Von Alexander Pfeiffer. Fotos Heinrich Völkel und Andrea Diefenbach.
Im Roman einer Jungautorin aus Wiesbaden, deren Name hier ebenso unerwähnt bleiben soll wie der ihrer Heimatstadt in ihren Büchern, heißt es: „Die Stadt, in der ich aufgewachsen bin, liegt in der Nähe von Frankfurt und sieht ein bisschen so aus wie die Landschaftsplatte einer Modelleisenbahn mit Kirche, Bahnhof, Rathaus und einem Berg.“ Die Ich-Erzählerin des Romans zog es in die große weite Welt namens Amerika, die Wiesbadener Jungautorin in die große weite Welt namens Berlin.
Im Jahre 1989, als Berlin noch „drüben“ lag und die Welt von Wiesbaden aus gesehen vielleicht noch nicht ganz so ehrfurchtgebietend groß und weit wirkte, erschien Hanns-Josef Ortheils Roman „Agenten“. Darin verleben der junge Journalist Meynard und seine Clique von jungen Möchtegern-Dandys bisweilen zugedröhnt, bisweilen gelangweilt ihre Tage zwischen Geld, Karriere und Konsum. „Wir lebten in Wiesbaden“, schreibt Ortheil, „und die Stadt war gerade richtig für dieses betäubte Dasein. Früher war es die Stadt der ruhigen Mieter gewesen, jetzt aber hatten die Rentner und Pensionäre, die noch Mäntel mit schmalem Pelzbesatz trugen, längst das Nachsehen.“
Auch der Kultautor Jörg Fauser, geboren in Bad Schwalbach, aufgewachsen in Frankfurt am Main und gestorben 1987 in der Nacht seines 43. Geburtstags auf der A94 nahe München, wo er zu Fuß auf dem Standstreifen unterwegs gewesen sein soll, als ihn ein LKW erfasste, hat über Wiesbaden geschrieben. Seine Erzählung „Das Tor zum Leben“ aus dem Jahr 1982 führt ihre Hauptfigur nach Bad Schwalbach zu einer Beerdigung. Auf dem Weg dorthin kommt sie auch durch Wiesbaden: „Immer hatte er diese Stadt gehasst, die Sektvertreter und die Tennislehrerinnen, die Bonzen und den Plastikmüll einer Bohème, die genauso überholt war wie die Wilhelminischen Fassaden an den Bürgergräbern. Hier wurde das Geld gehortet, das unten aus der Ebene gewühlt und gesprengt wurde, hier wurde es vermehrt und verwaltet und vergötzt, hier auf den Höhen über der vergifteten Steppe konservierte sich der Biedermeier, und mit scheelen Blicken führten die pensionierten Kriegsverbrecher ihre Schäferhunde spazieren und achteten darauf, dass kein Kanakenkind die Anlagen besudelte und kein Anarchist die Sektfabrik in reinem Alkohol verbrannte.“
Keine allzu guten Karten
Wiesbaden scheint also keine allzu guten Karten zu haben in der Literatur. Und auch dafür, dass die Handlung von Fjodor M. Dostojewskijs erstmals 1866 erschienenem Roman „Der Spieler“ in Wiesbaden angesiedelt ist, gibt es zwar einige Belege, trotzdem wird die Stadt darin nicht einmal namentlich, sondern nur als „Roulettenburg“ erwähnt. Zumindest, dass der Autor sich 1865 in Wiesbaden aufhielt und am Roulettetisch die komplette Reisekasse verspielte, ist historisch verbürgt und bis heute in der Spielbank an einer Gedenktafel nachzulesen.
Was fällt Susanne Lewalter, der Leiterin des Wiesbadener Literaturhauses Villa Clementine, auf Anhieb zur Literaturstadt Wiesbaden ein? „Was auffällt, ist natürlich, dass es aktuell sehr viele Krimiautorinnen und Autoren in der Stadt gibt“, antwortet sie, „und dass die Stadt mittlerweile sehr stark mit dem Krimigenre assoziiert wird.“
Das Literaturhaus Villa Clementine als literarisches Zentrum der Stadt existiert seit 2002 und wird in diesem Herbst mit einigen Veranstaltungen speziell zu diesem Anlass sein zehnjähriges Jubiläum begehen. Dem prachtvollen Gebäude im klassizistischen Stil an der Kreuzung von Wilhelmstraße und Frankfurter Straße gab sein Bauherr Ernst Mayer im Jahre 1882 den Namen seiner Frau Clementine, den es bis heute trägt. Seit 1986 befindet es sich in städtischem Besitz und wird seitdem kulturell bespielt.
Literaturhaus als kommunikativer Dreh- und Angelpunkt
Seit der aufwändigen Sanierung, die 2009 abgeschlossen wurde, erstrahlt das Literaturhaus in neuem Glanz und verfügt nun auch über einen barrierefreien Zugang und ein Literaturhaus-Café, so dass es seine Funktion als Ort der Begegnung und des Gesprächs auch wirklich erfüllen kann. „Wir wollen kein literarisches Zentrum sein, das alles andere verschlingt“, sagt Susanne Lewalter, „sondern ein kommunikativer Dreh- und Angelpunkt.“
Dementsprechend öffnet das Literaturhaus seine Räumlichkeiten immer wieder für literarische Initiativen und kooperiert mit anderen Institutionen, etwa im Rahmen der Wiesbadener Poetikdozentur, die gemeinsam mit der Hochschule RheinMain veranstaltet wird, beim hr2-Hörfest oder dem goEast-Filmfestival. Dem Krimi-Schwerpunkt wird mit dem alljährlich stattfindenden Krimiherbst Rechnung getragen, sowie mit dem Wiesbadener Krimstipendium, das renommierte Krimiautoren – aktuell den Österreicher Stefan Slupetzky – jeweils für einen Monat in die Stadt bringt, die seit diesem Jahr auch als Juror für das FernsehKrimi-Festival im März fungieren. Im Herbst werden die Stipendiaten-Appartements unter dem Dach der Villa Clementine vornehmlich von Schriftstellerinnen und Schriftstellern aus Hessens Partnerregionen in Amerika, Frankreich, Italien, Litauen, Rumänien oder Tschechien bewohnt.
Dostojewskis Erben
Aber auch die heimische Literaturszene findet in der Villa Clementine ein Zuhause. Seit mittlerweile mehr als zwei Jahren existiert das regelmäßige Autorentreffen im Literaturhaus-Café, das ebenso unbescheiden wie augenzwinkernd unter dem Namen „Dostojewskis Erben“ firmiert. „Grundidee war es, ein regelmäßiges Treffen zu schaffen, an dem sich literarisch arbeitende Menschen aus Wiesbaden und erweiterter Umgebung ungezwungen austauschen können“, erzählt Gründervater Richard Lifka. Seit Dezember 2009 gibt es diese Veranstaltung regelmäßig an jedem zweiten Dienstag im Monat.
Dass auch hier das Krimigenre ganz besonders präsent ist, hat seinen Grund. „Ins Leben gerufen wurde der erste Abend von den Wiesbadener Mitgliedern des ‚Syndikats’, der Vereinigung der deutschsprachigen Krimiautoren“, erklärt die Geburtshelferin Susanne Kronenberg. „Gewünscht war aber von Anfang an, dass die Treffen jedem offen stehen sollten, der schreibt und sich der Literatur verbunden fühlt. Wenn sich daraus reizvolle Projekte ergeben, umso schöner.“ So werden im Mai zwanzig von Dostojewskis Erben unter dem Motto „Krimi DeLuxe“ nach Luxemburg reisen. Die Mission: Literarische Kontakte zu knüpfen und Deutsche Autoren in Luxemburg und Luxemburger Autoren in Deutschland bekannter zu machen.
Das Zentrum und seine Ausläufer
Natürlich ranken sich um das von Susanne Lewalter betreute literarische Zentrum diverse Ausläufer, findet Literatur in Wiesbaden auch an anderen Orten mit anderem Charakter und anderem Publikum statt. Sei es das Pariser Hoftheater mit seinem Schwerpunkt auf Kabarett und Politik, sei es die Villa Schnitzler als Veranstaltungsort der Vhs, sei es der Literaturtreff Multatuli in der Herderstraße oder auch das Kulturzentrum Schlachthof, wo seit vielen Jahren die Poetry Slam-Reihe „Where the wild words are“ stattfindet, die aus Mitteln des städtischen Literaturhaushalts gefördert wird. Oder auch die verschiedenen Buchhandlungen der Stadt.
Die älteste und traditionsreichste von ihnen ist die Buchhandlung Vaternahm an den Quellen, die seit 1935 existiert und heute von Jutta Leimbert geführt wird. „Wir waren und sind mehr als eine Bücher-Verkaufsstelle“, sagt sie. „Wir haben treue Stammkunden, die zwar selbst gut informiert sind, sich aber trotzdem gerne beraten lassen und sich über Entdeckungen freuen.“ Der Herausforderung des um sich greifenden Online-Buchhandels begegnet sie selbstbewusst: „Wir sind informiert, lesen aus Leidenschaft und lieben den Kontakt und das Gespräch mit unseren Kunden. Das unterscheidet uns vom Internet.“
Ganz ähnlich formuliert es Peter Leucht, der 24 Jahre lang mithalf, die Buchhandlung Staadt in der Langgasse zu einem Biotop des exquisiten Geschmacks zu machen und seit September 2010 unter eigenem Namen in der Wagemannstraße zu finden ist – dort, wo früher im „Alten Fass“ der Zapfhahn bis weit nach Mitternacht lief: „Die Situation des klassischen Buchhandels ist in den letzten Jahren immer schwieriger geworden. Wir reagieren darauf mit persönlich engagierter Beratung und Service – wir verkaufen nicht von der Stange, sondern nach Ansprüchen und Maß.“
Buchseiten – Buchzeiten
Wenn am 23. April wieder der „Welttag des Buches“ ausgerufen wird, dann findet das natürlich auch in Wiesbaden sein Echo – mit dem Literaturfestival „Buchseiten – Buchzeiten“, vom 13. bis zum 28. April. Worauf freut sich Susanne Lewalter in diesem Jahr denn ganz besonders? „Auf die Lesung von Andreas Martin Widman“, sagt sie. Der ist Jahrgang 1979, kommt aus Mainz-Kastel und hat einst ein Praktikum im Literaturhaus Villa Clementine absolviert. Gerade ist sein erster Roman „Die Glücksparade“ im Rowohlt-Verlag erschienen. Schauen wir mal, ob und wie Wiesbaden in seinen Büchern vor- und wegkommt.