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Reise ans Ende der Stadt – Als Flaneur auf der Mainzer Straße

 

Von Alexander Pfeiffer. Fotos Kai Pelka.

Fast könnte man das, was da unter dem gleißenden Licht der Morgensonne steht, genau dort, wo die Mainzer Straße von der Frankfurter Straße abzweigt, für eine Strandbude halten: Die Liegstühle vor dem „Pavillon“ ziert der Name einer spanischen Brauerei, und auch die mit bunter Kreide beschriebenen Menütafeln an dem kleinen Straßencafé muten nach Urlaub an. Doch was sich vor dem putzigen Lattenzaun erstreckt, der dieses urbane Biotop umgibt, ist nicht etwa glitzernder Sand, sondern harter Asphalt – knapp drei Kilometer weit bis zum südlichen Ende der Mainzer Straße an der Kreuzung mit der Kasteler Straße.

Also schnell noch einen Cappuccino auf den Weg, und dann kann es losgehen zu einer ziemlich abwegigen Unternehmung: einmal Flaneur spielen, wo sonst praktisch niemand zu Fuß unterwegs ist. Auf der wahrscheinlich am besten ausgebauten Ein- und Ausfallstraße Wiesbadens, die früher direkt nach Mainz-Kastel führte und heute die Stadt mit den Anschlussstellen zur A66 sowie zur A671 verbindet. Eine „Reise ans Ende der Stadt“, frei nach Louis-Ferdinand Céline. Ohne fahrbaren Untersatz, dafür mit offenen Augen.

Bis zur Kreuzung mit dem Gustav-Stresemann-Ring präsentiert sich der Straßenzug vornehmlich in grün, wird zu beiden Seiten von blühenden Bäumen und parkenden Autos gesäumt. In den restaurierten Villenbauten residieren Baufirmen, Versicherungen, Rechtsanwälte, Zahnärzte und Unternehmensberatungen. Dazwischen mehrstöckige Wohnhäuser mit kleinen Vorgärten. Der Verkehr tröpfelt einspurig durch die schmale Einbahnstraße in Richtung Innenstadt, die Vögel in den Bäumen machen hier mehr Krach als die Autos. Unter der Hausnummer 17 findet sich die Hessische Tierseuchenkasse und der Hessenlöwe auf dem Firmenschild streckt tatsächlich die Zunge so weit aus dem Maul, als sei er von etwas befallen. Das bleibt für längere Zeit der einzige Misston.

Straße auf dem Zenit ihrer Geschäftigkeit

Erst dort, wo die Lessingstraße kreuzt, geht es mit der Mainzer Straße bergab. Und das buchstäblich: Sie versinkt in einer Unterführung, aus der sie nicht eher als jenseits des Gustav-Stresemann-Rings wieder auftaucht. Jedenfalls für die Autofahrer. Für den Flaneur geht es auf Straßenniveau weiter, begleitet vom Grundrauschen eines jetzt vierspurigen Verkehrsaufkommens, das einen neuen Straßenabschnitt einläutet: der Horizont weit, jetzt nicht mehr gesäumt von Baumwipfeln, sondern von kastenförmigen Hochhausbauten. Hier erreicht die Mainzer Straße den Zenit ihrer Geschäftigkeit, die Sonne steht jetzt in vertikaler Linie da oben am Himmel und alle sind auf den Beinen, alle haben etwas zu tun. Über acht Fahrspuren und drei Fußgängerampeln muss hinweg, wer auf die andere Seite dieser akustischen Demarkationslinie gelangen will. Gesäumt wird die Kreuzung in allen vier Himmelsrichtungen von Bürogebäuden, die bis zu zwölf Stockwerke aufweisen. So in etwa muss es sich im Inneren eines Bienenstocks anfühlen. Das Gesumm dort kann jedenfalls kaum hypnotischer sein als das vielfache Motorendröhnen, das zwischen den unzähligen Bürofenstern widerhallt. Zumindest hinter den Fenstern des Verwaltungsgebäudes an der oberen Ecke zum Gustav-Stresemann-Ring muss dass derzeit niemand mehr aushalten. Das ehemals dem Delta Lloyd Konzern gehörende Haus wird abgerissen, stattdessen soll hier das Büroquartier VERSO mit insgesamt drei Gebäuden entstehen. So hat es der Magistrat der Stadt unlängst beschlossen. „Das Areal, das in der Vergangenheit nicht unbedingt zu den Schmückstücken Wiesbadens gehörte, wird so deutlich aufgewertet“, verkündete die Stadtentwicklungsdezernentin Sigrid Möricke.

Entlastungsstandort für das, was sonst in die Stadt drängen würde

Der Leiter des Stadtplanungsamtes Thomas Metz schlägt auf Nachfrage in dieselbe Kerbe: Er spricht von einem „untergenutzten Areal. Auch aus dem Betriebshof der ESWE gegenüber ließe sich deutlich mehr machen, als dort einfach nur Busse abzustellen.“ Sein Büro befindet sich nur ein Stückchen weiter den Gustav-Stresemann-Ring hinauf und damit noch innerhalb des 150 Hektar großen Bereichs der städtebaulichen Rahmenplanung, mit der seit 2007 geregelt ist, wie man sich die mittel- bis langfristige Umgestaltung beiderseits der Mainzer Straße vorstellt. Ziele sind dabei die räumliche und strukturelle Anbindung an die Innenstadt sowie eine architektonische Aufwertung der Mainzer Straße als südliches Entree zur Innenstadt. „Wir haben es mit einem Entlastungsstandort zu tun“, erklärt Metz. „Es lassen sich hier Dinge unterbringen, die ansonsten in die Innenstadt drängen würden. Es gibt in Deutschland Stadtzentren, die durch den Druck von Bürobauten komplett umgekrempelt wurden. Das wollen wir in Wiesbaden vermeiden und die bauliche Substanz der Innenstadt so erhalten, wie sie ist.“

Als einer der bereits fertig gestellten Bürobauten ragt an der Ecke zur Gartenfeldstraße der „Terrum Tower“ dreizehn Stockwerke hoch in den Himmel, die Heimat des Statistischen Bundesamtes. Weitere Büroflächen sind noch zu vermieten, wie ein großes Schild vor dem Gebäude seit seiner Fertigstellung unverändert verkündet. Die Maklerfirma ist dieselbe, welche auch für den gerade entstehenden Bürokomplex am Kulturpark zuständig ist. Auch hier dürfte wohl ein entsprechendes Schild zu sehen sein, sobald die Bauarbeiten abgeschlossen sind. Noch steht aber an seiner Stelle ein Bauzaun, auf dem in großen Lettern eine Auswahl an Adjektiven wohl einen Vorgeschmack auf das liefern soll, was man sich zukünftig hier wünscht: „attraktiv“, „erfolgreich“, „produktiv“, „dynamisch“, „motiviert“ und ähnliches mehr. Auf den dazugehörigen Bildern sitzen junge Frauen in Business-Anzügen vor Computermonitoren, tragen Aktentaschen und telefonieren mit Handys. Ob die Leistung des „Creative Directors“, dessen Hirn all das entsprungen ist, von den vorbeirauschenden Autofahrern wohl angemessen gewürdigt wird? Der Flaneur jedenfalls kann nicht umhin, den aufreizenden Kontrast zu den aufgesprühten Graffitis zu bemerken. Und was steht da auf dem Sticker, den jemand mitten auf den Computermonitor der so geschäftig telefonierenden Business-Dame gepappt hat? „Revolte“? Und das gar nicht mal weit von den großen Adjektiven „urban“ und „kreativ“…

Einheitliches Bild als Ziel

Direkt an den Rohbau des neuen Bürokomplexes schließt sich das in der Entstehung befindliche Hotel der Kette B&B an. Anfang Juni wurde hier Richtfest gefeiert, für den Magistrat der Stadt Wiesbaden war Stadtrat Dieter Schlempp dabei. „Die Mainzer Straße ist ein Tor zur Landeshauptstadt, auf das die Landeshauptstadt lange Zeit nicht unbedingt stolz sein konnte“, rief er den Gästen zu. „Das hat sich in den letzten Jahren geändert.“ Das Parkdeck hinter dem Gebäude, auf dem die Feierlichkeiten stattfanden, wurde von den Wiesbadener Architekten Grabowski und Spork geplant, ebenso wie einige andere Neubauten auf dem Areal oberhalb des Kulturparks. „Langfristig soll dieser Wechsel zwischen ‚altem Kleinkram’ und neuen mehrstöckigen Gebäuden entlang der Straße zugunsten eines einheitlichen Bildes verschwinden“, weiß Jan-Eric Spork zu berichten. „Geplant ist, dass die Mainzer Straße ein adäquater Eingang nach Wiesbaden mit städtischem Charakter wird.“

Wo früher getanzt wurde, werden heute Sanierungen geplant

Das im Ohr, gerät einem unwillkürlich auf der Straßenseite gegenüber unter der Hausnummer 116 ein verwitterter Backsteinbau mit allerlei Schnörkeln an der Fassade in den Blick, der so gar nicht ins Straßenbild passen will: die ehemalige Friedrichshalle. Erbaut im Jahre 1890 ist sie eines der wenigen historischen Gebäude an der Mainzer Straße. Früher wurde sie als Tanzsaal und Restaurant genutzt, heute befindet sich darin – quasi als Faust aufs Auge – eine Sanierungsgesellschaft. In der unmittelbaren Nachbarschaft dürfte sie kaum Aufträge bekommen. Hier wird nicht saniert, hier wird abgerissen und neugebaut. Die Friedrichshalle aber soll bleiben. „Das ist ein Stück Erinnerung“, sagt Thomas Metz. „Auch wenn das Gebäude einen kleinen Bruch in der geplanten Bebauung darstellt, wird es als markanter Teil der historischen Stadtstruktur erhalten bleiben.“

Die Fassade des neu gebauten Justizzentrums unter Hausnummer 124 erinnert hingegen an manches, was seit der Wiedervereinigung in Berlin hochgezogen wurde: eine Stein gewordene Fritz Lang-Vision unserer urbanen Zukunft. Oder steckt gar eine Absicht dahinter, gerade der Heimstätte der Justiz ein möglichst bedrohliches Antlitz zu geben? Ganz anderes ist jedenfalls mit der Bepflanzung vor dem Gebäude beabsichtigt: Die dürren Bäumchen sollen sich in den nächsten Jahren zum Teil von etwas auswachsen, wofür Wiesbaden berühmt ist, nämlicher einer Allee. „Die Stadt macht für alle, die in der Mainzer Straße bauen wollen, eine straßenbegleitende Begrünung, dort wo es möglich, zur Auflage“, erklärt Thomas Metz. Auf dass man in Zukunft nicht mehr zwischen architektonischem Wirrwarr sondern durch eine grüne Promenade seinen Weg aus südlicher Richtung in die Wiesbadener Innenstadt findet.

Am Ende nahezu unbewohntes Terrain

Das Justiz- und Verwaltungszentrum im Rücken, entrollt sich vor dem zunehmend solitären Flaneur die Nachtseite der Mainzer Straße, ihr nahezu unbewohntes südliches Ende, welches erst mit Anbruch der Dunkelheit so richtig zum Leben erwacht. Rechterhand die Aral-Tankstelle, die rund um die Uhr alle, die dem Ausgang der Stadt via Autobahn zustreben, mit Benzin und anderen Treibstoffen versorgt. Auf dem Grünstreifen zwischen den Fahrbahnen, der bislang noch so gar nichts Alleenhaftes zeigt, die beiden Radarsäulen, mit deren rot blitzenden Ringen wohl fast jeder Autofahrer in der Stadt schon seine unangenehmen Erfahrungen gemacht hat. Zu verlockend die nahende Autobahn, zu frei gerade in der Nacht die Bahn bis dorthin.

Aber was steht da plötzlich ganz einsam und verloren vor dem Fenster- und Türen-Geschäft, das das Gestaltungskonzept des Stadtplanungsamtes zum „Konglomerat minderwertiger Architektur“ im Südteil der Straße zählt? Ein verwitterter gelber Briefkasten? Den muss die Deutsche Post AG wohl hier vergessen haben, irgendwann zwischen Privatisierung und Börsengang. Die Anzeige für die „Nächste Leerung“ jedenfalls ist blank. Der Flaneur stellt sich vor, dass da drinnen noch eins bis zwei Briefe auf ihre Abholung warten, deren Adressaten in schätzungsweise zwanzig Jahren – wenn sich jemand erbarmt haben wird, diesen Briefkasten abzumontieren, zu leeren und seinen Inhalt ordnungsgemäß zuzustellen – Post aus der Vergangenheit erhalten.

Rund um die Uhr Doppel Whopper – oder doch besser Mc Donald´s?

Auf dem weiteren Weg findet sich noch mehr „minderwertige Architektur“: Spielhalle, Bordell, Autowerkstatt, Möbelhaus und Wohnheim für Sozialhilfeempfänger. „Das entspricht in keinster Weise einem attraktiven, repräsentativen Stadteingang“, findet Thomas Metz. Wen es aus der Stadt heraus treibt, sei es ins Bordell oder das dreistöckige Fitness-Center kurz vor der Eisenbahnbrücke, der kann sich jedenfalls vorher noch beim „Burger King“ stärken. Sogar draußen sitzen kann man, um dort seinen „Double Whopper“ zu verdrücken, eingerahmt von Eisengittern und der Außenwand der benachbarten Spielhalle, von deren Dach ein Schild höhnisch verkündet: „Rund um die Uhr besser essen! Mc Donald’s – Mainzer Straße 99“.

Per Anhalter auf den Mars

Der Flaneur lässt den „Double Whopper“ aus, auch die Neon-Verlockungen von Bordell und Muckibude. Für ihn geht es weiter, unter der Eisenbahnbrücke hindurch, vorbei an Plakatwänden, mannshohem Unkraut und dreispurig vorbeizischenden Autos, deren Insassen ihn entgeistert anstarren. Doch hoffentlich kein Selbstmörder, der plötzlich auf die Fahrbahn springt? Oder ein Tramper? Hinter einer der Plakatwände klemmt ein Schild von jemandem, der hier tatsächlich sein Glück beim Autostopp versucht haben muss. „Strasbourg“, „Wien“, „Mars“, „Venus“ und „Wiesbaden“ stehen als variable Reiseziele auf dem mehrfach klappbaren Pappdeckel. Der Gute muss ebenso flexibel wie humorvoll gewesen sein. Oder schlichtweg betrunken. Gefahrlos anhalten kann hier jedenfalls niemand.

Muskelpaket vor der „Roten Meile“

Dort, wo die Autos schließlich so richtig Geschwindigkeit aufnehmen und der Autobahn entgegen fliegen, geht es bergab. Links liegt die Deponie der städtischen Entsorgungsbetriebe, rechts erstreckt sich noch immer die Mainzer Straße. An der Hauswand eines dreistöckigen Gebäudes räkeln sich überdimensionale Frauen in Negligés und Strapsen: „Die Rote Meile“. Der Himmel ist mittlerweile dunkel, die Szenerie nur noch von Neon erleuchtet. Man könnte jetzt gut noch mal auf einen Cappuccino einkehren. Oder auch auf etwas Stärkeres. Doch der Kahlgeschorene mit den Muskelpaketen und dem Mike Tyson-Tattoo im Gesicht, der aus der „Roten Meile“ getreten kommt, um zu schauen, was der Flaneur da auf seinem Block zu notieren hat, sieht insgesamt wenig vertrauenerweckend aus. Also lieber weiter. Zu der kleinen Brücke, die über die Salzbach führt. Der Fluss, der größtenteils einem Kanalsystem unterhalb Wiesbadens folgt und der Entwässerung der Innenstadt dient, drängt hier unter freiem Himmel dem Rhein entgegen. Weiter oben am dunklen Horizont fährt die Eisenbahn vorbei, zum Gleisdreieck Wiesbaden Ost. Irgendwo da vorne ist wieder Zivilisation: Biebrich. Der Flaneur ist angekommen. Am Ende der Stadt. Am Ende der Worte.