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Zwischen Freiheit und Angst: Wie leben queere Geflüchtete in Wiesbaden?

Schaut man in gängige Gay-Apps, sieht man schnell: Auch in Wiesbaden gibt es viele geflüchtete queere Menschen aus verschiedensten Ländern. Trifft man sie auf der Straße, nimmt man oft Sorge, Angst und Verunsicherung wahr. Wie ist ihre Situation in Wiesbaden?

Alle Geflüchteten in Hessen müssen zuerst in Gießen Asyl beantragen und dann ein paar Monate warten, bis sie erfahren, in welcher hessischen Stadt sie landen.  In Deutschland können queere Menschen zwar rein rechtlich gesehen frei leben. Trotzdem fühlen sich viele auch hier in ihrem Leben eingeschränkt.

Angst in der Heimat, Sicherheit in Deutschland

Ella ist 30 Jahre alt und lesbisch. Ihr Heimatland Iran musste sie vor zwei Jahren verlassen, nach einer langen und beschwerlichen Reise erreichte sie Deutschland und lebt derzeit in Wiesbaden. Sie ist zufrieden, dass sie hierher kam, und findet, dass Wiesbaden schön, sauber und sicher ist: „Selbst um 22 Uhr fühle ich mich nicht ängstlich oder unsicher, wenn ich auf der Straße bin.“ Was sie bisher nicht in Wiesbaden gefunden hat: „Eine Bar oder eine Disco oder einen Ort, an dem sich die Homosexuellen-Community vergnügen kann“.

Deshalb fahre sie am Wochenende spät nach Frankfurt, dort fühle sie sich jedoch weniger sicher. Sie findet, auch Wiesbaden brauche eine Bar oder einen Club, der speziell auf die LGBTQ-Familie ausgerichtet ist: „Wenn wir in eine reguläre Disco, Club oder Bar gehen, werden wir oft schräg angeschaut.“ Ella wünscht sich insgesamt mehr Angebote für die Community: „Es ist wichtig, dass Homosexuelle auch Theater oder Angebote wie Tanzkurse oder Gesangsunterricht speziell für sich haben“.

Im Iran droht die Todesstrafe

Vor allem ist sie als lesbische Frau aber froh, überhaupt in Deutschland sein zu können: „Die Homosexuellen-Community im Iran hat immer Angst. Weil wir im Iran kein Recht haben zu leben und zum Tode verurteilt werden.“ Wer als LGBTQ- Person in der Öffentlichkeit angegriffen wird, kann nicht die Polizei rufen: „Die Polizei im Iran unterstützt Queere nicht, sondern verhaftet sie, und die Zukunft dieser Menschen im Iran ist nichts anderes als der Tod.“ Deutschland verdanke sie das Gefühl, dass sie auch ein Mensch sei und wie alle anderen ein Recht habe zu leben.

Persönliche Probleme bleiben

Adrian ist aus Georgien geflüchtet. Der 28-Jährige lebt seit zwei Jahren in Wiesbaden. „Ich liebe Wiesbaden, weil diese Stadt sehr schön ist“, sagt er, bemerkt aber auch: „Homosexuelle können auch hier nicht wie alle anderen Menschen einfach weiterleben, weil sie persönliche Probleme haben.“ Nach schlimmen Erfahrungen im Heimatland seien Angst und Zweifel ständige Begleiter: „Wir könnten nicht einfach die negativen Erinnerungen vergessen und glauben, dass in Deutschland alles anders als in unserem Heimatland ist.“ Gerade unter queeren Geflüchteten hätten viele Depressionen. Adrian ist dankbar für Hilfsangebote von Psychologen. Besonders schwierig sei der Alltag für viele Transmenschen. „Sie haben oft Probleme, wenn sie einkaufen oder in den Sprachunterricht gehen. Wenn Menschen sie anschauen, sind sie schockiert und reagieren schlecht auf sie“, stellt Adrian fest.

Wohltuende Regenbogenfahnen

In Wiesbaden gebe es zwar nicht allzu viele Angebote für queere Menschen, meint Adrian, aber: „Wenn ich auf einigen Straßen Regenbogenfahnen sehe, fühle ich mich sehr gut. Das bedeutet, dass Wiesbaden uns sagt, dass wir euch nicht vergessen.“

Zufällig begegnen einem feminin wirkenden schwulen Jungen. Er wohne in Frankfurt, sein Freund aber lebe hier. Sein Eindruck: Entgegen allgemeiner Meinung sei Wiesbaden eine bessere Stadt für Queere als Frankfurt. Dort gebe es Anfeindungen von Menschen, die Queere aus religiösen Gründen nicht akzeptieren. Das kenne er aus Wiesbaden nicht.

Der Umgang mit der Angst

Einige queere Flüchtlingen benennen Angst als das für sie größte Problem. Wie können Betroffene damit umgehen? Esther Fries ist Psychologin und Fachberaterin bei Quint, der Anlaufstelle für queere Menschen mit Gewalterfahrung in Rheinland-Pfalz. „Queere Menschen fühlen sich häufig nicht als gleichwertiger Teil der Gesellschaft, weil sie an vielen Stellen in ihrem Leben mit Diskriminierung und Gewalt konfrontiert sind und Ausschluss erfahren“, benennt sie Gründe, die zu Angst und Depressionen führen. In größeren Städten gebe es zwar anders als auf dem Land tendenziell mehr queere Strukturen.

„Es ergeben sich aber ebenso viele Konfliktpotenziale, weil unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Lebensrealitäten und Hintergründen aufeinandertreffen“, sagt die Expertin. Queere Menschen sollten sich, so ihr Rat, organisieren, gegenseitig empowern und, wenn möglich, auch sichtbar queer sein. Queere Vorbilder seien sehr wichtig, um queere Lebensweisen zu repräsentieren und anderen Menschen Mut zu machen.

„Rainbow Refugees“ als Zufluchtsort

Rainbow Refugees Support, gestartet als ehrenamtliche Initiative, ist seit 2018 Anlaufstelle für queere Flüchtlinge, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung ihre Heimat verlassen mussten. Max Kopp ist für die Leitung dieser Einrichtung in Wiesbaden verantwortlich. In Wiesbaden sind die Rainbow Refugees bei der Aidshilfe angedockt. Hauptaufgaben der Geflüchtetenarbeit hier seien die Asylverfahrensberatung, die Integrationsberatung sowie lebensweltorientierte Sexualberatung und Präventionsarbeit. Nach Zuerkennung von Asyl, Flüchtlingseigenschaft und/oder subsidiärem Schutz hilft der Rainbow-Refugees-Support dabei, die Hürden des Alltags im bürokratischen Dschungel zu meistern.

Kopp berichtet, dass er selbst in seinem privaten Freundes- und Bekanntenkreis viele Menschen mit Fluchterfahrung habe und somit deren Probleme und Hürden gut einschätzen könne.  Wie viele queere Flüchtlinge derzeit in Wiesbaden leben, kann der Mann aus der Praxis nicht genau sagen: „Die Zahlen sind schwer abschätzbar. In der Beratung und/oder Begleitung der Aidshilfe Wiesbaden befinden sich aktuell 48 nicht-heteronormativ lebende geflüchtete Personen.“

Die Bedarfe seien mannigfaltig. Speziell in Wiesbaden bräuchten queere Menschen in jungen Jahren mehr Angebote, vor allem gastronomischer Art. Durch die Rainbow -Refugees-Support-Treffen an jedem 2. Mittwoch und Angebote wie queere Stadtführungen, Kinoabende und einen Drag Workshop versuche man, Angebote zu schaffen. Probleme sieht Max Kopp im Hinblick auf Parallelgesellschaften: „Gerade in der Schulprävention erfahren wir aktuell wieder eine alarmierende Zunahme queerfeindlicher Aussagen religiös motivierter Natur aus strenggläubigen sozialen Systemen“, berichtet er.

„Ich danke dir, Deutschland“

Ali ist ein non-binärer 28- jähriger aus Afghanistan. Aufgrund des starken psychischen Drucks, dem er in seinem Land ausgesetzt war, hatte er nach seiner Ankunft in Deutschland mit schweren psychischen und emotionalen Problemen zu kämpfen. Nach einer langen Zeit der Psychotherapie könnte er zu sich selbst finden und auf das Leben hoffen.

Die Hilfe des „Regenbogenhauses“ und die Suche nach erfahrenen Psychologen durch Max Kopp hätten es ihm ermöglicht, zu einem normalen Leben zurückzukehren. Ali glaubt, dass er ohne die finanzielle und psychologische Hilfe der deutschen Regierung heute möglicherweise in seinem Heimatland auf den Tod warten müsste.

Mit seiner Ankunft in Wiesbaden habe sich „ein anderes Fenster“ in seinem Leben geöffnet: „Ich kann gerade nur sagen: ich danke dir Deutschland“, meint er auch mit Blick auf die Leistungen, die er hier erhält. „Aber mein besonderer Dank als schwuler Flüchtling in der Stadt Wiesbaden gilt Max Kopp. Ich weiß nicht, wie ich meine Probleme hätte lösen können, wenn ich Rainbow Refugees nicht gleich zu Beginn meiner Ankunft in Deutschland kennengelernt hätte“, blickt er zurück: „Max und seine Kollegen haben uns kontinuierlich unterstützt, das ist wirklich unglaublich. Es ist ihnen egal, welcher Flüchtling und aus welchem Land zu ihnen kommt“, zeigt er sich begeistert und dankbar: „Sie helfen ständig allen schwulen Flüchtlingen, und ich habe mit eigenen Augen gesehen, dass sie in der LGBT-Community viele Leben gerettet haben.“

Sehnsucht nach queeren Orten

Merve, eine 32-jährige Transfrau, ist aus der Türkei geflüchtet und in Wiesbaden gelandet. Sie leidet an schweren Depressionen. Mit Hilfe von Rainbow Refugees fand auch sie einen Psychologen, seither gehe es ihr viel besser. Sie fühle sich hier sicher, vermisse aber auch einen Ort, an dem queere Menschen sich treffen, austauschen und Spaß haben können. So fühle sie sich gezwungen, zu Hause zu bleiben, was ihre Depression verschlimmere.  Sie sei auch schon zum Ausgehen nach Frankfurt gefahren, habe aber dort im Hauptbahnhof schlechte Erfahrungen gemacht.

Die Sicht ändern

Zum Abschluss wollen wir von einem queeren Psychologen wissen, wie wir die Sicht der Gesellschaft auf queere Menschen ändern könnten. Der 31-jährige Christian Rölz ist psychologischer Psychotherapeut und arbeitet in Praxen in Mainz und Wiesbaden mit queeren Menschen und Geflüchteten. Sein erster Ansatz: „Ich denke, Geflüchtete brauchen einen lebendigen Austausch mit anderen Menschen. Auch viele Einheimische sind einsam – wir brauchen mehr Plattformen, um andere Menschen kennenzulernen.“  Auch als junger Deutscher sei es nicht immer einfach, queer zu sein: „Es fehlt an Modellen und Lebensentwürfen.“ Aus eigener Erfahrung in Kindheit, Familie und Schule meint er: „Eine queere Person muss sich vieles selbst erarbeiten: sich verstehen und stolz auf sich sein.“

Die Gesellschaft sieht er im Umfang mit queeren Menschen insgesamt auf einem guten Weg. Seine Vorschläge: „Andere sexuelle Orientierungen und Lebensentwürfe thematisieren. Eltern und Lehrer dafür sensibilisieren, dass sie junge Menschen Interesse und Akzeptanz entgegenbringen, so dass ein Raum dafür entsteht, sich zu outen.“  Dies zeige sich auch in der Forschung: „Man ist offener für queere Lebensweisen, wenn man queere Menschen persönlich kennt.“ Deshalb sind Vernetzung, Kontakte herstellen und eine betonte Wertschätzung seiner Meinung nach das Wichtigste.

Kreative Ideen gefragt

Auch Christian Rölz fordert auf die Frage nach der Situation in Wiesbaden mehr Orte und Veranstaltungen des Austausches, vor allem solche mit einem unverbindlichen und einfachen Einstieg: „Ich selbst hätte auch Scheu, zum Beispiel alleine zu einem bestehen Gruppenangebot zu gehen, und spreche in einer Bar auch nie fremde Menschen an.“

Er wünscht sich mehr kreative Ideen: „Tandemprogramme, Speeddating-ähnliche Formate, spannende Veranstaltungen wo Leute leicht in Kontakt kommen, Diskussionsforen.“ Der Psychologe ist überzeugt: „Leute brauchen Unterstützung, Veranstaltungen wahrzunehmen und Einstieg in ein Gespräch zu kriegen.“ Dafür brauche es auch online ein besseres Angebot: „Alle nutzen Instagram, ein Medium, wo es keine lokalen Gruppen gibt, um sich über bestimmte Themen live kennenzulernen. Das ist fatal.“

Text und Fotos: Lenie (unsere Autor:in ist eine aus dem Iran geflohene non-binäre Journalist:in. In ihrem Heimatland arbeitete sie als Fernsehjournalist:in und -moderator:in)