Angesichts im Raum stehender Haushaltskürzungen herrscht große Unruhe und Sorge in der freien Kulturszene in Wiesbaden. Am heutigen Freitag, dem 13. Oktober, werden Wiesbadens freie Kulturhäuser in „Alarmrot“ erstrahlen, werktäglich um 17 Uhr gibt es Sit-ins am Rathaus, eine Petition gegen die Kürzungen haben bisher rund 1700 Menschen unterschrieben. Nun meldet sich Gerhard Schulz, Vereinsvorsitzender des als Kollektiv betriebenen Kulturzentrums Schlachthof, zu Wort. (Hinweis – in der ursprünglichen Version des Beitrags wurde Gerhard Schulz entsprechend auch der Angaben hier auf der IHK Wiesbaden-Seite als Geschäftsführer bezeichnet. Dies hat er im Beitragskommentar richtiggestellt.) Der 61-Jährige sitzt auch im Kulturbeirat als Vertreter der gesetzten Institution IHK Wiesbaden, in der er auch Mitglied der Vollversammlung und der Ausschüsse Kreative Wirtschaft und Kulturelle Wirtschaft ist. In seinem Gastkommentar zum Thema „Kürzungen im Kulturhaushalt 2024/25“ analysiert – und will mit drastischen Thesen und Forderungen „die Debatte erweitern“:
Zwischen Landtagswahl und kommunaler Klemme, zwischen Kürzung und Verpflichtung, zwischen schlimm und viel schlimmer. In der Wiesbadener Kultur -wie in anderen Haushalts-Bereichen – stehen drastische Kürzungen an.
Als engagierter Mensch in Sachen Kultur, möchte ich mich hier auf die schwierige Situation der Kultur beschränken und die Debatte erweitern.
Die zurzeit gehandelte Größenordnung einer pauschalen „20% Kürzung“ trifft in der Kultur nicht zu, denn die Kürzung „kann“ nicht überall gleichermaßen erfolgen. Bedeutet: Wenn rechtliche oder vertragliche Regelungen Kürzungen in einigen Kulturinstitutionen un-möglich machen, muss an anderer Stelle – den sog. „freiwilligen Leistungen“ in der Kultur mehr gespart werden, um die Ziel-Summe zu erreichen.
Das auch in der „freien Kultur“ bereits Verträge für die kommende Spielzeit abgeschlossen wurden, wird dabei genauso übergangen, wie die Lohn-Verpflichtungen gegenüber den hier Angestellten. Diese „Schieflage“ in der Kürzung entspricht außerdem und erschwerend der „Schieflage“ in der Förderung von Kultur.
In der Bundesrepublik, in Hessen und in Wiesbaden wird die freie und gemeinnützige Kulturszene absurd niedriger gefördert als öffentlich-rechtliche Träger.
„Hochkultur“ und „Holzklasse“ in der Förderung
Diese Einteilung in Förderklassen „Hochkultur“ und „Holzklasse“ ist mehr als 60 Jahre alt, stammt aus dem letzten Jahrtausend und ist mit der Aufstellung, Qualität und Nutzung von Kultur-Orten im 21. Jahrhundert schon lange nicht mehr kompatibel.
Das kulturelle Leben in Wiesbaden wird nicht maßgeblich durch ein krisengeschütteltes – intern zerrüttetes – Staatstheater hergestellt. Vielmehr entsteht das Milieu, wo das Leben lebt, und welches Fachkräfte, Studierende und Besuche anzieht durch die kreative Vielfältigkeit der freien Kultur. Dieses Milieu nennt man Charakter, Identität, Nachtleben oder auch Standortfaktor.
Zusammengefasst: Die Kulturinstitutionen, die immer den geringsten Teil der Subventionen erhalten, sollen nun am drastischsten gekürzt werden. Es wird bei jenen gespart, die den Gürtel bereits im vorletzten Loch tragen.
Dass Kürzungen in der politischen Entscheidungsfindung schlimm sind, verstehe ich. Aber alle Politiker*innen wollten gewählt werden, um sich in diesen schwierigen Situationen durch moderne Kompetenz zu beweisen.
Der Fluch der „Pfad-Abhängigkeit“
Deshalb ist viel schlimmer als die Kürzung:
Dass Politiker*innen, die keine Gelegenheit auslassen Modernität, Erneuerung, Flexibilität, Fortschritt, Agilität, Entwicklung oder Disruption und Transformation zu predigen und ihnen dann nichts anderes einfällt, als genau das zu tun, was schon immer getan wurde: In schwierigen Lagen wird zunächst die Kultur gekürzt! Und die Kürzung erfolgt nach oben genanntem Schema.
Eine Kandidatin zur Landtagswahl erklärte diesen Vorgang mit dem Begriff der „Pfad-Abhängigkeit“; salopp formuliert und anders bekannt als „Das haben wir schon immer so gemacht.“
Die Slogans auf den Wahl-Plakaten der Ministerin für Kultur und deren Förderung Angela Dorn (HMWK) irritieren mich in dem hier geschilderten Kontext überaus. Denn den „Mut zu machen“ hatte sie nicht. Das große Thema Subvention wurde symptomatisch angegangen, statt es an der Wurzel anzupacken.
Auch der zweite Slogan „Damit alle alles erreichen können“ ist für die freie Kultur unzutreffend: Eine Förderung auf Augenhöhe ist in ihrer Amtszeit unerreichbar geblieben.
Doch zurück zu unserem kommunalen Zusammenhang.
Ich erwarte zu Hause – gerade – von einer linken Kooperation etwas anderes! Die Zeiten der kommunalen Finanz-Klemme sind – so heißt es – nicht in ein-zwei Jahren vorbei. Bedeutet: Der Kultur wird es wohl länger schlecht gehen. Gemeinnützige Kultur-Betriebe die bereits seit Jahren „auf Kante genäht“ sind, werden es nicht schaffen.
Und: Sind sie erst einmal geschlossen, werden sie nicht wieder öffnen. Denn die prekären Arbeitsverhältnisse, die nur mit „Leiden“schaft zu tragen waren, und die drohende Altersarmut sind weder Vorbild noch Anreiz für eine Nachfolge oder Übernahme aus der „jungen Generation“. Diese Sorte Kultur wird zur aussterbenden „Art“ und das Klima in der Stadt wird sich unwiederbringlich ändern.
Auch dem Projekt Walhalla wächst in diesen Zusammenhängen in eine besondere Rolle. Wenn sich – nach vielleicht 4 „Dürre-Jahren“ – die wirtschaftliche Lage der Stadt wieder erholt, und eine Aufstockung des Kultur-Etats vielleicht wieder möglich ist, dann ist das Walhalla saniert und braucht Zuschüsse, um in Betrieb zu gehen und Produktionen auf die Bühne zu bringen.
Da das Walhalla ein Projekt der öffentlichen Hand ist, gehört es nicht zur „freien Szene“, wird demnach in die Förder-Klasse Hochkultur eingeordnet und hat somit „Vorrang“ in der Förderung (und Nachrang bei möglichen Kürzungen). Jeder Zuwachs im Kultur-Etat könnte dann vom Walhalla vereinnahmt werden.
Niemand kann die Zukunft vorhersagen, auch ich nicht. Das Beschriebene ist aber auch nicht erfunden. Es ist meine Interpretation der Dinge und ich ziehe eigene Schlüsse.
Ich weiß, das Kultur-Orte gebraucht werden. Kunst und Kultur erkämpfen die Freiheit und festigen die Demokratie. Anders ist eine Bücherverbrennung durch die Nazis oder die Verfolgung von Pussy Riot in Russland nicht zu verstehen. Diktatorische Regime schränken Kunst und Kultur ein, um ihre Herrschaft zu stabilisieren und vor jeder Kritik zu schützen.
Aber auch in unserer Demokratie braucht es den Diskurs um Werte und den Streit um den guten Geschmack: Eben die kulturelle Herausforderung, denn „Freiheit ist ein Verb“ wie Karolin Emcke schrieb.
Ich glaube nicht daran, dass der „kulturpolitische Bildungsauftrag“ – der so oft als Grund einer Förderung zitiert wird – nur in den Staatstheatern der Republik oder Kultur-Institutionen der Hochkultur erfüllt wird. Das war vielleicht vor 60 Jahren so.
Gleichstellung aller Kulturbetriebe
Das veraltete System der Förderung muss sich von der „Pfad-Abhängigkeit“ lösen. Wir brauchen eine echte Veränderung hin zur Gleichstellung der Produktionsbedingungen in allen Kultur-Betrieben. Wer diesen Fortschritt nicht bewältigen oder nicht einmal einleiten kann, hat in der Politik von heute nichts (mehr) zu suchen. Die „KulturSzene“, die vor den Folgen der Covid-Pandemie gerettet wurde, (DANKE! dafür) wird nun dem Freitod preisgegeben. Anders formuliert: Wer Die Kultur kürzt, denkt nicht nach(haltig)!
„Thinking out of the Box” ist en vogue und wird an vielen Stellen gefordert, um die Zukunft zu bewältigen. Bedeutet: Es braucht neue Handlungs-Ansätze.
Um den im Raum stehenden „üblichen“ Kürzungen etwas gegenüberzustellen, mache ich hier wenige Vorschläge nach dem Motto: Lieber wenige sog. „Leuchttürme dimmen“ als im gesamten Hafen das Licht auszuschalten.
- Eine zweijährige Schließung des RMCC (es erwirtschaftet jedes Jahr Verluste in Millionenhöhe)
- Aussetzung der Maifestspiele auf unbestimmte Zeit
- Stilllegung des Projekt Walhalla
- Sanierung des Rathauses auf minimalem Niveau (nur Technik)
- Kürzung des Etat Staatstheater um echte 20%
Der gesamte Rest bleibt unangetastet und erhält den Zuschuss wie für 2024/25 beantragt.
Wer mir bei Unbehagen oder Nicht-Gefallen jetzt Neid oder Ahnungslosigkeit attestiert: Checke „deine Pfadabhängigkeit“!
Ich formuliere dies weder mit Freude noch mit Häme, sondern schreibe mit dem Mut und aus der Not der Verzweiflung. Und im vollen Bewusstsein, dass jeder Verlust ein Verlust ist.
Denn zur Kürzung gehören natürlich auch alle anderen Positionen im Kultur-Etat wie z.Bsp. Mittel für den Bücherkauf der Bibliotheken, Geld für die Dacho, die Bachgesellschaft und alle Projektmittel für den Nachwuchs.
Über den Autor: Gerhard Schulz, Jahrgang 1961, ist Vorsitzender des als Kollektiv betriebenen Wiesbadener Kulturzentrums Schlachthof e.V. (Hinweis – in der ursprünglichen Version des Beitrags wurde Gerhard Schulz entsprechend auch der Angaben hier auf der IHK Wiesbaden-Seite als Geschäftsführer bezeichnet. Dies hat er im Beitragskommentar richtiggestellt.) Als Vertreter der gesetzten Institution IHK Wiesbaden ist er Mitglied des Kulturbeirats. In der IHK ist Gerhard Schulz als Vertreter des Schlachthofs Mitglied der Vollversammlung sowie der IHK-Ausschüsse Kreative Wirtschaft und, als Vorsitzender, Kulturwirtschaft. Ebenfalls aktiv ist er im Wiesbadener AK Stadtkultur.
1. Die Dekadenz dieser Stadt kotzt mich schon lange an; ja da kann etwas Rotstift nicht schaden so manch abgehobene „Hochkultur“ wieder auf den Boden der Tatsachen zu stellen. Staatstheater, Bienale und Co sind da gute Beispiele. 2. Die Dekadenz mit der sich in dieser Situation dann noch eine neue Megaschlittschuhbahn manifestiert kotzt mich an. Hier sollte dringend die Satzung zur Nutzung der Troncmittel an wirklich gemeinnützige Zwecke angepasst werden anstatt Millionen zu verbrennen. 3. Wiesbaden ist aus meiner Sicht sowieso ein einziger „Fördermittelstraßenstrich“ wirklich freie Ensembles und Einrichtungen die bewusst frei von Fördermitteln ehrenamtlich arbeiten und dabei een auch eine freie Dynamik entwickeln gibt es hier nicht. Ich war selbst ein Jahr nach Mainz ausgewandert und habe http://www.pengland.de bei der Leerstandszwischennutzung im alten Autohaus unterstützt. Ich könnte mir durchaus so eine Leerstandszwischennutzung zb in der Citypassage für ein paar Jahre zu betreiben aber dazu wird es in Spießbaden wohl kaum kommen. Geld spielt keine Rolex sondern alleine die Geisteshaltung dieser Stadt die erst mal lernen muß das Kultur etwas zum mitmachen und nicht nur kostspieliger Konsumartikel ist.
Leider sehr unpassender Titel… „der Schlachthof-Chef“ ? Das Kulturzentrum Schlachthof Wiesbaden e.V ist ein Kollektiv. Schade, dass hier nicht zu Ende recherchiert worden ist.
Er ist Geschäftsführer = nach allgemeiner Definition Chef. Dass der Schlachthof als Kollektiv betrieben wird, ist uns natürlich bekannt, wir haben es aber gerne nochmal im Text ergänzt.
Ich bin nicht Geschäftsführer, sondern Vorsitzender des Vereins.
Das ist ein Unterschied…
In den letzten fast dreißig Jahren wurde auch schon tausendfach erzählt, wie wir mit der „Chef-Frage“ umgehen…
Jedenfalls nicht so, wie von außen vermutet.
Wir hatten uns unter anderem auf die entsprechenden Angaben auf der IHK Wiesbaden-Seite bezogen, haben es aber im Beitrag entsprechend vermerkt/aktualisiert.
Krass, das RMCC erwirtschaftet derart Verluste? Das war mir nicht bekannt. Danke für den Beitrag. Und ja, wir müssen genauer Hinschauen, denn die Bürger wünschen sich Vielfalt und nicht nur die Hochkultur.
Vielen Dank an Gerhard Schulz für die klaren Worte im vorstehenden Artikel, der die Dinge beim Namen nennt und mit kreativen Vorschlägen politisch möglichen Handlungsspielraum aufzeigt.
Die geplanten Kürzungen im Sozial- und Kulturetat sollten als Katastrophenfall betrachtet werden seitens der politisch Verantwortlichen! Und es käme anschließend vermutlich keine Verwunderung darüber auf, wenn dann doch auf einmal (woher auch immer) Geld vorhanden wäre…
Auf Bundesebene funktionieren Finanzhilfen im großen Stil und heißen dann Sondervermögen. Auf lokaler Ebene Fehlanzeige für konstruktive Lösungsansätze. Hier könnte ja möglicherweise einmal über ein Solidaritätspakt/-Fonds für die Kultur und den Sozialbereich nachgedacht werden.
Und Ja, die Unterscheidung der kulturellen Szenen in sogenannte Hoch- und Sub- oder was-auch-immer-für- Kultur taugt schon lange nicht mehr, und das nicht nur, wenn es um die Zuweisung bzw. Inanspruchnahme von öffentlichen Finanzmitteln geht, sondern auch im Hinblick auf gesellschaftliche Relevanz.
Ich hoffe und wünsche mir sehr, dass die Wiesbadener Stadtverordneten im Hinblick auf Zukunftsfähigkeit der Landeshauptstadt Wiesbaden kreative Lösungen im oben genannten Sinne finden, um die Kulturlandschaft nicht ausbluten zu lassen.
Gerhard Schulz bringt das auf den Punkt, was die vielen frei-gemeinnützigen Kulturträger in Wiesbaden bewegt: Festivals, Ausstellungen, Konzerte, Theateraufführungen werden von der Stadtpolitik gern eröffnet, viel gelobt, sogar ausgezeichnet (wie jüngst der Wiesbadener Kulturpreis für die Kammerspiele) und den Gästen der Stadt mit Stolz präsentiert – wie auch den neuen Studierenden beim Erstsemester-Empfang der HSRM durch OB Mende.
Aber im entscheidenden Moment, nämlich wenn`s ans Bezahlen geht, gibt es wie in diesem Jahr erst mal ein Brett!
Ein Schock für alle, die hier das öffentliche Leben mit Kultur bereichern: Der städtische institutionelle Zuschuss, der für die frei-gemeinnützigen Kultur-Organisationen gezahlt wird und sich immer nur am untersten Rand der echten Produktionskosten für alle Veranstaltungen und Projekte bewegt, ist bei der Aufstellung des neuen städtischen Haushalts nur eine „freiwillige Leistung“.
Kein „must have“!
Also etwas, was man mit Kürzungen belegen kann.
Etwas, was sich die Politik erst dann abringen muss, nachdem sie alles andere, was ihre „Pflicht“ ist, bezahlt hat.
Noch im Juni 2021 beschlossen Magistrat und Stadtverordnetenversammlung „Planungssicherheit“ und „Vertrauensschutz“ für die Kultur-Betriebe…
Diese anerkannten Werte kulturpolitischen Handelns fordern alle Kulturschaffenden der Stadt jetzt ein!
Es muss kulturpolitisch neu gedacht werden: Kulturveranstalter – gleich, ob freie oder städtische oder staatliche Kulturbetriebe – müssen nach gleichen Kriterien finanziell gefördert werden.
Es darf keine städtisch anerkannten Kulturarbeiter erster und zweiter Klasse mehr geben!
Auch wenn es in diesen Haushaltsberatungen gelingen sollte, die freie Kulturszene doch einigermaßen auszustatten (die Hoffnung verliert man ja zuletzt!) ist der ideelle Schaden jetzt schon hoch.
Welche:r junge Wiesbadener:in wird sich im Vertrauen auf städtische Anerkennung und finanzielle Unterstützung noch trauen, selber am Gemeinwohl der Stadt orientiert kulturunternehmerisch aktiv zu werden?