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Stadt in Atemnot: Die Kampagne der Stadt für bessere Luft im Praxistest – mit gemischten Ergebnissen

Text: Julia Bröder. Fotos: Tahar Jaber.

Mit ein paar Spielregeln und Maßnahmen zu deutlich besserer luft in Wiesbaden. Ist es wirklich so einfach, wie eine aktuelle Kampagne der Stadt suggeriert? Ein Praxistest mit gemischten Ergebnissen.

Die Luft in Wiesbaden ist schlecht. Der Gehalt an Stickoxid ist – obwohl er seit einigen Jahren sinkt – immer noch viel zu hoch. Wir wissen das, immerhin sehen wir die Massen an Autos, die sich durch die Stadt kämpfen – auf dem 1. Ring täglich bis zu 66.000 Stück. Oftmals sitzen wir selber drin, im ungünstigsten Fall alleine. Trotzdem haben wir es bisher nicht geschafft, den gesetzlichen NO2-Grenzwert zu unterschreiten. Der liegt bei 40 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft im Jahresmittel – 2017 wurden in Wiesbaden 50 Mikrogramm gemessen. Wenn das so bleibt, drohen Dieselfahrverbote. Mal ganz abgesehen von einer solch drastischen Maßnahme: Stickoxide belasten unsere Gesundheit. Und der viele Kfz-Verkehr – Lärm, Gestank und Abgase – in der Innenstadt tragen nicht gerade zur Lebensqualität bei.

Die Stadt selbst ist nun aktiv geworden und hat unter dem Motto „Frischer Wind für Wiesbaden“ eine unübersehbare Kampagne gestartet, die alle dazu auffordert, unsere Umwelt aktiv zu schützen. Begleitet wird sie von einem Paket an Sofortmaßnahmen zur Luftverbesserung.  „Mit einer verbesserten Infrastruktur und ein paar einfachen Spielregeln können wir die Luft in Wiesbaden gemeinsam besser machen – ganz ohne Fahrverbote.“ Klingt prima und ganz einfach, was die Verantwortlichen da in Aussicht stellten. Und wie sieht die Wirklichkeit aus? Was steckt hinter den auffälligen Illustrationen der Designerin Teresa Sdralevich? Unsere Autorin  hat sich die zehn Kampagnenmotive zu Herzen genommen und die Aufforderungen ganz persönlich auf Umsetzbarkeit getestet.

„Fahrrad aus dem Keller holen“

Ich bin keine Radfahrerin. War ich noch nie. Weder in Frankfurt, noch in Hamburg oder Berlin, wo ich früher gewohnt habe. Aber in Wiesbaden fahre ich erst recht nicht Rad. Okay, die vielen Hügel hier gelten nicht als Ausrede, ich könnte mir schließlich ein E-Bike kaufen. Aber ich traue mich einfach nicht. Auf den Straßen dominieren die Autofahrer, gute Fahrradwege gibt es kaum. Im Zuge ihrer Maßnahmen zur Luftverbesserung will die Stadt, die auch gerade ihr „Radbüro“ eingeweiht hat – ausgestattet mit Fachleuten, die das verzehnfachte städtische Budget für Radverkehrsmittel nun auch konsequent buchstäblich „auf die Straße bringen“ soll –  bis Jahresende zumindest an drei Orten geschützte Fahrradstreifen einführen. Wo genau? Noch geheim! Wenn das den Radverkehr wirklich sicherer macht, hole ich mein Rad gerne nochmal aus dem Keller. PRAXISURTEIL: OHNE MICH! BIS AUF WEITERES …

„Zusammen macht’s mehr Spaß! Bus und Bahn fahren“

Es gibt Städte, die sind durch den Öffentlichen Nahverkehr besser erschlossen als die unsere. In Mainz fahren Busse UND Straßenbahnen, in Wiesbaden ist die City-Bahn ein Streitthema mit offenem Ausgang. Ich nutze in meinem Alltag, was da ist. Und komme damit eigentlich ganz gut zurecht. Bisher habe ich zu jedem angepeilten Ziel eine Verbindung – und meistens auch Platz für mich und meine Rasselbande samt Kinderwagen – gefunden. Nur einmal in sechs Jahren ist ein Bus der Linie 274 an der Haltestelle Aarstraße einfach an uns vorbei gefahren. Das ist doch ein guter Schnitt. Ich finde die RMV-App, mit der ich auch Fahrkarten für die ESWE-Busse kaufen kann, komfortabel. Und wenn ich Freunde in Frankfurt besuchen will, fährt mich die S-Bahn, am Wochenende sogar nachts. Sicher, ich höre auch Gegenteiliges. Die Busse seien zu voll, verspätet oder kämen manchmal gar nicht. Um dagegen anzugehen, lässt die ESWE einige Linien ab dem Fahrplanwechsel im Dezember in einem schnelleren Takt fahren, aus der Stadt ins Umland kommen neue Linien dazu. PRAXISURTEIL: GUTE VERBINDUNGEN.

„Brötchen holen ohne Auto“

„Ja, es kommen viele Leute mit dem Auto hierher, parken in der zweiten Reihe und holen ihre Brötchen“, berichtet eine Verkäuferin der Bäckerei Walser im Westend. Sie stört das nicht, mich schon. Denn Fahrten zum Bäcker sind in der Regel kurz, und – so erklären es die Agentur Scholz & Volkmer und das Umweltamt in ihrer Kampagne – gerade auf den ersten Kilometern stoßen Verbrennungsmotoren verhältnismäßig viele Schafstoffe aus. Wenn also alle, die für Strecken unter einem Kilometer das Auto nehmen – und das sind in Wiesbaden immerhin 16 Prozent – dies sein lassen, würde das schon viel helfen. Ich finde: Zu Fuß Brötchen holen kann wirklich jeder, der in einem der inneren Stadtteile wohnt. Sie sind nicht schwer, meistens gönnt man sie sich am Wochenende, wenn man nicht unter Zeitdruck steht, und außerdem hat Wiesbaden eine immense Dichte an Bäckereien. Und im besten Fall trifft man unterwegs noch nette Leute zum kleinen Plausch.  PRAXISURTEIL: KEINE AUSREDEN.

„Kinder zur Schule laufen lassen“

Apropos zweite Reihe. Ein Riesenthema, vor allem jedes Jahr nach den Sommerferien, sind die sogenannten Elterntaxis, die in der zweiten Reihe vor den Schultoren parken. Teresa Sdralevich hat es mit einem augenzwinkernden Seitenhieb auf übervorsichtige Helikoptereltern illustriert. In der Wiesbadener Wirklichkeit sind es die Autos, die regelwidrig anhalten, die Straßen vor den Schulen verstopfen und die Kinder daran hindern, diese sicher zu überqueren. An der Blücherschule ist das Szenario oft zu beobachten. Für Michaela Arndt war es der Anlass, jeden Morgen mit ihrem Erstklässler das Haus zu verlassen und sich in orangener Warnweste auf die Scharnhorststraße zu stellen – um den Kindern zu helfen, aber auch um die Eltern zurechtzuweisen. Der Ortsbeirat Westend-Bleichstraße unterstützt sie, Hans-Gerd Öfinger könnte sich vorstellen, dass sein seinerzeit abgelehnter Antrag auf Einbahnverkehr auf dem entsprechenden Straßenabschnitt jetzt wieder Thema wird. Aber auch dann wäre es schön, wenn gilt: Schulweg ist Fußweg. Dass das möglich ist, zeigen ja schon viele tapfere Grundschüler! PRAXISURTEIL: KLAR, ABER …

„Fahrrad leihen und Stadt erobern“

Wie gesagt, ich bin keine Fahrradfahrerin. Und wenn ich doch einmal aufs Rad steigen will, kann es gut sein, dass meins einen Platten hat. Das seit neuestem umfangreiche Angebot an Leihrädern sollte mir also zugute kommen, und tatsächlich gibt es ganz in der Nähe meiner Wohnung mehrere Stationen. In der Innenstadt sind es insgesamt 50 von der ESWE mit zusammen 500 Rädern – Tendenz steigend, gerade wurden noch Stationen am neuralgischen Punkt Schlachthof/Kulturpark eingeweiht -, dazu kommen rund 15 Stationen und 100 Räder anderer Anbieter. Zahlen muss ich dafür 50 Cent bis 1 Euro pro halbe Stunde per Lastschrift oder Kreditkarte. Das ist es mir wert. Also los. Das Herunterladen der kostenlosen App funktioniert, ich gebe meine Daten ein, bestätige die Registrierung, und dann: „Bitte kommen Sie mit Ihrem Lichtbildausweis in die ESWE-Mobilitätszentrale, damit wir Ihren Account freischalten können.“ Wie bitte? Diese Hürde zur erstmaligem Nutzung eines der orangenen Bikes halte ich für reichlich hoch. Die ESWE erklärt, dass mit den nagelneuen Rädern in den ersten Wochen nach der Einweihung Schindluder betrieben worden sei. Rund 100 Stück seien entweder entwendet oder beschädigt worden, eine beachtliche Anzahl der etwa 8000 Kundenregistrierungen nicht rechtmäßig. Insgesamt werde „meinRad“ mit rund 300 Fahrten am Tag aber rege genutzt. Schade, dass es nicht gelungen ist, eine sichere App zu entwickeln, die auch ohne den Umweg über das ESWE-Büro funktioniert. Das soll nachgeholt werden, betont eine Sprecherin der Verkehrsbetriebe, auch die Zahl der Stationen und Räder soll noch weiter wachsen. Ich versuche mein Glück noch bei Next-Bike, einem Leipziger Unternehmen, das international Leihräder betreibt. Hier scheitert meine Fahrt daran, dass ich vor Antritt ein Startguthaben auf mein Konto laden soll. PRAXISURTEIL: HOLPRIG, ABER HOFFNUNGSVOLL.

„Nicht lange kreisen, gleich ins Parkhaus“

Zugegeben, ich hatte nie daran gedacht, dass ich die Umwelt schonen kann, wenn ich ins Parkhaus fahre. Aber klar: Wer mit dem Auto in die Innenstadt fährt, dreht auf Parkplatzsuche in der Regel Runden – und das lässt sich vermeiden. In der Innenstadt gibt es 14 Parkhäuser, die Preise liegen bei 2,50 bis 6 Euro für zwei Stunden. Das ist etwas teurer als an den meisten Parkuhren, aber wenn man nicht gerade ein riesiges Auto fährt oder vom Urlaub noch die Gepäckbox auf dem Dach hat, spart man nicht nur NO2 ein, sondern auch Stress und Zeit. PRAXISURTEIL: EINLEUCHTEND.

„Home-Office statt Berufsverkehr“

Ich bin ein Jahr lang nach Frankfurt gependelt und habe es gehasst. Morgens habe ich manchmal anderthalb Stunden in die Redaktion gebraucht und abends zusätzlich 20 Minuten, bis ich einen Parkplatz im Westend gefunden habe. Deutschlandweit fahren mehr als die Hälfte aller Arbeitnehmer zum Job in eine andere Stadt, Tendenz steigend trotz Digitalisierung und zunehmender Vernetzung. In Wiesbaden führt das dazu, dass es sich bei 9 Prozent der Zeit, die Menschen im Auto verbringen, um Stau handelt. Für mich als Freelancer ist das Home-Office die perfekte Alternative. Wer nicht so gerne alleine zuhause arbeitet, findet in Wiesbaden aber auch zahlreiche Co-Working-Spaces. Und noch ein Argument für Angestellte, die zuhause arbeiten wollen und ihren Arbeitgeber erst noch überzeugen müssen: Laut einer Studie der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) und Eurofound sind sogenannte Telearbeiter effizienter als die Kollegen im Büro. PRAXISURTEIL: MACHBAR.

„Umwelt schonen, Auto teilen“

Am liebsten hätte ich hier jemanden interviewt, der zusammen mit jemand anderem ein Auto besitzt. Habe aber niemanden gefunden. Die Vorstellung sei prima, das höre ich oft. Man brauche das Auto ohnehin nur zu bestimmten Zeiten. Natürlich könnte man auch Kosten sparen. Andererseits hat man, wenn man sich absprechen muss, ja doch nicht die Flexibilität, die man sich von einem eigenen Auto erhofft. Fotograf Tahar Jaber, der die Fotos für diese sensor-Titelgeschichte gemacht hat, setzt stattdessen auf Car Sharing. Ein Modell, das aus seiner Sicht gut funktioniert, er könne immer spontan auf ein Auto zugreifen. Wenn er etwas transportieren muss, oder wenn, so wie ironischerweise während unserer Recherche, sein Rad platt ist. Das Kampagnen-Faltblatt weist noch darauf hin, dass im Berufsverkehr ein Wagen durchschnittlich mit nur 1,2 Personen besetzt ist. Wären es mehr, tue das nicht nur der Umwelt gut, sondern auch den Insassen: Fahrgemeinschaften verringern statistisch gesehen das Unfallrisiko. PRAXISURTEIL: BEDARF DA, ANGEBOT FEHLT.

„Cargo-Bike fahren, 2500 Euro bekommen“

Nico Lange kommt aus Norddeutschland und ist, wie sie sagt, auf dem Fahrrad aufgewachsen. Dass sie auch nach ihrem Umzug nach Wiesbaden vor 17 Jahren weiterradeln würde, war somit klar. Zuerst tauschte sie ihr normales Fahrrad gegen ein E-Bike aus, später schaffte sie sich auch noch ein Akku-unterstütztes Lastenfahrrad an. Sie benutzt es zum Einkaufen und um ihren mittlerweile neunjährigen Sohn in die Schule zu fahren. Macht die ausladende Länge im dichten Straßenverkehr keine Probleme? „Man muss schon ein bisschen üben und darf nicht zu ängstlich sein“, gibt Nico Lange zu. Für sie ist das Cargo-Bike aber die optimale Alternative zum Auto – obwohl auch ein E-smart vor der Tür steht. „Mit dem Rad bin ich schneller, ich finde überall einen Platz zum Abstellen, kann es über Nacht im Hof aufladen und alles transportieren, was ich möchte.“  Zum Beweis fährt sie mich einmal um den Block. Die Kosten für ein privat genutztes Lastenbike mit E-Antrieb liegen bei 3000 bis 5000 Euro, sparen kann man zum Beispiel über die Leasing-Modelle von JobRad. Wer ein Cargo-Bike gewerblich nutzen will, bekommt vom Bund 30 Prozent des Kaufpreises oder bis zu 2500 Euro dazu. PRAXISURTEIL: EINE ÜBERLEGUNG WERT.

„Ring frei für die Umweltspur“

Die Idee ist toll. Auf dem ersten Ring, dort, wo täglich 66.000 Autos entlang fahren, soll in Zukunft eine komplette Spur für Busse und Radfahrer freigeräumt werden. Menschen, die auf diese Verkehrsmittel umsteigen, wären also deutlich im Vorteil. Allerdings: Von der Umsetzung ist noch nicht viel zu sehen, als ich die Umweltspur testen will, werde ich wieder von einem Auto fast umgemäht. Klar, so etwas geht nicht von heute auf morgen, immerhin müssen jede Menge Autos umgeleitet werden. Offiziell heißt es dazu: „Mit der Realisierung der gemeinsamen Fahrspur für Bus und Rad wird im Abschnitt Sedanplatz – Blücherstraße begonnen. Das Tiefbau- und Vermessungsamt hat hierfür bereits Pläne gezeichnet. Parallel dazu wird die Freigabe des Weges auf dem Mittelstreifen für den Radverkehr zwischen Dotzheimer Straße und Sedanplatz geplant.“ PRAXISURTEIL: WARTEN AUF „GO“ DO …

Fazit: Kurze Wege zu Fuß gehen, Autos mit mehreren Passagieren besetzen, öfter mal den Bus nehmen. „Mal kurz die Welt retten“ geht so einfach nicht. Aber: Im Kleinen kann jeder NO2 einsparen. Gefordert ist aber auch die Stadt. Wenn diese es nicht bei Ankündigungen belässt und ihre geplanten Maßnahmen konsequent umsetzt, könnte es klappen mit der besseren Luft in Wiesbaden.

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Die Kampagne

Die Kampagne „Frische Luft in Wiesbaden“ wurde nach einer Ausschreibung von der Agentur Scholz & Volkmer im Auftrag des Umweltamtes der Landeshauptstadt Wiesbaden konzipiert und umgesetzt. Die Illustrationen stammen von einer – laut Aussage von Scholz & Volkmer-Chef Michael Volkmer – „Top 25-Designerin weltweit“: Teresa Sdralevich, geboren 1969 in Mailand, lebt und arbeitet in Brüssel als international gefragte Poster-Designerin und –Illustratorin, vor allem zu sozialen, politischen und kulturellen Themen. Eine ihrer Illustrationen zur „Frische Luft“-Kampagne ziert das Cover dieser sensor-Ausgabe. 2017 war sie Gast auf der „see conference“ in Wiesbaden. Eine Liste der städtischen Maßnahmen zur Luftverbesserung gibt es hier: www.wiesbaden.de/luft