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4-Meter-„Erdogan“ in Wiesbaden erregt die Gemüter – und wurde nun vorzeitig wieder abgebaut

Von Dirk Fellinghauer (Text und Fotos).

Schon seit der Eröffnung am letzten Donnerstag sorgt die Wiesbaden Biennale auf vielfältigste Weise mächtig für Gesprächs- und Diskussionsstoff in unserer Stadt. Ein echter Supermarkt im Staatstheater-Foyer, ein Autokino auf der Theaterbühne, dazu natürlich jede Menge Theaterstücke, Performances und Kunstaktionen. All das Bisherige war aber noch gar nichts gegen das, was seit gestern Abend „los“ ist – seit eine 4 Meter hohe, 2 Tonnen schwere Statue des türkischen Präsidenten Erdogan auf dem Platz der deutschen Einheit aufgestellt wurde, geschaffen von einem namentlich nicht „enthüllten“ Künstler aus der Schweiz. Seinem Kunstwerk war nur ein kurzer Aufenthalt in der Kurstadt vergönnt. Am späten Dienstagabend wurde die Skulptur, die eigentlich bis zum Sonntag stehen sollte, bereits wieder abgebaut.

Nachdem die Wiesbadener Stadtregierung, die von der überlebensgroßen Erdogan-Statue einigermaßen überrumpelt worden war, noch am Vormittag nach intensiver Diskussion eine klare Entscheidung für den Verbleib der Skulptur und damit für die Kunstfreiheit getroffen hatte, entschied man sich heute Abend für ein vorzeitiges Ende der Aktion. Feuerwehr und Polizei führten Abbau und Abtransport  von dem vorher ohne besondere Vorkommnisse geräumten Platz gemeinsam durch. Laut Bericht des Wiesbadener Kurier haben sich der zuständige Ordnungsdezernent Oliver Franz und OB Sven Gerich gemeinsam entschieden, einer entsprechenden Empfehlung der Landespolizei zu folgen, um weitere Eskalationen zu vermeiden. Die Rede war von Handgreiflichkeiten, Eierwürfen und auch von Stichwaffen.

Bis zum frühen Abend war rund um die Statue kräftig und streckenweise lautstark, aber friedlich diskutiert worden. Den ganzen Tag über kamen Menschen auf dem Platz der deutschen Einheit zusammen, um sich das Ganze – angelockt von Medienberichten und Diskussionen in den Sozialen Medien – anzuschauen. Sie kamen nicht nur zusammen, sondern auch miteinander ins Gespräch. Kontrovers, teilweise sehr heftig und oft äußerst emotional. Emotionen fanden auch auf der ungeschützt mitten auf der Wiese aufgestellte Statue selbst Platz. Die bronzeartige Gipsskulptur wurde mit „Fuck you“ und „Türkischer Hitler“ besprüht (und später wieder übersprüht) und mit einer Grabkerze für die Pressefreiheit „dekoriert „.

Fans, Gegner, Extremisten

Der Riesen-„Erdogan“ lockte Menschen unterschiedlichster Herkünfte, Altersklassen und Einstellungen an und brachte nicht nur Naheliegendes, sondern auch eher Abwegiges zum Vorschein: Erdogan-Fans posierten vor der Statue für Familienfotos, manche umarmten und streichelten die Gipsfigur liebevoll, Erdogan-Gegner bespuckten die Skulptur, Jugendliche zeigten ihre Özil-Trikots. Auch Extremisten wurden angelockt: Irgendwann tauchte jemand mit einem Transparent der NPD-Jugendorganisation Junge Nationalisten auf, vereinzelt posierten Anwesende unverhohlen mit dem „Wolfsgruß“ der türkischen rechtsextremen Organisation „Graue Wölfe“. Dazu gab es nicht nur Polizeipräsenz, sondern auch massive Medienpräsenz. Berichtet wurde und wird deutschlandweit und weit darüber hinaus, die „Provocative Erdogan statue“ hat es nicht nur zu ZDFs  „heute“ und „Spiegel“ (hier schreibt der Wiesbadener Autor und Journalist eine nette Glosse), sondern  bis in die Washington Post „geschafft“.

Starkes Statement der Stadt für die Kunstfreiheit – mit rasantem Verfallsdatum

Offizielle Vertreter der Landeshauptstadt Wiesbaden und auch des Landes Hessen  waren schon am Morgen vor Ort, um sich ein Bild zu machen, allen voran OB Sven Gerich. Der Wiesbadener Magistrat entschied sich nach eingehender Beratung für den Verbleib der Statue: „Der Magistrat hat sich nach ausführlicher Diskussion zur im Grundgesetz verankerten Kunstfreiheit bekannt und sieht weder eine rechtliche Grundlage noch einen derzeitigen Handlungsbedarf solange von der Kunstinstallation keine konkrete Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht“, hieß es in einer Pressemitteilung – der Eindruck einer solchen Gefahr hat sich bei den Verantwortlichen am Abend dann doch durchgesetzt, nachdem sie in der Pressemitteilung noch darauf hingewiesen hatten: „Von Anfang an sei klar gewesen, dass die Biennale unter dem Motto „Bad News“ provoziere und sehr diskussionswürdige Aktionen plane.“

Türkisches Generalkonsulat „erwartete“ Entfernung der Statue durch die Stadt

Der Protokollchef der Hessischen Staatskanzlei, Dieter Beine, schaute am Vormittag vorbei. Er wollte sich das Ganze verantwortungsgemäß vorsorglich „live“ anschauen für den Fall, dass sich der Türkische Generalkonsul melde. Ob und wie er sich persönlich meldete, ist nicht bekannt, wohl aber, dass das Türkische Generalkonsulat am Nachmittag per Facebook verlautbaren ließ: „Das Aufstellen der Statue unseres Präsidenten während der Biennale in Wiesbaden auf dem Platz der Deutschen Einheit hat keine guten Absichten und sie ist zudem provozierend. Um zu vermeiden, dass die Statue seitens radikaler Gruppierungen missbraucht wird, erwarten wir von der Stadt Wiesbaden, die Statue sobald wie möglich zu entfernen.“

Den Diskussionen vor Ort stellten sich nach einigen Stunden der „Unerreichbarkeit“ schließlich  – am Vormittag vor Ort, am Nachmittag im Festivalzentrum – auch Staatstheater Wiesbaden-Intendant Uwe Eric Laufenberg, der nicht nur den zahlreich eingetroffenen Medienvertretern Rede und Antwort stand, sondern auch sehr ausführlich vor allem mit anwesenden Jugendlichen diskutierte. Auch das Wiesbaden Biennale-Kuratorenduo Maria-Magdalena Ludewig und Martin Hammer, die schon die Nacht über nach der nicht angekündigten Enthüllung des Kunstwerks anwesend waren, kamen nochmal für Statements gegenüber der Presse vorbei. Anders als die endlos ausufernden Diskussionen in den Sozialen Medien und auch vor Ort verlief eine angekündigte Diskussion mit Laufenberg und Hammer im Biennale-Festivalzentrum äußerst knapp und ohne tiefergehende Fragen. Umso heftiger wird nun, nach einem langen Tag der Diskussionen über das Aufstellen der Statue, in die Nacht hinein wieder ganz neu und nicht weniger intensiv und kontrovers diskutiert – über den Abbau der Statue …

Die von sensor präsentierte Wiesbaden Biennale läuft noch bis Sonntag, 2. September, und hat noch weitaus mehr zu bieten als den überlebensgroßen „Erdogan“: Eindrücke hier, alle Infos auf www.wiesbaden-biennale.eu