die Uhr auf Null steht, verbrennt jeder Künstler eingenhändig seine Bilder.
Auch „Katastrophentouristen“ willkommen
Natürlich rechnen die beiden mit vielen „Katastrophentouristen“, doch sie sind von ihrem Konzept überzeugt. „Die Entscheidung, ob ich ein Bild kaufe oder nicht, wird sehr viel emotionaler. Ich kann nicht einfach zwei Wochen darüber schlafen“, sagt Nafarieh: „Wahrscheinlich führt dieser Druck auch dazu, dass man mit einem gekauften Bild glücklicher sein wird, weil der Entschluss aus dem Bauch heraus kommt.“ Schon immer hat er gerne gegen Regeln verstoßen. In seiner alten Heimat Iran installierte er eine Flagge der islamischen Republik auf einer Schultoilette – Konzeptkunst, die dort natürlich heftige Reaktionen hervorrief. Lange Zeit hatte er Angst, seine Bilder herzugeben. Der neuerliche Regelverstoß, das Vernichten seiner Werke, ist auch eine Art Befreiungsschlag.
„360minutesart“ feiert in Wiesbaden seine Premiere, es folgen – mit anderen Künstler – Dresden, München und Warschau – keinesfalls Berlin. Vor Anfragen können sich Nafarieh und Sauer kaum retten. Anscheinend haben sie einen Nerv bei vielen ihrer Kollegen getroffen. Kunst allein im hier und jetzt, unwiederbringlich und vergänglich – eine Provokation, aber auch eine Chance für unsere Wahrnehmungsfähigkeit.