Von Hendrik Jung. Fotos Kai Pelka.
Ein Blick auf Gemarkungskarten offenbart oft Überraschendes. So erstreckt sich der städtebauliche Entwicklungsbereich Ostfeld unter anderem über eine Fläche namens Unrechter Weg. „Wir sind der Meinung, dass wir vollkommen auf dem richtigen Weg sind“, betont Roland Stöcklin, Geschäftsführer der Stadtentwicklungsgesellschaft Wiesbaden (SEG). Diese ist als Treuhänderin mit der weiteren Vorbereitung und Durchführung der städtebaulichen Entwicklungsmaßnahme Ostfeld beauftragt, wobei sie an Weisungen der Landeshauptstadt gebunden ist.
Ostfeld und Westfeld im Fokus
Zwei Flächen sind insbesondere im Gespräch, wenn es um die Frage geht, wie Wiesbaden entwickelt werden soll. Das Ostfeld und die Perspektivfläche West. Während die einen im Ostfeld Wohnraum und Gewerbeflächen – und einen neuen zentralen Standort für das bisher quer durch Wiesbaden verteilte BKA – schaffen wollen und eine solche Nutzung im Westen der Stadt geprüft wird, plädieren die anderen für Naturschutz, Naherholung und Nichtversiegelung.
Das Ostfeld umfasst rund 450 Hektar Gesamtfläche östlich von Südfriedhof und Deponiegelände. Im Norden soll auf 26,5 Hektar Fläche das Bundeskriminalamt angesiedelt werden, im Süden auf 67,5 Hektar Fläche ein Wohnquartier, oder auch ein ganz neuer Stadtteil, samt der dazugehörigen Infrastruktur für bis zu 12.000 Menschen entstehen – wenn alles nach Plan läuft, bis etwa 2030. Dazu ist das Ostfeld per Satzungsbeschluss vor zwei Jahren als städtebaulicher Entwicklungsbereich festgelegt worden. Das ist laut §165 des Baugesetzbuchs unter anderem möglich, wenn das Wohl der Allgemeinheit die Durchführung der städtebaulichen Entwicklungsmaßnahme erfordert, insbesondere zur Deckung eines erhöhten Bedarfs an Wohn- und Arbeitsstätten.
Klagen gegen Vorhaben
Zurzeit liegen zwei Anträge auf Normenkontrolle dieser Satzung vor. In den Klagen wird unter anderem geltend gemacht, dass der im Gesetzestext geforderte erhöhte Bedarf an Wohn- und Arbeitsstätten nicht existiere, dass die ebenfalls notwendige zügige Durchführung der Maßnahme nicht gegeben sei und dass es nicht zulässig sei, eine städtebauliche Entwicklungsmaßnahme auf zwei getrennten und unabhängigen Stadtteilen durchzuführen. Schließlich verlaufen zwischen dem nördlichen und südlichen Teil des Ostfelds die Bundesautobahn A66 und die ICE-Strecke.
Bereits vor einem Jahr hat zudem der Landesverband des Bunds für Umwelt und Naturschutz eine Klage gegen den Beschluss der Regionalversammlung erhoben, durch den eine Abweichung gegen die Ziele des Regionalplans im Bereich der städtebaulichen Entwicklungsmaßnahme Ostfeld ermöglicht wird.
„Jeder hat die Möglichkeit Rechtsmittel einzulegen. Das ist rechtsstaatliche Normalität“, betont Oberbürgermeister Gert-Uwe Mende (SPD). Da er die Landeshauptstadt juristisch sehr gut beraten sehe, sei er in dieser Sache unaufgeregt. Die Vorbereitungen für die Entwicklung des Ostfelds gehen unterdessen ohnehin weiter – auch wenn das neue Rathaus-Bündnis aus Grünen, SPD, Linke und Volt das Thema wegen Uneinigkeit wohlweislich aus seinem Kooperationsvertrag ausgeklammert hat.
Hoffen auf Ideen, die „mitatmen“
Dafür wird gerade ein landschaftsplanerischer und städtebaulicher Wettbewerb vorbereitet – mit Blick auf den langen Zeithorizont äußerte SEG-Mann Stöcklin kürzlich bei einem Branchentreff namens „Immobilien-Dialog“ die Hoffnung auf „perfekte Ideen, die so dynamisch mitatmen können, dass sie auch im Jahr 2030 noch visionär und innovativ sind.“ Bereits in Arbeit ist eine gesamtstädtische Klimaanalyse mit einer vertieften Betrachtung des Ostfelds, die bis Ende des Jahres vorliegen soll. Diese erfolgt im Rahmen der Neuaufstellung des Flächennutzungsplans für das gesamte Stadtgebiet, mit dem Mitte 2024 gerechnet wird.
Da die Klimaanalyse in den Wettbewerb mit einfließen soll, liegen erste Ergebnisse für das Ostfeld bereits vor. Demnach werden die Entstehung und der Abfluss von Kaltluft zwar verändert und auch verringert. Die angrenzenden besiedelten Flächen seien dadurch jedoch nicht erheblich betroffen. Dies besagen Informationen, die im jährlichen Bericht zur städtebaulichen Entwicklungsmaßnahme öffentlich gemacht sind, dem auch zu entnehmen ist, dass zum jetzigen Zeitpunkt für die Entwicklung des Ostfelds mit Ausgaben in Höhe von gut 680 Millionen Euro gerechnet wird. Da die erwarteten Einnahmen geringer ausfallen, weist die Kosten- und Finanzierungsübersicht derzeit ein Minus in Höhe von mehr als 113 Millionen Euro aus.
Offene Fragen
Noch sind zahlreiche Fragen offen, etwa zum Artenschutz, dem Fluglärm oder der Hydrogeologie. In Vorbereitung ist zudem eine integrierte Verkehrsuntersuchung, die alle Verkehrsträger berücksichtigen soll. Bald mit Ergebnissen zu rechnen ist bei einer Machbarkeitsstudie zur Eisenbahnanbindung des geplanten neuen Stadtteils. Als erstes Ergebnis ist bekannt geworden, dass die Anbindung des Bundeskriminalamts im Norden des städtebaulichen Entwicklungsbereichs möglich sei. Bis zu 7.000 Mitarbeiter sollen dort nach jetzigem Stand einmal arbeiten. „Man muss davon ausgehen, dass so ein Behördenstandort Entwicklungsmöglichkeiten hat“, erläutert Mende. Einer der größten Punkte, die noch ungeklärt sind, sei die Frage wo und wie sich das Angebot an Ersatzflächen für Landwirte abbilden lasse, wenn Ackerflächen aus deren Besitz bebaut werden.
SEG-Chef setzt auf Chancen
Stöcklin könnte sich vorstellen, dass andere Areale im Ostfeld gleichzeitig zur Gewinnung von Solarstrom als auch für die Landwirtschaft genutzt werden. Dann würden die Paneele den Pflanzen Schatten spenden. Der SEG-Geschäftsführer sieht viele Chancen bei der Entwicklung einer so großen Fläche. So könne man hier Niederschlags- und Schmutzwasser getrennt ableiten und somit die Kläranlage entlasten. Er stellt sich einen Stadtteil der kurzen Wege vor, in dem nur wenig motorisierter Individualverkehr stattfindet. Wenn man bei der Bebauung Schneisen einplane, werde zudem die Kaltluft gut fließen können.
Millionen auch für die Infrastruktur
„Die Baukosten werden ein Problem sein, aber im Ostfeld werden wir durch die Skalierung günstiger bauen können, als anderswo“, hofft Stöcklin auf Mengeneffekte durch die Größe des Projekts. Dem prognostizierten Minus von gut 113 Millionen Euro werde einmal eine Infrastruktur aus Straßen, Kindertagesstätten und Schulen gegenüberstehen, die mehr Wert sein werde, als dieser Betrag.
Landwirten droht Enteignung
Kritiker sehen die Lage anders. So fragen sich Landwirte, die im Ostfeld eigene oder gepachtete Flächen bewirtschaften, wie es bei dessen Entwicklung für sie weitergehen soll. Manche Grundstückseigentümer im Ostfeld würden bei Umsetzung der städtebaulichen Entwicklungsmaßnahme enteignet, sofern sie nicht bereit sind, benötigte Flächen abzugeben. Die Familie Born hat nach eigenen Angaben 12 Euro pro m² in der Erbenheimer Gemarkung sowie 10 Euro pro m² in der Kasteler Gemarkung angeboten bekommen. „Ich kenne niemanden, der Ja gesagt hat“, berichtet Adolf Born.
Für den Familienbetrieb wäre aber vor allem der Verlust bewirtschafteter Flächen ein Problem. „Einfach darauf zu verzichten und zu sagen, wir sparen was ein, funktioniert nicht. An Ersatzflächen glaube ich nicht. Das ist utopisch, dass da was kommt“, findet Sohn Christian Born. Nicht umsonst beteiligen sich die Landwirte an einem der Anträge auf Normenkontrolle.
Kritische Aspekte von Topographie bis US Army
Zumal sie auch zu anderen Aspekten kritische Anmerkungen haben. Beginnend bei den Anforderungen, die die Topografie zwischen Kastel und Fort Biehler mit sich bringt über die Dimension der Brücke, die benötigt würde, um das Wäschbachtal zu überspannen bis hin zu den Flugbewegungen auf dem Airfield der US Army. Dazu kommen Zweifel daran, dass in der Begründung für die städtebauliche Entwicklungsmaßnahme von einer stimmigen Prognose des Bedarfs an zusätzlichen Wohneinheiten ausgegangen wird.
Mit dieser Frage intensiv auseinandergesetzt hat sich auch Philipp Pfefferkorn der Sprecher der Aktionsgemeinschaft „Erhaltet Ostfeld/Kalkofen“. Er macht geltend, dass man sich in dieser Begründung unter anderem auf eine Studie des Darmstädter Instituts Wohnen und Umwelt aus dem Jahr 2017 beruft. Seiner Einschätzung nach sei deren Ergebnis jedoch nicht einmal für das Jahr 2020 stimmig gewesen. Das Institut hatte für Wiesbaden eine Bevölkerungszahl von 290.700 prognostiziert, das in Wiesbaden ansässige Statistische Bundesamt jedoch geht lediglich von 278.609 Personen aus. Allerdings ist im statistischen Jahrbuch der Stadt Wiesbaden ein Wert von 291.160 zu finden.
Wie stark wächst Bevölkerung wirklich?
Pfefferkorn macht jedoch geltend, dass die Bevölkerungsprognose etwa des Hessischen Statistischen Landesamts für Wiesbaden für das Jahr 2040 um mehrere Tausend Personen unter der Prognose des Instituts liegt. „Ich habe nichts gegen modernes Bauen, aber wenn der Ort falsch ist, ist der Ort falsch“, erläutert Pfefferkorn. Über Wiesen-, Acker- und Brachflächen ist der Abkühlungsprozess der bodennahen Luft sehr hoch, weshalb man hier von Kaltluftentstehungsflächen spricht. Das heutige Ostfeld sieht man bei der Aktionsgemeinschaft geradezu als Klimaanlage für die Bevölkerung in Amöneburg, Biebrich, Kastel und Kostheim. Eine Wirkung, die angesichts steigender Temperaturen in Zukunft noch an Bedeutung gewinnen werde. Über Asphalt- und Betonflächen jedoch ist der Abkühlungsprozess sehr gering.
Prominente Stimme fordert Planungsstopp
Mit Andreas Steinbauer hat sich kürzlich per Interview eine prominente und gewichtige Stimme der Stadt in Sachen „Ostfeld“ zu Wort gemeldet – und einer klaren Position. Der Immobilienexperte fordert im Gespräch mit dem Portal „The Good Place“ einen Stopp der Planungen und konstatiert mit Blick kritische Punkte wie verkehrliche Anbindung, US Army-Flugrouten und ungeklärte Grunstücksfragen, „dass völliges Unverständnis herrscht, warum Millionen an Steuergeldern verbrannt werden sollen, um ein möglicherweise nie entstehendes Gebiet weiter voran zu treiben.“ In Richtung der Verantwortlichen nimmt er kein Blatt vor den Mund: „Einfach mal die Finger von Dingen lassen, die man nicht kann und auch nicht versteht.“
Widerstand auch im Westen
Die klimatischen Aspekte sind Sorgen, die auch im Westen der Stadt geteilt werden. Zwar ist noch nicht beschlossen, was mit der 125 Hektar großen „Perspektivfläche West“ zwischen Dotzheim und Schierstein passieren soll. Dennoch formiert sich hier bereits Widerstand gegen eine mögliche Bebauung. Mitte Mai haben Eigentümer und Pächter der dort befindlichen Flächen sowie Vertreter aus Politik und Gesellschaft eine Aktionsgemeinschaft gegründet mit dem Namen „Westfeld erhalten“.
„Eigentlich müsste genau das Gegenteil passieren: Entsiegeln und Aufforsten. Alles andere ist rückwärtsgewandt“, findet Christina Kahlen-Pappas, stellvertretende Ortsvorsteherin Schiersteins (Zukunft Schierstein). Fünf Aspekte stehen im Zentrum der Argumentation gegen eine mögliche Bebauung des Areals.
Fünf Argumente gegen Bebauung
Einerseits sei die Perspektivfläche in der dicht besiedelten Gegend ein wichtiges Naherholungsgebiet. Andererseits befürchte man durch die mögliche Entstehung von 3.000 zusätzlichen Wohnungen eine Verschärfung der bereits jetzt problematischen Verkehrssituation. Außerdem wäre die Suche nach Ersatzflächen für die hier ansässigen Gartenbaubetriebe nicht einfacher als für Landwirte im Ostfeld. Dazu komme der Wert des Areals als Biotop. Schließlich ist die Äskulapnatter als geschützte Tierart nachgewiesen, vermutet werden aber auch geschützte Fledermausarten wie der große Abendsegler.
„Da fehlen noch genaue Untersuchungen. Die Bedeutung als Naturraum ist noch völlig unbekannt“, bedauert Carolin Dreesmann vom Wiesbadener Kreisverband des Naturschutzbunds Deutschland Nabu. Klar sei jedoch die hohe Bedeutung für das Stadtklima. „Die Klimakarten geben her, dass hier oben nichts passieren darf“, erklärt Kahlen-Pappas. Nur wenn die Fläche unbebaut bleibe, könne die Kaltluft entstehen, die das Klima im immer stärker von Hitze betroffenen Schierstein entlasten kann. Ein Stadtteil, der bereits eine steigende Neubauquote aufweist. Von 0,8 Prozent im Jahr 2018 ist sie laut Stadtteilprofil des Wiesbadener Amts für Statistik und Stadtforschung im vergangenen Jahr auf 6,4 Prozent gestiegen.
OB verweist auf frühes Stadium
Die Aktionsgemeinschaft befürchtet zudem, dass hier drei Landespolizeibehörden angesiedelt werden sollen. „Jahrelang hat man versucht, das Gewerbegebiet Petersweg zu entwickeln. Warum hat man die Landespolizeibehörden nicht da angesiedelt?“, wundert sich Schiersteins Ortsvorsteher Urban Egert (SPD). Der Letter of Intent hierzu ist bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe jedoch erst in Vorbereitung. „Bei der Perspektivfläche West sind wir noch in einem ganz frühen Stadium. Wir haben einen Planungsauftrag der Stadtverordnetenversammlung, dem tragen wir Rechnung“, erläutert Mende. Zwar gebe es erste Vorstellungen, aber zunächst müsse die Neuaufstellung des Flächennutzungsplans für das gesamte Stadtgebiet erfolgen.
Gelassen zeigt sich denn auch zumindest der Inhaber eines der ansässigen Gartenbaubetriebe. „Ich bin relativ entspannt. Meine persönliche Einschätzung ist, dass erst mal nicht von einer Entwicklung auszugehen ist“, glaubt Stefan Huber. Die Böden, die er auf der Perspektivfläche West in vierter Generation bewirtschaftet, seien gärtnerisch gut nutzbar. Nicht umsonst wirbt der Betrieb mit dem Slogan: Aus gutem Grund.
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Ostfeld braucht kein Mensch. Maximal die, die sich dafür feiern wollen und sich die Taschen vollmachen. Gerade der Sommer hat uns gezeigt, das Schluss sein muss mit der Versiegelung wertvoller Flächen und jeder Quadratzentimeter Natur wichtiger ist als die Profitgier derer, denen das Gemeinwohl am A… vorbei geht. Wie heißt es so schön? „Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist, werdet ihr merken, dass man Geld nicht essen kann.“ Auf den Punkt! Nein zum Ostfeld!