Fast auf den Tag genau 410 Jahre nach der Uraufführung im Palace of Whitehall in London katapultiert das Wiesbadener Walhalla-Theater Shakespeares „Othello“ ins Hier und Jetzt – nicht als ehrfurchtsvoll-werktreues Wiederkäuen eines alten Vier-Stunden-Schinkens, sondern ganz unverkrampft als knackiges, fesselndes und bei allem Tiefgang unterhaltsames 45-Minuten-Happening. „Ich liebe zum Beispiel Michael Jackson, frei nach Shakespeares Othello“ heißt die Eigenproduktion, die Regisseurin Sigrid Skoetz mit fantastischen Darstellern und einer hervorragenden Liveband auf die Bühne bringt, die eigentlich gar nicht existiert.
Die eigentliche Bühne ist längst besetzt, als das Schauspiel schließlich beginnt. Dort nämlich spielt schon, bevor die Tragödie ihren Lauf nimmt, die Iguana Band, die so außergewöhnlich ist wie der ganze Abend. Irgendwann beginnen Menschen zu tanzen, und schnell weiß man nicht mehr, wer hier jetzt Darsteller und wer einfach nur Gast ist, was inszeniert ist und was sich zufällig und spontan ergibt. Dieses Spiel mit dem Spiel macht einen, aber nicht den einzigen Reiz dieses Abends aus, der so ganz anders ist als konventionelles und klassisches Theater. Die Walhalla-Eigenproduktion wurde ja schon im Vorfeld als Happening angekündigt und ist auch genau dies, ohne „echtes“ Theater zu verleugnen. Das Publikum verfolgte das Geschehen höchstkonzentriert und sehr gebannt und war hier und da irritiert. Genau dies war gewollt.
Der Abend ist angelegt als die Hochzeitsfeier von Othello (Nadim Jarrar) und Desdemona (Salome Dastmalchi), die im ganzen Raum des Spiegelsaals und vor allem unter dem – ein Segen, wenn ein Theater schon von sich aus eine Kulisse hergibt, die kaum ein Bühnenbildner der Welt so erschaffen könnte – imposanten Kronleuchter agieren und spielen. Die sich lieben und streiten und töten und auf dem Weg vom verliebten Traumpaar zum tragischen Todespaar die Klaviatur der Gefühle zwischen Romantik, Eifersucht, Aggression und Hass, zwischen Gesäusel und Geschrei und zwischen verliebten Blicken und wutentbrannt umhergeschmissenen Tischen, Stühlen und Blumenvasen höchst authentisch und fesselnd verkörpern. Thomas Handzel, der noch am Eingang gemeinsam mit Andreas August Michael-Jackson-Songs sehr außergewöhnlich interpretierte, ist als intriganter Jago der verhängnisvolle Dritte im Bunde, hinzu gesellen sich diverse Statisten, oder ist es doch einfach nur das Publikum?
Die Inszenierung überzeugt auch durch die im Raum entstehende Atmosphäre und verdichtet den Stoff, aus dem viele dröge Theaterabende sind, ohne falschen Respekt auf einen rasanten Parforceritt der Emotionen und schafft es auf wundersame Weise, bei aller Verknappung das eigentliche Drama noch um aktuelle Bezüge und Referenzen von Hans Söllners „Neger“-Song bis zu einem „fröhlichen“ Ebola-Lied anzureichern. Fragt sich noch, was das alles nun mit Michael Jackson zu tun hat? Eine ganze Menge, manch Offensichtliches und einiges Subtiles. Wer es genau wissen will, sollte sich dieses Stück anschauen, für das alle Beteiligten ein große Bravo verdient haben.
Weitere Aufführung heute 20 Uhr im Walhalla Theater sowie geplant im Frühjahr 2015.
(Text/Fotos Dirk Fellinghauer)