Von Martin Mengden
Die Seele des Wiesbadener Bürgers, so scheint es, ist unergründlich: Was seine Identität ausmacht, was seine typischen Eigenschaften sind, ist kaum zu benennen. Um dies endlich näher herauszufinden, habe ich mich auf den Weg in die Wiesbadener Casino Gesellschaft gemacht. In ihrer Residenz in der Friedrichstraße präsentierte die Gesellschaft gerade die Ausstellung „Wiesbaden – Die nassauische Residenzstadt im Biedermeier“. Meine Idee war: Auch jede anständige Psychoanalyse nimmt sich erst einmal die Kindheit des Patienten vor, um sich der Psyche anzunähern. Und die Kindheit des Wiesbadener Bürgers liegt wohl genau in dieser Epoche des Herzogtums Nassau um die Jahre 1815 bis 1848 – die Jahre der Biedermeier-Zeit. Hier entstand das Bürgertum, jene Gesellschaftsschicht, die weniger auf Pomp und Repräsentation bedacht war als auf das häusliche Glück und die familiäre und freundschaftliche Gemütlichkeit. Ein Milieu, das die Idylle der Natur und das Heitere der Kunst suchte. Das über bestimmte Privilegien und bescheidenen Wohlstand verfügte, sich im kleineren Stil Angestellte leistete. Dem die wertebetonte Kindererziehung besonders wichtig war. Die liberalen Vertreter des Bürgertums vereinten sich auch zu einer auf Mitbestimmung und Gleichheit pochenden, durchaus zu vehementen Protesten fähigen Subkultur. Der Biedermeier-Bürger war also nicht nur Spieß-Bürger.
Während ich etwas verloren zwischen Biedermeier-Sekretär und der Adeligen-Büste stehe, fällt mir etwas auf: Viele Charakterzüge des Biedermeier-Bürgers kennzeichnen den Bürger Wiesbadens noch heute. Ihm stehen moderate Erbschaften bevor und er leistet sich oft eine ordentlich bezahlte Putzhilfe. Er lädt Freunde zum Abendessen in seine gemütlich gestaltete Altbauwohnung ein und geht danach allenfalls noch ins Ballett. Familie hat für ihn oberste Priorität. Er bringt das Kind früh zum Klavierunterricht und danach zur Tanzstunde. Mancher Sohn wird während des Studiums einen Jagdschein machen, manche Tochter das Reiten wiederentdecken.
Größere gesellschaftliche Events nimmt der Wiesbadener Bürger nur sporadisch war. Er besucht das jährliche Weinfest und den wöchentlichen Fitness-Kurs. Er genießt Spaziergänge im Kurpark und Wochenendausflüge in die Natur.
Auch heute ist der Wiesbadener Bürger in seinen politischen Anschauungen und Werten, sagen wir, mehrdimensional: Trotz genereller politischer Inaktivität positioniert er sich gegen Pegida und unterschreibt Bürgerlisten gegen den Bau des Stadtmuseums. Gleichzeitig lehnt er neue Fahrradwege und Windräder ab und spricht sich moderat gegen Veganismus aus. Er macht gerne Urlaub, liebt aber auch die Sparsamkeit. Er sucht das Heitere, Unbeschwerte in Kunst und Kultur, hat aber auch eine aggressiv-kompetitive Ader: So gut wie möglich richtet er sich in bestehenden Verhältnissen ein; er möchte auch ein schönes Stück vom Kuchen abhaben.
Das ist natürlich kein rein Wiesbadener Phänomen. Das, was seit einigen Jahren als „neue Bürgerlichkeit“ der Mainstream-Kultur beschrieben wird, existiert zum Beispiel auch im hippen Berlin. Vielleicht verstärkt sich der Wunsch nach beständiger Heimeligkeit und vertrauter Gemütlichkeit dort sogar noch – als Reaktion auf den schnelleren und unberechenbareren Puls der Bundeshauptstadt.
Trotzdem erscheint mir das Freundschaftlich-Beschauliche und Familiär-Private im Gemüt des Wiesbadener Bürgers besonders verwurzelt zu sein. Interessant finde ich an dieser Stelle die Frage nach Henne und Ei: Sind es wirklich die eingeschränkten, etwas in die Jahre gekommenen Angebote, die den Wiesbadener Bürger zu gesteigerter Privatheit bewegen? Oder folgt das Angebot hier schlicht der Nachfrage, nimmt der Wiesbadener innovative Konzepte also deshalb kaum an, weil es in seiner schönen Altbauwohnung mit Freunden einfach schöner ist? Fest steht: So etwas wie städtische Öffentlichkeit zeigt sich selten, eine wirklich vielfältige Feierkultur jenseits der Teenager-Partys ist noch immer kaum vorhanden. Kann das wirklich so gewollt sein?
Eine Sache wird frischen Wind in unsere Bürgerlichkeit bringen: Die neu gestaltete, die ganze Komplexität des Bürgergemüts verarbeitende Bar des Schlachthofs, das 60/40, hat das Potenzial, ungeahnte integrative Kräfte zu entfalten.
Beim Anblick eines anderen Exponats, einem typischen Biedermeier-Wohnzimmer, überkommt mich ein plötzlicher Schauer. Ich ahne schnell, weshalb: Dinge sind einem ja dann oft besonders unangenehm, wenn man in ihnen Eigenschaften von einem selbst erkennt, die man nicht besonders leiden kann.