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Das große 2×5-Interview: Matthias Röhrig, Leiter der Obdachlosen-Einrichtung „Teestube“, 56 Jahre, 2 Töchter

Von Dirk Fellinghauer. Foto Arne Landwehr.

Für wen ist die Teestube da?

Die Teestube ist eine Fachberatungsstelle und Tagesaufenthalt für wohnungslose Menschen und sozial ausgegrenzte Menschen. Das Klientel verändert sich in regelmäßigen Abständen.  Soziale Probleme im Land kommen mit einer Zeitverzögerung bei uns an. Momentan haben wir viele Menschen aus Osteuropa – aus Polen, inzwischen außerdem aus Rumänien, Bulgarien, Ungarn.  Viele, die bei uns landen, kommen unvorbereitet, sprechen oft die Sprache nicht und erfahren dann hier, dass sie keinen Anspruch auf irgendwelche Sozialleistungen haben, so dass sie auf der Straße landen und dort auch verelenden. Wir haben inzwischen auch viele psychisch Kranke, immer mehr Menschen  mit Wahnvorstellungen. Diese ziehen auch aus ihrer Wohnung aus, weil sie die „bedrohliche“ Situation bei sich zuhause nicht aushalten.

Was können Sie den Menschen, die zu Ihnen kommen, bieten?

Ein wichtiger Punkt ist, dass die Menschen sich bei uns aufhalten können, sie können hier soziale Kontakte pflegen. Wir ermöglichen auch eine Grundversorgung, mit der Kleiderkammer, es wird Frühstück und Essen angeboten, für die medizinische Versorgung gibt es eine humanitäre Sprechstunde. Im Haus haben wir eine Notübernachtung mit zwölf Plätzen. Wir wollen den Menschen auch Sachen, die „normal“ sind, ermöglichen.

Wie reagieren die Menschen in unserer Stadt auf Wohnungslose?

Da hat sich in den letzten zwanzig Jahren sehr viel verändert. Ich finde es toll, dass sich viele Menschen bemühen um Wohnungslose. Anfang der Neunziger Jahre gab es die Diskussion um eine sogenannte „Pennersatzung“, mit der man Wohnungslose komplett aus der Fußgängerzone draußen haben wollte. Sie haben inzwischen eine andere Lobby. Bei uns engagieren sich über hundert Ehrenamtliche, es gibt viele Spenden. Da merken wir, dass wir in der Bevölkerung einen ganz großen Rückhalt haben. Für uns ist es wichtig zu merken, dass wir nicht alleine sind.

Spenden sind das eine, viele sind aber unsicher, wenn es um den persönlichen Umgang mit Obdachlosen geht. Welche Tipps können Sie geben?

Man soll sie einfach ansprechen. Wenn ich ihnen etwas Gutes tun will, frage ich, wie kann ich Ihnen helfen? Natürlich werden viele sagen, Geld ist mir am liebsten. Früher habe ich auch gesagt, man soll Bettelnde nicht unterstützen, jeder hat Anspruch auf Sozialleistungen. Da habe ich meine Meinung inzwischen geändert.  Ich gehe davon aus, dass in Wiesbaden bestimmt sechzig Menschen unterwegs sind, die vom Flaschen sammeln leben, von kleineren Diebstählen und so etwas, um ihre Sucht zu befriedigen. Wenn jemand alkoholabhängig ist, braucht er den Alkohol. Den wird man nicht zum Anti-Alkoholiker machen, indem man ihm das sechste Brötchen kauft oder was auch immer.

Sind Flüchtlinge ein Thema für Sie – als Klienten oder wegen Diskussionen à la „man kümmert sich um Flüchtlinge mehr als um (deutsche) Obdachlose“?

Wir haben eine gewisse Angst, weil es auch da viele geben wird, die sich hier nicht integrieren können und dann als Wohnungslose auf der Straße landen. Im Moment ist dies aber zum Glück noch die Ausnahme. Wir haben aber vermehrt Menschen, die keine Aufenthaltsberechtigung haben und in der Illegalität leben. Da sind viele Amerikaner dabei. Wenn die US-Armee einfach abgezogen ist und sich verringert hat und die Soldaten dort, wo sie herkommen, keine Bezüge mehr haben, bleiben sie oft hier und leben auf der Straße. Was diese rechtsradikalen Parolen angeht, davon sind wir hier bisher verschont worden. In Rüsselsheim hat sich eine rechtsextreme Gruppe vor der Einrichtung der Diakonie fotografieren lassen und geschrieben, sie wären angefordert worden, den deutschen Wohnungslosen zu helfen, weil die Asylbewerber alles weg nähmen. Das haben wir so noch nicht erlebt. Da würden wir auch mit aller Schärfe gegen vorgehen. Mensch ist Mensch, und es geht darum, dem Menschen zu helfen, ganz egal wo er herkommt.

MENSCH

Wie wurde die Arbeit mit Obdachlosen für Sie zum Thema?

Ich habe meinen Zivildienst schon im Diakonischen Werk gemacht. Zum Ende  wurde die Teestube im November 1985 gegründet, in der Kleinen Schwalbacher Straße. Ich habe als Zivildienstleistender noch geholfen, sie einzurichten. Nach dem Zivildienst habe ich Sozialarbeit in Darmstadt studiert, dann in Stuttgart mein Anerkennungsjahr gemacht in einem Mutter-Kind-Heim und anschließend eineinhalb Jahre in einem Heim für sexuell missbrauchte Mädchen gearbeitet. Aufgrund der schwierigen Wohnsituation Anfang der Neunziger Jahre, wo wir keine bezahlbare Wohnung in Stuttgart finden konnten, sind wir wieder hier in die Gegend gezogen. So kam ich zurück zur Teestube, zu der ich während meines Studiums den Kontakt gehalten und über die ich auch meine Diplomarbeit geschrieben hatte. Das war meine Traumstelle. Und sie ist es eigentlich immer noch.

Sie haben überwiegend mit „hoffnungslosen Fällen“ zu tun. Gibt es auch Erfolgserlebnisse?

Erfolgserlebnisse muss man in der Teestube ganz individuell sehen. Es kann ein Erfolgserlebnis sein, wenn jemand einfach nur mal duscht. Oder dass er sich frische Socken anzieht oder zum Arzt geht. Es kann aber auch sein, dass wir Leute, die erst vor relativ kurzer Zeit wohnungslos geworden sind, recht schnell wieder in eine Wohnung vermitteln können.  Das Problem ist, dass der Anteil der öffentlich geförderten Wohnungen immer geringer wird. In unserer sogenannten Wohnungsbörse ist die Chance einer Vermittlung inzwischen bei 0,1 Prozent oder so angelangt. Es gab Zeiten, da konnten wir zwei bis drei Leute im Monat in Wohnungen vermitteln.

Wie schaffen Sie es, nicht zu resignieren oder frustriert zu sein?

Man muss einfach ein Grundverständnis für die Problematik haben, wie es Wohnungslosen geht. Man muss eine Idee dafür haben, was will ich mit den Leuten erreichen? Ich darf mir die Ziele da selber nicht zu hoch setzen. Und ich muss mir ein bisschen einen Schutzpanzer zulegen, dass ich die Probleme nicht zu dicht an mich heranlasse. Wenn ich mich abends ins Auto setze und nach Hause fahre, das ist die Zeit, wo man abschalten kann und Kraft sammelt. Trotzdem brauche ich die Empathie und muss mich bemühen, möglichst viele angepasste Hilfsangebote für die Besucher zu schaffen. Aber ich muss auch damit leben können, dass ich nie alle Bedürfnisse werde befriedigen können.

Womit beschäftigen Sie sich außerhalb Ihres Berufslebens?

Wir heizen zuhause ganz bewusst mit Holz, damit ich etwas Bewegung habe, das genieße ich als Ausgleich. Meine Frau hat mal gesagt, ich werde eine Anzeige schalten „Suche schöne körperliche Arbeit für meinen Mann nach Feierabend“ (lacht). Ansonsten mit Freunden treffen, Schwimmen gehen, Fahrrad fahren, ins Kino gehen. Weil unsere Töchter beide ausgezogen sind, haben wir wieder mehr Zeit zu zweit und sind auch abends wieder öfters unterwegs. Und ich habe nochmal den Segelschein gemacht.

Sind Sie Teetrinker?

Nein, Kaffeetrinker! Die ersten Tageseinrichtungen für Wohnungslose kamen Anfang der Achtziger Jahre auf. Da wurde immer händeringend nach einem Namen gesucht – wie nennt man das so, dass es nicht abwertend ist …?  Jeder Wohnungslose weiß heute, was eine Teestube ist.

Interessierte willkommen: Besichtigung der Teestube

Am Mittwoch, 20. Februar, 18 Uhr, ist eine öffentliche Besichtigung der Teestube (Treffpunkt an der Teestube, Dotzheimer Str. 9, 65185 Wiesbaden). Im Anschluss um 19 Uhr geht es in einem Podiumsgespräch in der Schwalbe 6 (Schwalbacher Straße 6) um die Fragen, was  Wohnungslosigkeit für die Würde der Menschen bedeutet, welche Angebote es für Wohnungslose in Wiesbaden gibt und was jeder einzelne tun kann. Mit dem Publikum tauschen sich aus:  Matthias Röhrig, Leiter der Diakonie-Teestube-Wiesbaden, Valentina Neacsiu, die sich um rumänische Wohnungslose kümmert, und Claudia Grilletta vom Evim Upstairs Bus.

Ausstellung im Rathaus und in Wiesbadener Geschäften

Bis zum 25. Februar ist im Rathaus die Ausstellung „Ein Gesicht geben“ mit Fotografien und gemalten Bildern zu sehen. Sie holen die Thematik Obdachlosigkeit und Bedürftigkeit aus der Anonymität. Die Spenden kommen der Teestube des Diakonischen Werks in Wiesbaden zu Gute. Neben der Ausstellung im Rathaus können die Fotografien parallel auch bis zum 11. März 2019 bei der IHK sowie 15 inhabergeführten Einzelhändlern in den sogenannten „Wiesbadener Schaufenstern“ bestaunt werden. Bei jedem der teilnehmenden Händler sowie der IHK steht eine Spendendose bereit. Die Bilder können nach Abschluss der Ausstellung auch käuflich erworben werden, der Erlös geht ebenfalls der „Teestube Wiesbaden“ zu.