Von Katinka Fischer. Fotos Nele Prinz.
Anstiftung zum Dialog: Der Wiesbadener Kunstsommer feiert den 60. Jahrestag von Fluxus – und zeigt, dass die spielerischen und anti-musealen Ideen der Bewegung nicht alt werden. Heute wird im Kunsthaus-Garten Eröffnung gefeiert – ab 19 Uhr offen für alle mit versprochenermaßen nur kurzen Reden, viel Raum für Begegnung, mit Rolling Art Train und Musik, die fuchst, während es in Wiesbaden in den kommenden sieben Wochen gewaltig fluxt. sensor präsentiert den sagenhaften Kunstsommer 2023 als Medienpartner.
Was haben Paella-Pfannen, Feuerlöscher, und Nudelsiebe gemeinsam? Es sind Musikinstrumente! Jedenfalls macht der Wiesbadener Klangkünstler Axel Schweppe sie dazu, seit ein Stipendium ihn und seinen Kollegen Wolfgang Stamm 2018 ins Münsterland führte. Damals sammelten die Musiker von Anwohnern gestiftete Haushaltsgegenstände und hängten sie in selbstgezimmerte Holzrahmen. Nicht nur nach Tonfrequenz, sondern auch nach optischen Gesichtspunkten geordnet, gaben sie dem Begriff Klangbild zusätzlichen Sinn.
Die Projektidee von einst hat Schweppe seither stetig weiterentwickelt. Seine unkonventionellen Klang-Objekte füllen mittlerweile acht dieser an Schrankskelette erinnernden Konstruktionen. Darunter eine Tischplatte so rund wie ein Gong, wie die Stäbe eines Xylophons gereihte Schiefertafeln oder Rührschüsseln wie überdimensionierte Schellen. Indes erinnern Gurte, von denen silberne Pfannen gehalten werden, an die schwarzen Gitter eines Mondrian-Gemäldes. Fünf der Rahmen hat Schweppe nun mit Rädern und Zugdeichsel versehen.
Denn für den Wiesbadener Kunstsommer verwandeln sie sich in Waggons eines „Rolling Art Train“. An unterschiedlichen Tagen bewegt sich der Zug vom Depot in Schweppes Walkmühl-Atelier an unterschiedliche Orte im Stadtgebiet. Gemeinsam mit anderen Musikern bringt er dann die Klangmuster zu Gehör, die die Gruppe frei, aber in vielen Proben diszipliniert und ernsthaft entwickelt hat.
Der Geist der Bewegung
Auch wenn sich Schweppe selbst nicht als Fluxus-Erbe versteht, atmet seine mobile Percussion-Installation doch den Geist der Bewegung, deren Beginn gern mit der Zertrümmerung eines Konzertflügels 1962 im Museum Wiesbaden gleichgesetzt wird. So teilen sie nicht nur das musikalische Fundament, sondern auch das spielerisch fluide und für den klassischen Ausstellungsraum deswegen ungeeignete Wesen. Dass die jeweilige Endstation des Rolling Art Train nicht dessen alleiniges Ziel ist, versteht sich daher fast von selbst. Dafür, was unterwegs und ungeprobt passiert, ist Schweppe ebenfalls aufgeschlossen.
Passanten und andere Außenstehende sollen sich einbringen können. Weil es beim Zusammenspiel aber darum geht, dass man sich gegenseitig zuhört, gibt sich der Künstler inzwischen zurückhaltender als noch 2020 im Bellevuesaal, wo seine Aufforderung zur Publikumsbeteiligung in Menschenschlangen und „völliger Entfesselung“ mündete. Als Zugmaschine dienen im Übrigen ausschließlich Muskeln. Eine besondere Herausforderung kommt auf die freiwilligen Helfer gleich zum Kunstsommer-Beginn am 1. Juni zu, wenn es den Schulberg hinauf zum Kunsthaus geht.
Dass Performances und Interventionen, die wie Schweppes Rolling Art Train in den Wiesbadener Stadtraum eingreifen, den mit Abstand größten Teil des vom Kulturamt von 1. Juni bis 23. Juli unter dem etwas sperrigen Titel „Fluxus Sex Ties“ veranstalteten und von sensor als Medienpartner präsentierten Kunstsommers ausmachen, liegt in der Natur der spontanen und anti-musealen Fluxus-Sache. 61 Jahre nach der legendären Klavierzertrümmerung endet damit eine beinahe zehnjährige Kunstsommer-Unterbrechung. Corona durchkreuzte den Plan, den runden Fluxus-Geburtstag 2022 rechtzeitig zu würdigen. Immerhin warf im vergangenen Sommer ein „Präludium“ mit Ausstellungen zu den internationalen Pionierinnen der sechziger und siebziger Jahre seine Schatten auf das jetzige Großereignis voraus.
Fokus auf weiblichen Perspektiven
Der Fokus bleibt auch diesmal auf den weiblichen Perspektiven, richtet sich darüber hinaus aber auf zeitgenössische, überwiegend lokale Positionen auch anderen Geschlechts. Die Mammut-Aufgabe, 150 Programmpunkte von 70 Künstlerinnen und Künstlern an 23 Orten zu koordinieren und dabei im Budgetrahmen von 460.000 Euro zu bleiben, hat Jana Dennhard übernommen. Die junge Kunsthistorikerin, die 1993 in Speyer geboren wurde, kann sich freilich auf die Unterstützung von Referatsleiterin Monique Behr und deren Kolleginnen Regine Meldt sowie Christine Wagner-Hübinger verlassen. Für ihren aktuellen Job hat sie sich nicht nur dadurch empfohlen, dass sie im vergangenen Jahr als Volontärin am Museum Wiesbaden die Ausstellung mit der Mail Art der japanischen Fluxus-Künstlerin Mieko Shiomi kuratiert hat.
Auch ihre Master-Arbeit, mit der sie 2020 ihr Studium an der Mainzer Uni abschloss, drehte sich schon um den Fluxus-Künstler Ray Johnson und dessen ebenfalls auf dem Postweg versandte Kunst. Der Fluxus-Idee entsprechend, geht es Dennhard darum, Kunst aus dem Elfenbeinturm zu befreien und nicht in Vitrinen oder auf Sockeln zu präsentieren oder sie abschreiten zu können wie eine Skulpturenmeile. Den Kunstsommer begreift sie vielmehr als interaktives Angebot, das die Menschen mitten im Stadtraum am besten erreicht und sie idealerweise zum Dialog anstiftet. Jugendliche kommen auf diese Weise vielleicht ebenfalls auf den Kunst-Geschmack. Für sie wurden unter anderem Graffiti-Aktionen und die Einweg-Galerie ersonnen, bei denen sie Pizza-Kartons individuell gestalten können.
Bettlaken der Großmutter
Unterdessen werden spezifisch weibliche Fragen vor allem in den Ausstellungshäusern verhandelt. Dass Kira van Eijsden Mutter einer vierjährigen Tochter ist, die sie während ihres Studiums in Zürich zur Welt brachte, hat auch zentrale Bedeutung für das Schaffen der 1988 geborenen Schweizerin. Einblick geben mehrere installative Arbeiten im Kunsthaus, zu denen drei knapp fünf Meter lange, aus den Bettlaken ihrer Großmutter zusammengenähte Stoffbahnen gehören. Die wild farbigen Motive, mit denen die Künstlerin sie bemalt hat, kreisen um die Themen (unerfüllter) Kinderwunsch, Schwangerschaft und Geburt sowie die Zerrissenheit einer Künstlerin und Mutter zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Sie kontrastieren mit dem rein weißen Untergrund, der in diesem Zusammenhang zur Metapher für einen patriarchalen Haushalt wird, in dem die Frau für Sauberkeit und Ordnung sorgt und kein Platz ist für eine eigene Geschichte.
Kompromisslos feministisch
Ihre kompromisslos feministische Haltung bringt Kira van Eijsden (Foto im Zürcher Atelier: Johnny Assenberg) in allen Medien zum Ausdruck. In der interaktiven Video-Arbeit „Neverending – Lärm machen“ etwa erscheint sie auf acht Monitoren in jeweils unterschiedlichen Rollen. Man sieht sie wie in einer Fernsehproduktion vor einem „Green Screen“, wo sie sich dozierend, singend, anklagend, zweifelnd oder titelgemäß lärmend mit weiblichen Klischees auseinandersetzt.
Welcher Ton dazu läuft, entscheiden die Zuschauer:innen, die sich darüber gegebenenfalls untereinander abstimmen müssen. Was künstlerische Bewegungen angeht, ist man in Kira Eijsdens Heimatland eher mit dem Zürcher Dada vertraut als mit dem ein knappes halbes Jahrhundert jüngeren Fluxus. Tatsächlich scheint ihr der spielerisch humorige Ansatz eher fremd. Dafür ist ihr Anliegen zu ernst. Dass es unter der Kruste der selbst im 21. Jahrhundert noch männlich dominierten Gesellschaftsstrukturen aber brodelt und eine Eruption produktive Energie freisetzen kann, suggeriert nicht zuletzt der Ausstellungstitel „magma mama: über wüten und wachsen“.
Mehr als Yoko Ono – Handlungsanweisungen gegen Leerstellen
Zumindest formal ätherischer, aber nicht weniger politisch geht es im Frauenmuseum in der Wörthstraße zu. Wandtexte erinnern oder besser: gemahnen dort an den weiblichen Beitrag zur Entstehung und zur Weiterentwicklung der Fluxus-Idee. So ist Yoko Ono meist die einzige der historischen Künstlerinnen, die man damit in Verbindung bringt.
Frauen wie Alison Knowles, Mary Bauermeisters oder eben Mieko Shiomi dagegen hat die Kunstgeschichte übergangen. Dass sich daran seither zu wenig geändert hat, führt eine schier unüberschaubare Zahl von Namen zeitgenössischer Künstlerinnen vor Augen, die im Fluxus-Kontext zu nennen sind, damit aber ebenfalls nicht ins kollektive Bewusstsein gedrungen sind. Leerstellen wiederum versinnbildlichen, dass dies wahrscheinlich noch nicht einmal alle sind und animieren vielleicht die eine oder den anderen zu Ergänzungen.
Cambra Skadé indes haftet nicht nur mit ihrem Namen dafür, dass es so viel mehr von Fluxus inspirierte Künstlerinnen gibt, als man denkt. Die Bayerin hat im Frauenmuseum einen Parcours installiert, an dessen Stationen die sprachliche Kreativität des Publikums herausgefordert wird. Dazu nutzt die Künstlerin die schon klassische Fluxus-Strategie der Handlungsanweisungen.
Wie sich Wiesbaden anhört
Während Gäste von nah und fern die musealen Orte bespielen, geht die lokale und regionale Szene oft auf die Straße. In bester Fluxus-Manier spielen die Mitglieder von „redpark“ aus Frankfurt in ihrem „Boxclub“ mit sprachlicher Mehrdeutigkeit. (Foto Luise Hiller)
An so zentralen Orten wie dem Platz der Deutschen Einheit, dem Kranzplatz oder dem Schlachthof ebenso wie in einigen Stadtteilen kann man dann tatsächlich in den Ring steigen. Zugleich verweist der Begriff auf die historischen „Fluxus Boxes“. Während die Künstler darin einst Objekte und Dokumente verpackten, die vordergründig nichts miteinander zu tun hatten und diese Assemblagen gewohnte Denkmuster aus den Angeln hoben, bezieht sich die seit 20 Jahren für ihre performativen Projekte bekannte Gruppe jetzt auf die klanglichen Wurzeln von Fluxus: Sie sammelt Geräusche, die sich am Ende zu einem Klangbild von Wiesbaden fügen.
Das geschieht in einer Flüsterbox oder einer Brüllbox, in denen Töne abgenommen und aufgezeichnet werden, während in einer Fotobox akustische Eindrücke visualisiert werden können. Außerdem ist das Publikum eingeladen aufzuschreiben, was in Wiesbaden zu laut oder zu leise ist, was schön klingt oder in den Ohren schmerzt und diese Notizen – genau – in eine Box zu werfen. Das Ziel ist kein dokumentarisches Bild, sondern die Utopie, wie Wiesbaden klingen könnte und vielleicht sollte. Der Clubgedanke zählt auch im sportiven Sinne: Jede und jeder kann Mitglied werden, im Ernstfall sogar das Handtuch werfen und darf gespannt sein auf die Abschluss-Präsentation im „Rumble-Park“.
Bereicherung des Geschäftslebens
Zum Ende des Kunstsommers bereichert eine Neueröffnung das Wiesbadener Geschäftsleben. Am 14. Juli zieht das „Trendstudio inter:flux“ in das leerstehende Ladenlokal an der Ecke Friedrichstraße und Neugasse. An das Elektrofachgeschäft, das dort einst ansässig war, wird dann nichts mehr erinnern. Was man dort antrifft, ähnelt vielmehr einem Trödelladen. So zumindest schwebt es Verena Schmidt vor. Die Wiesbadener Künstlerin mit Atelier in der Walkmühle betreibt dort Tauschhandel. Gefüllt werden die etwa 200, sich über Erd- und Untergeschoss erstreckenden Quadratmeter mit Objekten, die örtliche Künstlerinnen und Künstler – Schmidt hofft auf 15 bis 20 – zur Verfügung stellen. Kundinnen und Kunden dürfen durchaus mit leeren Taschen kommen. Denn als Tauschware gelten nicht nur materielle Dinge, sondern etwa auch gute Argumente. Was jeweils getauscht wurde, wird mit Zertifikat und Urkunde hochoffiziell dokumentiert.
Außerdem bietet das „Trendstudio inter:flux“, dessen erste Namenshälfte auf das Vorgängergeschäft zurückgeht, die Kulisse für Auftritte anderer Künstlerinnen und Künstler. Dazu gehören Hannah Cooke, die in ihrem Video ikonische Kunstwerke zitiert, oder Daniela Daub mit einem poetischen Kaffeeklatsch. In jedem Fall betritt man dort das Gegenteil eines Kunsttempels und steht zugleich mit einem Schritt in einer Installation, die nach der Corona-Isolation wieder Menschen zusammenbringt und sich im originären Fluxus-Geist ständig verändert. Und wenn dann noch der Rolling Art Train dort hält, wird wie zur Fluxus-Stunde Null die Idee des Netzwerks noch einmal greifbar, in dem irgendwie doch alles mit allem zusammenhängt.
sensor präsentiert: Wiesbadener Kunstsommer 2023 – FLUXUS S(I)EX TIES – 1. Juni bis 23. Juli, verschiedene Orte. Eröffnung heute, 1. Juni, 19 Uhr, Kunsthaus Wiesbaden – Die Eröffnungsfeier ist eine Kooperation mit Schülerinnen und Schülern des Veranstaltungsmanagements der Friedrich-List-Schule Wiesbaden mit freundlicher Unterstützung von Hofmann’s Catering, Percuma und Botanical, Weingut Kloster Eberbach und Artlife GmbH. Für die musikalische Begleitung sorgen Fox & Fries.
Alle Infos und das volle Programm unter www.wiesbaden-kunstsommer.de
Wie immer ein guter Artikel von Katinka Fischer.
Jetzt sollten wir alle fluxen!