Wiesbaden begleitete mich einige Jahre durchs Leben. Wir hatten schöne Stunden miteinander. Wir lachten, tanzten und feierten unser Glück. Dann trennten wir uns. Nicht für immer, sondern auf Probe. Ich schulterte meinen Rucksack, verabschiedete mich von unserer Beziehung und flog von Hessen nach Asien. Dort stürzte ich mich ins Abenteuer. Seitdem schlafe ich in fremden Betten und ziehe von einer Stadt zur nächsten. Ich flirte mit Hanoi, Bangkok und Phnom Penh. Doch je länger ich durch Vietnam, Thailand und Kambodscha reise, desto klarer wird mir: Wiesbaden fehlt. Ich vermisse vor allem unscheinbare Dinge. Dinge, die ich im Taumel unserer Liebe nie wahrgenommen habe.
In Wiesbaden sind sie allgegenwärtig und so selbstverständlich wie das dampfende Wasser im Kochbrunnen. Es gibt sie im Zentrum und in den Vororten. Tag für Tag werden sie getreten – von feinen Damen, von Joggern und von Leuten wie dir und mir: Bürgersteige. In Asien existiert Gehwege nicht. Oder genauer: Es gibt Gehwege, aber die haben aber nichts mit ihren fernen Verwandten aus Wiesbaden gemein. Bürgersteige in Asien sind winzig, uneben und gehören nicht Fußgängern, sondern Mofas, Rollern und Vespas. Es ist in Asien unmöglich, nebeneinander auf einem Gehweg zu schlendern und sich mit einem Freund zu unterhalten. In Wiesbaden ist das kein Problem. In der Stadt gibt es sogar eine Bürgersteig-Deluxe-Variante: die Kirchgasse, eine Zone nur für Fußgänger. Zutritt für Autos, Roller und Mopeds (weitgehend) verboten. In der Kirchgasse kann man flanieren, bummeln und lustwandeln. In Asien muss man hetzen, stolpern und ausweichen.
Feilschen strapaziert die Nerven
Die Kirchgasse besitzt einen weiteren Vorteil. Wer Jeans, Schuhe oder Parfüm braucht, betritt das Geschäft seiner Wahl, entscheide sich für Levi´s, Adidas oder Chanel, bezahlt und ist hoffentlich glücklich. Jeder weiß, was er bekommt und was es kostet. In Asien ist Einkaufen komplizierter. Wenn ich nicht übers Ohr gehauen werden will, muss ich handeln. Das ist eine qualvolle Prozedur, die unnötig Zeit und Nerven kostet. Das Seltsamste daran ist: Der Verkäufer und ich wissen schon vorher, auf welchen Preis wir uns einigen werden. Bis wir das auch offiziell feststellen, dauert es mindestens fünf Minuten, meistens zehn, manchmal sogar zwanzig. Ich nenne einen Preis, der Händler lacht. Er nennt einen anderen Preis, ich lache. Ich werfe einen neuen Preis in die Runde, der Händler stöhnt und ächzt. Irgendwann verlasse ich das Geschäft. Der Händler ruft mir einen niedrigeren Preis hinterher. Je weiter ich mich entferne, desto drastischer sinkt dieser. Irgendwann fällt der Preis, den ich zuerst vorgeschlagen hatte. Ich drehe um, bezahle und denke: Warum nicht gleich so? Warum nicht von Anfang an – so wie es sich für eine gesunde Beziehung gehört – offen miteinander reden?
Weitere Dinge, die ich vermisse, im Schnelldurchlauf: Vernünftiges Brot findet man in Asien, wenn überhaupt, nur bei ausgewanderten deutschen Bäckern. Jeder Discount-Bäcker in Wiesbaden verkauft knusprigere Brötchen, dunklere Brote und süßere Stückchen als Asiaten. In Wiesbaden kann ich mich auf die Toilette setzen und muss nicht meinen Hintern über einem Loch im Boden balancieren. Wiesbaden begeistert mit einem tollen Kulturangebot und stilvoll eingerichtete Cafés, die von Strahlern, Kerzen und Kronleuchtern erhellt werden und nicht von grellen Neonlampen. Und dann sind da natürlich noch Freunde, Arbeitskollegen, Sportkameraden und Straßenbekanntschaften.
Wiesbaden und ich hatten eine Auszeit. Bald werden wir es wieder miteinander versuchen. In wenigen Wochen werde ich am Hauptbahnhof aus der S-Bahn steigen und die Stadt das erste Mal seit zehn Monaten umarmen. Ich habe mir vorgenommen, dass ich in Zukunft jede Ecke und Kante unserer Beziehung genießen will: die Kirchgasse genauso wie das Rheinufer oder die Wellritzstraße. Und dann, nach einiger Zeit, wird mir auffallen, was mir in Wiesbaden fehlt. Dinge, die in Hanoi, Bangkok oder Phnom Penh selbstverständlich waren. Aber das wird eine andere Geschichte und eine neue Phase unserer Beziehung. Jetzt freue ich mich erst mal auf das Ende unserer Auszeit. Ich freue mich auf meine große Liebe: Wiesbaden.