Von Sebastian Wenzel. Fotos Arne Landwehr.
Gleich mehrere Bäche rauschen, gurgeln und sprudeln unterirdisch durch Wiesbaden. Jetzt kommen sie zurück an die Oberfläche. Das umfassende Projekt verändert das Gesicht der Stadt – und das Klima.
Wiesbaden 1885: Fäkalien schwimmen im Salzbach. Essensreste, Haare und Fett tanzen in den Wellen. Der Dreck rauscht zu den Mühlen unterhalb der Stadt. Sie verwandeln Getreide in ein tödliches Produkt: kontaminiertes Mehl. Schon bald leiden die Menschen. Ihre Körper fiebern, die Köpfe schmerzen, Zungen beschlagen. Eine Typhus-Epidemie wütet. Bürger sterben. Von der Katastrophe profitieren wir Wiesbadener indirekt bis heute. Damit sich so ein Unglück nicht wiederholt, professionalisierten die Verantwortlichen die Abwasserentsorgung. Sie gruben Kanäle, verlegten Rohre und schufen 1907 sogar ein Kulturdenkmal: den Salzbachkanal unter der Wilhelmstraße. Wiesbaden ist nicht am, sondern auf Wasser gebaut.
Unter der Stadt sprudeln 26 Thermalquellen und fließen mehrere Bäche. Das Thermalwasser ist allgegenwärtig – und das seit der Römerzeit. Es dampft im Kochbrunnen, schwappt in der Kaiser-Friedrich-Therme und plätschert aus der Schützenhofquelle. Die Bäche dagegen sind in der Innenstadt unsichtbar. Sie fließen unterirdisch. Noch. Das Projekt „Bäche ans Licht“ bringt sie zurück an die Oberfläche. Wenn alles klappt, rauscht in Zukunft durch die Albrecht-Dürer-Straße der Kesselbach, fließt durch die Bleichstraße der Wellritzbach und glitzert Bachwasser an diversen Plätzen in der Sonne. Die Vorbereitungen dafür haben bereits begonnen.
Arbeiter sanieren alte Leitungen
Momentan sanieren Arbeiter eine alte Spülleitung. Durch die Leitung aus dem 19. Jahrhundert soll in Zukunft Bachwasser fließen. „Damit das klappt, reinigen wir die alten Gussrohre und reparieren Schäden. Anschließend montieren wir einen Schlauch aus harzhaltigem Material in den Rohren. Dank der glatten Innenseiten kann das Wasser dann problemlos durch die Rohre fließen“, sagt Joachim Mengden, der Leiter des Wiesbadener Umweltamtes. Auf einigen Teilstrecken ist die Spülleitung allerdings verschwunden, zum Beispiel in der Schwalbacher Straße sowie der unteren Luisenstraße. Dort musste sie Neubauten weichen und wird nun neu verlegt. Im Herbst soll die Leitung einsatzbereit sein. Dann fließen Kessel- und Wellritzbachbach nicht wie bisher durch Abwasserleitungen, sondern durch die alte beziehungsweise dann neue Spülleitung. Diese endet im Salzbachkanal, in dem separate Leitungen für Bach- und Abwasser existieren. Die neue Spülleitung ist der erste Bauabschnitt des Projekts. Weitere werden folgen und die Bäche nach und nach – der Name verrät es schon – zurück an die Oberfläche holen. Das Vorhaben hat drei Vorteile.
Erstens: Momentan vermengt sich das Bachwasser in Mischkanälen mit Abwasser. „Ökologisch und ökonomisch ist es unbefriedigend, dass sauberes Bachwasser über Abwasserkanäle in das Klärwerk fließt und dieses belastet“, sagt Umweltdezernent Arno Goßmann. Fließt das Bachwasser in eigenen Leitungen, können es die Verantwortlichen am Klärwerk vorbeileiten. Dadurch spart die Stadt – zumindest buchhalterisch – Geld. Insgesamt stehen für „Bäche ans Licht“ etwa 4,85 Millionen Euro zur Verfügung. „Etwa 460.000 Euro zahlt die Stadt jährlich an Gebühren für die Ableitung des sauberen Bachwassers in das Klärwerk. Diese Kosten fallen mit dem Anschluss von Wellritz- und Kesselbach an den Salzbachkanal weg. Damit haben wir die Kosten in etwa in zehn Jahren wieder erwirtschaftet“, sagt Mengden.
Wohltuend beim Klimawandel
Zweitens: Die Durchschnittstemperatur in Wiesbaden ist durch den Klimawandel in den vergangenen Jahren laut Mengden deutlich gestiegen. Die Bäche sorgen in Zukunft im Sommer für Abkühlung. Die Sonne erhitzt das Wasser. Es verdunstet. „Dadurch sinken die Temperaturen in den betroffenen Straßen um ein bis zwei Grad.“
Drittens: Wiesbaden soll schöner werden. Goßman sagt: „Mit den Bächen wird das Stadtbild positiv gestaltet und aufgewertet; das ist aus stadtplanerischer Sicht eine große Chance.“
Was die Bürger sich darunter konkret vorstellen dürfen, präsentiert Mengden in seinem Büro. Er rollt Pläne auf seinem Schreibtisch aus. Darauf sind neben den Bächen auch Bänke und Bäume eingezeichnet. Daneben stehen Wörter wie Sitzstufen, Wasserfall oder Rinne. Das letzte Wort steht für die Zukunft der Bleich- und Albrecht-Dürer-Straße. Hier sprudelt das Bachwasser laut den Plänen demnächst durch Rinnen. Das Umweltamt wollte das kühle Nass eventuell auch durch die Rheinstraße leiten. Doch der Vorschlag hat dem Denkmalamt laut Mengden nicht gefallen. Wiesbaden ist eine Stadt des Historismus. Früher flossen keine Bäche durch die Rheinstraße, also muss das auch in Zukunft so bleiben.
Fragen über Fragen und Puppe als Testobjekt
Die Rinnen in der Bleich- und Albrecht-Dürer-Straße sind zwischen vierzig und fünfzig Zentimetern breit und etwa zwanzig Zentimeter tief. Mengden und seine Mitarbeiter haben über sie viel nachgedacht. Was passiert etwa im Winter, wenn Räumfahrzeuge Schnee auf die Rinnen schieben? Um diese Frage zu beantworten, ist Mengden nach Freiburg gefahren. Dort fließt das Bächle durch eine ähnliche Rinne. Die Erfahrung aus Baden-Württemberg zeigt: Auch unter Schneemassen fließt das Wasser. Apropos fließen: Wie sorgt man dafür, dass das Wasser nicht nur fließt, sondern tanzt, hopst und sich kräuselt? Um das herauszufinden, haben Stunden der Hochschule RheinMain eine Musterrine gebaut. Ihr Ergebnis: Wird der Rinnenboden uneben gestaltet, kräuselt sich das Wasser. Die Studenten stellten auch eine Puppe in die Rinne. So konnten sie messen, wie schnell das Wasser höchstens fließen darf, damit einem Menschen nichts passiert. „Wenn der Wasserpegel steigt, erhöht sich die Fließgeschwindigkeit. Bei 70 Litern pro Sekunde kann ein Kleinkind in der Bachrinne nicht mehr stehen. In Wiesbaden fließt das Wasser deshalb maximal mit 25 Litern pro Sekunde“, sagt Mengden. Außerdem können Ventile in den Zuläufen geöffnet oder geschlossen werden. So lässt sich die Wassermenge in den Rinnen regulieren – oder das Wasser ganz abstellen.
Weitere Grübelfaktoren waren der Sedanplatz, das Bülowplätzchen, der Blücherplatz und der Platz der Deutschen Einheit. An diesen Stellen soll das Wasser in Zukunft ebenfalls oberirdisch sprudeln. Auf den Plänen des Blücherplatzes stehen die Worte Wasserrad und Regattastrecke. „Ob dort in Zukunft wirklich Papierboote um die Wette segeln, steht noch nicht fest“, sagt Mengden. Weiter ist dagegen die Planung für den Platz der Deutschen Einheit. Hier soll sich das Wasser spätestens Ende 2014 durch ein Bachbett schlängeln. „Wir sind im Zeitplan“, sagt Mengden. Die anderen Plätze folgen dann nach und nach. Wenn alles klappt, ist das Projekt 2018 abgeschlossen. Dann ist Wiesbaden nicht mehr nur auf, sondern auch wieder ein Stück mehr am Wasser gebaut.
Wasserstadt zwischen Kochbrunnenseife und Kanalführung:
Behindert: Die Umsetzung des Projekts „Bäche ans Licht“ behindert immer wieder den Verkehr. Aktuelle Baustelleninformationen finden Betroffene unter www.wiesbaden.de/leben-in-wiesbaden/umwelt/wasser/baustellen.php.
Bewundert: Sieben Meter unter der Wilhelmstraße liegt seit 1907 ein besonderes Bauwerk: der Salzbachkanal. Der begehbare Kanal galt schon in der Kaiserzeit als Touristen-Attraktion. Heute ist er für die Öffentlichkeit gesperrt. Meistens jedenfalls. Nicht jedoch am 6. September, dem Tag des offenen Kanals. Mehr dazu unter www.elw.de/aktionen.html.
Belesen: In der neuen Mauritius-Mediathek stehen einige Bücher zum Thema, zum Beispiel „Vom Römerbad zur Weltkulturstadt“, „Der Schatz aus der Tiefe – Ein Spaziergang zu den Thermalquellen in Wiesbaden“ oder „Wasser von Taunus, Rhein und Ried. Aus zwei Jahrtausenden Wiesbadener Wasserversorgung“.
Bewandert: Es gibt regelmäßig Führungen zu den heißen Quellen. Die nächsten Quellenrundgänge im Innenstadtbereich finden sonntags am 6. Juli um 14 Uhr sowie am 31. August um 10.30 Uhr statt. Unter www.wiesbaden.de/tourismus/themen-touren und in der Tourist-Info gibt es außerdem mehr Informationen sowie die Termine weiterer Rundgänge, zum Beispiel „Wiesbaden – die Bade- und Luxusstadt des 19. Jahrhunderts“.
Beliebt: Das Produkt war 1879 ein Wiesbadener Exportschlager: Es war berühmt wegen seines weichen Schaums. Frauen liebten den unvergleichlichen Duft und angeblich besaß es sogar medizinische Wirkung: die Kochbrunnenseife. Auf Initiative der Stabsstelle „Weltkulturerbe“ im Rathaus wurden einige Seifenstücke in einer kleinen Manufaktur neu hergestellt – mit Original-Kochbrunnenwasser und in der gleichen Verpackung wie vor fast 130 Jahren.
Zeitreise zu den alten Römern
Die Geologen sind sich sicher: Seit mindestens 200.000 Jahren sprudelt in Wiesbaden Mineralwasser aus den Thermalquellen. Schon die Römer genossen das warme Nass. Später besuchten deswegen Dichter und Denker sowie Herzöge und Hoheiten die Stadt.
Was heute in den Thermalbädern passiert, kann jeder leicht selbst herausfinden. Was früher passierte, jedoch nicht. Deshalb lassen wir an dieser Stelle den Philosophen Seneca zu Wort kommen. Er beschrieb um die Mitte des ersten Jahrhunderts die Thermen von Bajae bei Nepal, in denen es nicht anders zugegangen sein wird als in den Bädern von Wiesbaden:
„Von allen Seiten umtönt mich wirrer Lärm, denn ich wohne über dem Bade. Stelle dir alle Arten von Tönen vor, die es einen bedauern lassen, dass man Ohren hat. Wenn die Kräftigeren ihre Leibesübungen treiben und dabei ihre Hanteln schwingen, wenn sie sich abarbeiten oder auch bloß so tun, dann höre ich ihr Stöhnen und, sobald sie dem angehaltenen Atem wieder seinen Lauf lassen, ihr Zischen und heftiges Keuchen. Wenn sich jemand salben lässt, so höre ich das Klatschen der Hand des Masseurs auf den Schultern, das einen verschiedenen Ton gibt, je nachdem ob der Schlag mit der flachen Hand oder dem Handrücken gegeben wird. Kommt dann gar noch ein Ballspieler hinzu, der zählt, wie oft er den Ball abprallen lässt, dann ist es ganz aus. Nimm nun noch einen Streitsüchtigen hinzu, einen ertappten Dieb und einen, Schwätzer, der seine Freude daran hat, sich selbst zu hören, nimm ferner noch die hinzu die, die unter lautem Klatschen ins Schwimmbecken springen. […] Endlich das Plärren der Straßenhändler, die Kuchen, andere, die Würste und Pasteten anpreisen, und der Kellner, die mit lauter Stimme ihre Getränke an den Mann zu bringen versuchen, dann hast Du einen Eindruck davon, wie es im Bade zugeht.“