Von Dirk Fellinghauer (Text und Fotos).
Über den Sinn und Unsinn von Videoüberwachung im öffentlichen Raum lässt sich trefflich streiten, da kann man durchaus unterschiedliche Ansichten haben. Dass eine Videoüberwachung im Kulturpark Wiesbaden mindestens überflüssig, wenn nicht gar kontraproduktiv ist, dieser Meinung dürften die meisten sein, die den Kulturpark kennen, frequentieren, nutzen und in seiner – auch was Sicherheitsgefühl und friedliches Miteinander angeht – Einzigartigkeit schätzen. Auch hier darf man natürlich anderer Meinung sein, auch hier gibt es auch durchaus andere Meinungen. Dass man an diesem – auch in der Kommunikation aller Beteiligten untereinander – sehr besonderen und bemerkenswerten Ort in Sachen Videoüberwachung Tatsachen schafft, ist gelinde gesagt schwer nachvollziehbar. Genau dies hat Wiesbadens Ordnungsdezernent, Bürgermeister Dr. Oliver Franz, getan. Und erntet dafür einen Sturm der Entrüstung. Diverse Beteiligte und Beobachter fragen sich: „Was hat Dr. Franz nur geritten?“.
Ganz unabhängig von der Frage, ob Videoüberwachung im Kulturpark – insgesamt stehen dort nun an unterschiedlichsten Ecken und Enden sechs Masten, fünf davon neu errichtet, mit 16 Kameras – angemessen oder gerechtfertigt ist oder eben nicht: Es ist vor allen Dingen das Vorgehen von Ordnungsdezernent Dr. Oliver Franz, oder besser gesagt das Übergehen aller Beteiligten, das wahlweise für Entrüstung, Fassungslosigkeit und Unverständnis sorgt – bei Anliegern wie Kreativfabrik, die ihren Protest öffentlich gemacht hat, und Schlachthof, bei Rathaus-Politikern unterschiedlicher Fraktionen und auch im Kulturbeirat, der das Thema in seiner letzten Sitzung auf Initiative von Sebastian Schäfer intensiv diskutierte. Ergebnis war die Verabschiedung einer Stellungnahme und die Einladung von Dr. Franz zur nächsten Sitzung des Gremiums.
Am heutigen Mittwoch aber wird sich der Ordnungsdezernent zunächst nochmal im Rathaus der Diskussion stellen müssen. In der Sitzung des Haupt- und Finanzausschusses (17 Uhr im Stadtverordnetensitzungssaal) wird er, gemeinsam mit Wiesbadens Polizeipräsident Stefan Müller, Rede und Antwort stehen. „Ein Freizeitzentrum für Jugendliche durch eine solche Überwachungsanlage zum Kriminalitätsschwerpunkt zu stigmatisieren, ist fatal“, hatte der Linke & Piraten-Fraktionsvorsitzende und kulturpolitische Sprecher Hartmut Bohrer in der letzten Ausschusssitzung kritisiert. Ihr Antrag, die Videoüberwachungsanlagen umgehend abzubauen, wurde von der Ausschussmehrheit abgelehnt. Die Fraktionsvorsitzenden Hendrik Schmehl (SPD) und Christiane Hinninger (Grüne) hatten sich aber ebenfalls kritisch geäußert, dass die Stadtverordneten in dieser Angelegenheit vor vollendete Tatsachen gestellt werden.
„Videoüberwachung schädigt Freiraum-Projekt Kulturpark nachhaltig“
Genau dies hatte die von den neuen Kameras massiv betroffene Kreativfabrik gefordert: „Wir fordern Sie auf, die im Bereich Kreativfabrik aufgebauten Kameras sowie alle anderen Kameras mit Sichtachse auf den Kulturpark unverzüglich abzubauen“, hatte der 1. Vorsitzende des Vereins, Janne Muth, in einem Anfang April versandten dreiseitigen Schreiben an Dr. Franz gefordert. „Mit den installierten Kameras missachten Sie das erfolgreiche und von allen Beteiligten befürwortete Sicherheitskonzept“, schreibt Muth: „Das Freiraum-Projekt Kulturpark und unsere Vereinsarbeit beschädigen Sie mit der Videoüberwachung nachhaltig“. Über die „neue Gangart“ sei man „verwundert und offen verärgert“, heißt es in dem Schreiben: „Wir sind kein Kriminalitätsschwerpunkt.“ Vielmehr wolle man durch ein gutes soziales Klima gemeinsam Straftaten verhindern: „Und das gelingt uns auch“.
Sicherheitsrunde wurde komplett übergangen
Mit den erwähnten „allen Beteiligten“ bezieht sich Muth auf eine regelmäßig tagende Sicherheitsrunde, die das seit 2010 von einer Vielzahl von Akteuren getragen, bundesweit Beachtung findende Sicherheitskonzept für den Kulturpark evaluiert. Teilnehmer dieser Sicherheitsrunde sind unter andrem Ordnungsamt, Bundespolizei, Landespolizei, das (von Dr. Franz geleitete) Dezernat II, Kulturamt, Grünflächenamt, Amt für soziale Arbeit (Kultur im Park), Projekt Halt!, Suchthilfezentrum, Kulturzentrum Schlachthof, Kreativfabrik, Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung. Dem Vernehmen nach wurde und war niemand aus dieser Runde über die Installation und Inbetriebnahme der Überwachungskameras informiert, geschweige denn in Entscheidungsprozesse involviert.
Kriminalitätszahlen sinken kontinuierlich
Auch sei in der Runde eine mögliche Verschärfung der Situation auf dem Gelände, die einen neuen Weg erfordern würde, nicht thematisiert worden. „Im Gegenteil verlieren die Ordnungsbehörden hier nur positive Worte über die Entwicklungen im Kulturpark“, betont Muth: „Kontinuierlich sinkende Kriminalitätszahlen im Kulturpark lassen überhaupt keinen Raum für die Idee von Überwachung.“ Bei einer so einschneidenden Maßnahme hätte Franz sich mit den Macher*innen des Kulturparks auseinandersetzen müssen, zeigt sich Muth – und mit ihm viele andere Betroffene und Beteiligte – enttäuscht und verständnislos.
Ordnungsdezernent verteidigt Videoüberwachung
Der kritisierte Bürgermeister reagierte am 17. April mit einem Antwortschreiben. Darin beruft er sich auf einen Beschluss der Stadtverordnetenversammlung aus dem Jahr 2017: „Damals wurde entschieden, die an öffentlichen Plätzen vorhandene, jedoch teilweise nicht mehr einsatzfähige Videoschutzanlage zu modernisieren und einen Ausbau an weiteren, aus poizeifachlicher Sicht sinnvollen Plätzen, zu prüfen“, so Franz. Im Zuge einer „mehrjährigen Planungs- und Umsetzungsphase“ seitens der Stadtverwaltung und Landespolizei sei „der Kulturpark bzw. der Weg zwischen Schlachthof und Hauptbahnhof als Kriminalitätsschwerpunkt ausgemacht und dementsprechend in die Standortplanung der Behörden mit aufgenommen“ worden. Als relevante Kriterien nennt Franz „eine insgesamt für Straftaten günstige Tatumgebung, ein geringes Entdeckungsrisiko und die trotz aller Maßnahmen noch immer vergleichsweise große Anzahl festgestellter Delikte (insbesondere in Bezug auf Konsum und Handel von Betäubungsmitteln).“
„Sinnvolle Ergänzung bestehender Maßnahmen“
In engem Austausch mit Datenschutzbeauftragten habe man versucht, „eine für alle Seiten verträgliche Lösung zu erarbeiten“, beschwichtigt der Dezernent und befindet: „Mit der neuen Videoschutzanlage, also einer Fokussierung auf wenige, dafür stark frequentierte und polizeilich sinnvolle Standorte, ist uns dies auch sehr gut gelungen.“ Wohlgemerkt würden nicht die Erfolge in Frage gestellt, welche – Franz spricht von „wir“ – durch die Umsetzung des Sicherheitskonzepts „Kultur im Park“ erzielt worden seien. Er bestätigt sogar, dass in den letzten Jahren ein Rückgang an Straftaten in dem Bereich festzustellen sei.
Und verteidigt „die neue Videoschutzanlage“ dennoch als „sinnvolle Ergänzung der bisherigen Maßnahmen“ – „mit dem Ziel, die Straftaten in dem Bereich möglichst noch weiter zu reduzieren oder in Zukunft gar komplett zu verhindern.“ Das klingt ein wenig, wie wenn Eltern ihrem Kind, das stolz mit einer 1 in der schwierigsten Klassenarbeit nach Hause kommt, nichts Besseres zu erwidern wissen als den Vorwurf: „Und eine 1+ hast du nicht hingekriegt?“ Wiesbaden folge „dem erfolgreichen Beispiel vieler anderer Städte“ (die nicht näher benannt werden), „die mit dem Aufbau einer Videoschutzanlage mehr Sicherheit im öffentlichen Raum erreichen konnten.“ Und so lautet dann auch der Schlusssatz des Franz-Schreibens: „Aus all diesen Gründen ist der von Ihnen geforderte Abbau der Masten, samt Technik für die Stadtverwaltung keine Option.“
Kulturbeirat fordert Offenheit und Transparenz von der Stadt
Der Wiesbadener Kulturbeirat beschloss in seiner letzten Sitzung eine Stellungnahme, die bewusst nicht den Abbau der Masten fordert, auch wenn es hierzu deutliche Diskussionsbeiträge gab. Stattdessen konzentriert man sich in dem Gremium auf das Vorgehen. „Der Kulturbeirat kritisiert vehement, dass die Planung und Errichtung der Videoüberwachung nicht mit den kulturellen Akteuren vor Ort erörtert und abgestimmt wurde. Er betont, dass ein solches Vorgehen über die Köpfe der Anrainer hinweg nicht einem angemessen und wertschätzenden Miteinander in einer Stadt entspricht“, heißt es in der Stellungnahme. Auch für den Kulturbeirat ist es „nicht nachvollziehbar, warum die seit vielen Jahren bewährte und regelmäßig tagende Sicherheitsrunde zur Betreuung des bestehenden sozialpädagogischen Sicherheitskonzeptes nicht im Vorfeld eingebunden wurde“
Der Kulturbeirat erwartet, „dass die Stadt Wiesbaden die Akteure vor Ort offen und transparent über die weitere Entwicklung der Videoüberwachung informiert, bei Änderungen des Überwachungskonzepts einbezieht und regelmäßig über die gewonnenen Erkenntnisse unterrichtet“. Dass der Kultur(!)beirat sich in dieser Form zum Thema Kultur(!)park zu Wort meldet, entzürnt nun den Ordnungsdezernenten. „Ich wundere mich, dass sich der Kulturbeirat anmaßt, polizeiliche Maßnahmen zu bewerten“, wird Dr. Franz im Wiesbadener Kurier zitiert. Aber genau die polizeilichen Maßnahmen hat der Kulturbeirat ja explizit nicht bewertet.
„Die Polizei ist begeistert“
Bei der Einschätzung der Lage kann auch die Wieder-Lektüre des sensor-Interviews mit Dietmar Krah, der als „Kultur im Park“-Koordinator im Auftrag des städtischen Amtes für soziale Arbeit ganz nah dran am Geschehen ist, aus dem Jahr 2017 hilfreich sein: „Wo viele gut gelaunte Menschen zusammenkommen, passiert nicht viel. Die Polizei ist begeistert“, sagte er damals zu der Frage, dass der Kulturpark für manche immer noch als „No Go-Zone“ gelte: „Die Streifen kommen oft bei uns vorbei, um sich hier ein wenig vom Mauritiusplatz zu erholen“, berichtete er über das nach dem tragischen Tod des 18-jährigen Fabian Senft als unmittelbare Reaktion darauf „friedlich wiederbelebte“ Gelände, das sich mit seinem breiten Angebot als Ort für ganz unterschiedliche Besuchergruppen, darunter auch junge Familien, entwickelt habe: „Wenn wir vor Ort sind, hissen wir unsere Fahne – als Zeichen an das Publikum, das wir da sind, aber auch für die Polizei. Die muss dann gar nicht aussteigen, wenn sie hier Streife fährt. Es gibt auch eine starke soziale Kontrolle. Das Gelände ist praktisch von 8 Uhr morgens, wenn die ersten Schlachthof-Mitarbeiter ins Büro gehen, bis in die Nacht hinein unter Aufsicht. Wir bekommen überall sehr positive Resonanz.“
Hintergrund Videoüberwachung in Wiesbaden:
Am 21. Januar 2020 hatte das Dezernat des Bürgermeisters auf sensor-Anfrage folgende Auskünfte zum Thema Videoüberwachung gegeben:
„In Wiesbaden werden derzeit an 17 Standorten Videoüberwachungsanlagen des Systems Panomera installiert. Dies betrifft die Bereiche Platz der Deutschen Einheit, Hauptbahnhof und den Zugangsbereich Kulturpark Schlachthof. Die Inbetriebnahme erfolgt nach aktueller Planung im Laufe des Monats März 2020.
Voraussetzung für die Einrichtung einer Videoüberwachung ist nach § 14 Abs. 4 Nr. 1 HSOG, dass an den zu überwachenden Orten wiederholt Straftaten (z. B. Körperverletzung, Raubdelikte, Verstöße Betäubungsmittelgesetz) begangen worden sind und dass tatsächliche Anhaltspunkte für die Begehung weiterer gleicher Straftaten bestehen. Dazu gehören laut der Polizeilichen Kriminalitätsstatistik die genannten Örtlichkeiten.
Weitere Videoüberwachungsanlagen der Stadt Wiesbaden sind uns nicht bekannt. Zusätzliche Videoüberwachungsanlagen werden nur am Platz der Deutschen Einheit und im Zugangsbereich Kulturpark Schlachthof errichtet. Bei der Anlage am Hauptbahnhof handelt es sich um einen Austausch, Modernisierung und Erweiterung der bestehenden Anlage. Derzeit sind keine weiteren Standorte für Videoüberwachungsanlagen geplant.“
Impressionen aus dem Kulturpark
was für eine schande für die Kultur Wiesbaden. diese auch noch durch Überwachung zu zerstören.
Wiesbaden ist echt nichts für freiliebende und offene menschen, sondern für rückwärtsgerichtete konservative.
Erste Kameras wurde gestern aufgrund einer erfolgreichen Beschwerde beim Verwaltungsgericht umhüllt. Die Folie ist nicht goldfarbend.
Wir müssen uns stark machen und einsetzen für einen offenen Umgang statt Überwachung.
„Wiesbaden #änderbar“, leider in ganz kleinen Schritten.