Es ist ja nicht so, dass ich es nicht schade fände. Der alte Zollspeicher am Biebricher Rheinufer, in dem sich unter anderem der Proberaum meiner Band befand, wird bald zu einer hochpreisigen Immobilie umgebaut. Vor wenigen Wochen haben die Stadtentwicklungsgesellschaft und der Investor schließlich doch noch den Kaufvertrag unterschrieben. Irgendeine Agentur hat neulich schon unsere Räume ausgemessen, wir hatten nicht mal mehr Zeit aufzuräumen. Der Umbau nimmt also irreversible Formen an. Zeit für eine finale Huldigung.
Der Zollspeicher war keine Schönheit. Die Fassade bröckelte, wie uns die Haare ausfallen, eine Gerüstkonstruktion wurde aufgestellt, um jene Spuren des Alters dezent aufzufangen. Was von außen trist, unzugänglich und beinahe abstoßend anmutete, entpuppte sich von innen als ein weißes Blatt, das dringend ausgemalt werden wollte, als Verheißung grenzenloser kreativer Entfaltung: Stockwerk um Stockwerk leere Räume, tausende Quadratmeter freie Fläche, dunkle Kellergewölbe, die meiste Zeit nur von Tauben genutzt. Neben Bandproben fanden hier Videoproduktionen, Fotoshoots, Kunstausstellungen und Theateraufführungen statt. Spätestens da merkte man, was in dem klobigen Kasten steckte.
Wenn man über mehrere Jahre hinweg in so einem Gebäude herumwerkelt, dann entwickelt sich unvermeidlich eine emotionale Bindung. Insofern war der Zollspeicher für uns das, was für manche Väter die Garagenwerkstatt ist. Deshalb fühlt sich der Zollspeicher-Umbau für mich in etwa so an, als würde mir die eigene Garage abgerissen.
Ich ärgere mich aber nicht über den Umbau. Man muss loslassen können. Ich erkenne zudem an, dass die dem Umbau tragende Entscheidung der Stadt demokratisch legitimiert ist. Aus ihr muss man schlicht folgern, dass die Wiesbadener Allgemeinheit den Umbau so wollte. Hätte sich ein Atelier oder ein Proberaum in das Konzept des Umbaus gerettet, es wäre ein Tropfen auf den heißen Stein gewesen.
Auch in Städten wie Berlin werden attraktive leerstehende Objekte aufgemöbelt. Clubs oder Aussteller müssen dann umziehen. Das ist dort nichts Besonderes. Man nennt es ja auch “Zwischennutzung”. Im Unterschied zu Wiesbaden gibt es in Berlin allerdings genug Nachschub an ungenutzten Flächen. Das ist der Nachteil an einer Stadt wie Wiesbaden, in der alles chic und stets in Benutzung ist. Wir Künstler dürfen uns darüber eigentlich nicht beschweren, wir könnten ja nach Halle oder Chemnitz um- und damit dem Leerstand entgegen ziehen. Anderenfalls ist man auf viel Geld oder politischen goodwill angewiesen, zumindest letzteres finde ich unangenehm.
Ein Leerstand fällt mir in Wiesbaden doch noch ein. Der Hochbunker gegenüber den Rhein-Main-Hallen. Einen Schönheitsfehler hat er allerdings, er ist eine Asbest-Bombe. Bis vor kurzem lagerten dort noch Unterlagen des Finanzministeriums, irgendwann kamen Männer in Schutzanzügen und holten sie heraus. Den Bunker vom Asbest zu befreien würde Millionen kosten, ich habe da mal nachgefragt. Wir Künstler können freilich nicht verlangen, dass die Allgemeinheit uns mit Steuergeldern künstlerisch nutzbaren Leerstand erkauft.
Alles halb so wild. Es gibt immer Lösungen. Ihr Wiesbadener Künstler, werdet halt mal kreativ! Meine Idee wäre, alle Bands in Wiesbaden in gesponserten Schutzanzügen im Asbestbunker proben zu lassen. Man könnte auf die Anzüge, ähnlich wie im Profi-Fußball, die offiziellen Lilien der Landeshauptstadt drucken lassen. Die Bands könnten dann in den Anzügen auftreten, für die Stadt wäre das eine hippe Marketing-Kampagne. Oder was geschieht zum Beispiel mit den Gerichtssälen nach Dienstschluss? Man könnte den nächtlichen Leerstand doch für Bandproben oder Theateraufführungen verwenden (und die besondere Atmosphäre durch das Tragen der Robentracht unterstützen). Eine andere Option wäre die nächtliche Umnutzung von Supermärkten. Das sind nur einige der vielen handfesten Lösungsansätze!
Das klingt alles zynischer, als es ist. Es ist ganz normale Trauerarbeit.
Alter Zollspeicher / Rheingaustraße 147 / 65203 Wiesbaden
Martin Mengden, 26, Musiker, Flaneur und bekennender Jungjurist, öffnet in der Rubrik „Verborgene Welten“ Türen zu Wiesbadener Sub-Welten, durch die nicht jeder auf Anhieb gehen würde.
– Foto Ben Schroeter –