„Haben Sie Geduld mit Formalia“, rief OB Sven Gerich den 25 Mitgliedern des ersten Wiesbadener Kulturbeirates zu. Zur konstituierenden Sitzung des für Wiesbaden völlig neuen Gremiums am Dienstagabend war das Stadtoberhaupt vom rund um das Rathaus auf Hochtouren laufenden Weinfest vorbeigekommen. Er wollte es sich nicht nehmen lassen, den für die nächsten zwei Jahre ehrenamtlich tätigen Mitgliedern persönlich einen guten Start zu wünschen. Dies taten auch Stadtverordnetenvorsteherin Christa Gabriel und natürlich Kulturdezernent Axel Imholz. Der Rathauschef prognostizierte, dass sich die Arbeit sicher erst „einruckeln“ müsse, freute sich über den „reichen Erfahrungsschatz“ im vielfältig besetzten Gremium und wünschte sich eine „positive Weiterentwicklung des kulturellen Miteinanders“ in der Stadt. „Scheuen Sie sich nicht davor, kritisch zu sein“, ließ er als Rat im Raum 22 des Rathauses zurück, bevor er wieder zum Weinfest entschwand. Formalia bestimmten dann den weiteren Verlauf der Auftaktsitzung, das erste und einzige konkrete „Ergebnis“ war der neue Vorstand.
Wie im Vorfeld festgelegt, wurde der Vorsitzende aus dem Kreis der Kulturschaffenden gewählt. Als einziger Kandidat trat nach einer schnellen Vorstellungsrunde aller Kulturbeirats-Mitglieder Ernst Szebedits (Archivfoto: Kai Pelka), bundesweit bestens vernetzter Leiter der in Wiesbaden ansässigen Murnau-Stiftung, an – und wurde in geheimer Wahl einstimmig mit 25 Stimmen zum gleich doppelt ersten Vorsitzenden des Wiesbadener Kulturbeirates gewählt. Einen Hauch spannender wurde die Wahl für den stellvertretenden Vorsitz. Hier erklärte neben Dorothea Angor von den Grünen auch Hartmut Bohrer von der Fraktion Linke & Piraten seine Kandidatur. Angor, quasi so etwas wie die Mutter des Wiesbadener Kulturbeirates – sie hatte die Einrichtung des Gremiums maßgeblich initiiert und vorangetrieben – bekam 20 Stimmen, Bohrer 5.
Nicht nur abnicken, sondern kritisch und konstruktiv diskutieren
Der frisch gekürte Vorsitzende bedankte sich für das große Vertrauen und gab als Ziel aus, über den Kulturbeirat einen Diskurs zu etablieren und in und für Wiesbaden zukunftsweisende Kulturpolitik mit auf den Weg zu bringen. Er wünsche sich innerhalb des Gremiums eine „kritische und konstruktive Diskussion“, bei der nicht immer alle einer Meinung sein müssten, aber letztlich doch ein gemeinsames Ziel verfolgen sollten. Wichtig sei eine tragfähige Kulturpolitik für alle Bereiche, von den großen institutionellen Häusern bis zu den kleinen und freien Initiativen und Einrichtungen. Ausdrücklich nannte Szebedits auch die Bedeutung und den unverzichtbaren Wert avantgardistischer Kunst und Kultur – man müsse „Freiräume schaffen auch für nicht marktkonforme Kulturformen“. Mit Blick auf das Verhältnis zur städtischen Kulturpolitik regte er ein selbstbewusstes und eigenständiges Auftreten und Agieren des Kulturbeirates an – das Gremium solle keinesfalls ausschließlich „affirmativ bestätigen, was da ist“.
Das sieht die Vertreterin der Kulturpolitik im Kulturbeirat-Vorstand ähnlich. „Der Kulturbeirat sollte keinesfalls einfach die Ausschüsse nachspielen“, sagte Doro Angor nach ihrer Wahl zur stellvertretenden Vorsitzenden und meinte, die im Kulturbeirat vertretenen Politiker sollten sich in diesem Gremium eher zurücknehmen und vor allem erst mal zuhören.
Vor dem „Was“ steht das „Wie“
Zur Behandlung konkreter Kulturthemen kam es in der konstituierenden Sitzung noch nicht. Hier müssen sich sowohl die Kulturbeiratsmitglieder, die am liebsten schnellstens thematisch loslegen wollen, ebenso wie die erwartungsfrohe (Kultur-)Öffentlichkeit noch etwas gedulden. Bevor es darum geht, was – außer der Mitwirkung am Kulturentwicklungsplan, die „gesetzt“ ist – vom Kulturbeirat diskutiert und behandelt oder auch initiiert wird, muss es noch – da sind sie, die vom OB erwähnten Formalia – um das wie gehen. Manches wirkt hier noch etwas mühsam, aber insgesamt sind alle guter Dinge, dass es schnellstmöglich auch „richtig“ losgeht. Der Vorschlag von Kulturfonds-Geschäftsführer Helmut Müller, der als Vertreter der CDU-Fraktion in den Kulturbeirat entsandt wurde, zusätzlich zu den Präsenzsitzungen auch Möglichkeiten des inhaltlichen Austauschs untereinander im elektronischen Raum zu schaffen, kam im Gremium ebenso gut an wie die Anregung von Susanne Müller vom kuenstlerhaus43, mit der nächsten Sitzung nicht wie vorgesehen bis Mitte Oktober zu warten, sondern eine weitere schon im September anzuberaumen.
Geschäftstelle entsteht am Schillerplatz
Bis dahin werden auch die beiden hauptamlichen Mitarbeiterinnen der neuen Kulturbeirats-Geschäftsstelle, die im Kulturdezernat am Schillerplatz eingerichtet wird, ihren Dienst offiziell angetreten haben. Die aus Berlin stammende, bundesweit und international erfahrene Kulturwissenschaftlerin Maike Piechot (rechts) startet am 1. September als neue Leiterin der Geschäftsstelle, Andrea Geiss als Bürokraft. Beide waren bei der konstituierenden Sitzung dabei und stellten sich kurz vor – Andrea Geiss mit den Worten, dass sie sich, nachdem sich in den letzten dreißig Jahren bei einem großen amerikanischen Konsumgüterkonzern in den Bereichen Recruiting, Marketing und Vertrieb „mit Windeln, Waschmittel und Parfüm“ beschäftigt habe, nun in der zweiten Hälfte ihres Lebens einem so schönen Thema wie der Kultur widmen wolle. Die Besetzung der dritten Stelle – die einer oder eines wissenschaftlichen Mitarbeiterin bzw. Mitarbeiters – verzögert sich noch etwas angesichts von rund 130 Bewerbungen.
(Text Dirk Fellinghauer, Fotos Thomas Weichel (Gruppenbild)/ Dirk Fellinghauer – Der Verfasser ist Mitglied des Kulturbeirates als gewählter Vertreter der Kategorie „spartenunabhängige Kandidaten“)