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Das große 2×5-Interview: Manuel Wüst, 30 Jahre, 1. Vorsitzender „Warmes Wiesbaden“, Mitorganisator CSD

Interview Dirk Fellinghauer. Foto Arne Landwehr.

(EHREN-)AMT

In der Selbstbeschreibung eures Vereins „Warmes Wiesbaden“ steht: „Seit 2011 setzen wir uns unermüdlich dafür ein, dass Wiesbaden zu einer Heimat für homo-, bi-, trans*- und intersexuelle Personen sowie Transgender und Regenbogenfamilien wird.“ Ist Wiesbaden bisher für diese Personen keine Heimat?

Heimat ist eigentlich etwas, wo man sich wohlfühlt, wo man gerne ankommt. Ich will Wiesbaden nicht davon ausschließen, dass Menschen sich hier als in ihrer Heimat fühlen. Aber für den Kreis der Personen, die hier genannt werden, ist es immer schwer, sich völlig losgelöst von allen Anspannungen entspannt in einer Heimat zu fühlen. Wir arbeiten daran, dass das – nicht nur, aber auch in Wiesbaden – noch besser wird.

Was habt ihr seit 2011 erreicht, wo kommt ihr nicht oder nur schwer weiter?

Ich glaube, wir haben für die komplette Szene eine neue Motivation erreicht. Man hatte nach vielen Jahrzehnten, wo man extrem hart und intensiv gekämpft hat, sicher gewisse Punkte erreicht. Die Szene war dann, wie überall in Deutschland, ein bisschen eingeschlafen. Jetzt ist ein neuer Schwung reingekommen. Man sieht das an neuen Lokalitäten, die aufmachen, an neuen Formaten, die aufkommen, an einem CSD, der wiederbelebt wurde. Wir sind jetzt in der Stadtpolitik verankert, in Gesprächen mit allen möglichen Parteien, haben einen runden Tisch, der regelmäßig versucht, den Kontakt zur Stadt aufrechtzuerhalten. Wir haben bisher aus allen Parteien, die im Stadtparlament Fraktionen bilden, positive Signale bekommen, dass es im nächsten Haushalt auch eine Koordinierungsstelle geben kann, die sich, vergleichbar etwa zu einer Frauenbeauftragen, um die Belange von LGBT (Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender) kümmert.

Gibt es auch Rückschritte?

In Wiesbaden nicht, generell ja. In der Bundespolitik, in der eigentlich bis vor einigen Jahren viel vorwärts ging, herrschen jetzt kleine aber laute Gruppen vor, die in eine ganz andere Richtung wollen und so zumindest insgesamt die großen Parteien aufhalten. Es geht vielleicht nicht zurück, aber es wird ausgebremst – etwa bei der Öffnung der Ehe. Gesellschaftlich machen wir Rückschritte, weil es gesellschaftsfähig wird, Menschen, egal aus welchen Gründen, wieder offen auf der Straße zu diskriminieren.

Die Arbeit nach außen ist das eine. Wie ist das Klima innerhalb der Wiesbadener Szene?

Sehr offen, sehr vielfältig. Wir achten auch immer mehr darauf, dass man auch untereinander füreinander einsteht, dass also nicht die Schwulen und die Lesben und wer auch immer ihr eigenes Süppchen kochen, sondern dass man gemeinsam an den eigentlich gleichen Zielen arbeitet.Das zeigt sich auch mit dem CSD in den letzten Jahren. Es kommt immer mehr zusammen. Nicht mehr nur Vereine, auch verschiedene Institutionen, Bars und andere.  Wir haben ein riesiges Rahmenprogramm, das wir nie alleine stemmen könnten. Es gibt immer mehr Zusammenhalt. Auch über die Generationen hinweg.

Es gibt unzählige CSDs in ganz Deutschland und in der ganzen Welt. Was zeichnet speziell den Wiesbadener Christopher Street Day aus?

Er ist klein, aber fein. Wir sind nicht riesig aufgestellt und haben keine Riesenbudgets. Das machen wir mit klaren Aussagen, klaren Forderungen nicht nur wett, sondern setzen ganz eigene Akzente. In den letzten Jahren sind wir damit auch mehrfach bundesweit  aufgefallen, sei es zur Bildungspolitik oder anderen Themen. Und wir haben, auch das ist wohl bundesweit einzigartig, nicht den einen Schirmherrn, sondern wir haben fünf Schirmherren und -frauen, die aus der Wiesbadener Stadtgesellschaft kommen. Menschen wie du und ich, die sich für uns aussprechen, ohne unbedingt aus der Szene zu kommen. Darunter ist diesmal, was ich persönlich sehr schön finde, der Wiesbaden Marketing- und Kurhaus-Chef Martin Michel, der ja ein bisschen was einstecken musste, als die sogenannte „Demo für alle“ im Kurhaus tagte. Er hat sofort zugesagt hat, als ich ihn gefragt habe und wollte da auch ein klares Zeichen setzen.

MENSCH

Was motiviert dich ganz persönlich?

Mich motiviert, dass es für Menschen, die nicht der Norm entsprechen und die nicht zu den 80 Prozent gehören, die einfach so rausgehen können und sich keine Gedanken machen müssen, dass es für die leichter und normaler wird, einfach auf die Straße zu gehen wie die anderen 80 Prozent.

Bist du ein Kämpfertyp?

Geworden, ja, über die letzten Jahre. Ich war das sehr lange nicht, habe aber irgendwann gemerkt: Man muss etwas tun, damit sich was verändert. Es bringt nichts, wenn man zuhause abwartet und darauf hofft, dass schon alles irgendwie gutgeht. Das sehen wir auch in den letzten Jahren. Wenn Demokratie zur Selbstverständlichkeit wird, dann läuft sie Gefahr, angegriffen zu werden. Wir haben das eine Zeitlang zu selbstverständlich hingenommen, dass es immer besser wird, auch in der Szene. Da kam die Lebenspartnerschaft, dann hat man gedacht, dann kommt auch bald die Öffnung der Ehe, und dann sind auch die Transsexuellen gleichgestellt – in dem Moment, wo man das geglaubt hat, hat es sich verlangsamt.

Du bist auch Musiker.

Ich bin eigentlich Musiker, Querflötist. Ich habe zwei Studien abgeschlossen an der Wiesbadener Musikakademie: Instrumentalpädagoge und Orchestermusiker. Und dann habe ich gedacht, ich will auch noch Geld verdienen (lacht). Und dann habe ich eine Ausbildung zum Industriekaufmann gemacht und arbeite jetzt in der Personalabteilung eines Wiesbadener Unternehmens. Ich unterrichte aber noch Musik, und ab und an trete ich auch auf. Ich bin tief in der Klassik oder sogar im Barock verortet oder in der ganz zeitgenössischen Musik, die auch experimentell sein kann.

Im aktuellen sensor testen wir Kaffee aus Wiesbaden. Trinkst du Kaffee, wenn ja, welchen, „wie“, wie viel?

Ganz und gar nicht! Ich bin einer der wenigen, die in einem Büro arbeiten und sich nicht den ganzen Tag mit Kaffee am Leben halten. Ich komme mit dem Geschmack nicht klar, das muss ich ganz ehrlich sagen. Ich rieche ihn total gerne. Ich mag es, wenn morgens die Wohnung nach Kaffee riecht. Aber trinken … ich habe es ganz oft probiert – nein!

Welches war bisher dein persönlicher CSD-Moment?

Ich glaube, der wird dieses Jahr kommen, wenn wir bei der Demonstration, bei der Zwischenkundgebung, die Gedenkminute abhalten werden – die werden wir dieses Jahr Gerdi Laurent widmen, die jahrzehntelang für die Wiesbadener Community da war, gerade in der HIV- und Aids-Krise, die vielen Menschen geholfen hat beim Coming Out, die der Szene eine Stimme gegeben hat, ohne selbst der Szene anzugehören. Und das intensiv und bis zum Schluss, leider ist sie dieses Jahr verstorben.

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Der diesjährige CSD Wiesbaden findet unter dem Motto „Jetzt erst Recht“ am Samstag, 3. Juni statt: 14 Uhr Start der Demo-Parade am Warmen Damm (14.45 Uhr Zwischenkundgebung Schlossplatz), 16 Uhr CSD-Sommerfest im Kulturpark am Schlachthof, 22 Uhr Party im Schlachthof auf 3 Floors. Rund um den Veranstaltungstag selbst gibt es ein üppiges buntes Rahmenprogramm. sensor unterstützt den CSD als Medienpartner. www.csd-wiesbaden.de

Auch  am 25. Juni zeigt Wiesbaden erneut, wie vielfältig, offen und bunt die Stadt ist mit einer „Demo für Vielfalt“ des Bündnisses für Akzeptanz und Vielfalt – gegen Diskriminierung und Ausgrenzung und der klaren Ansage an die gleichzeitig angemeldete sogenannte „Demo für alle“: „Ihr seid nicht alle!“