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Durch die Nacht für Scheine und Geschichten – Innenansichten aus dem Taxi. Kurzgeschichte von Alexander Pfeiffer.

taxi_illu_webVon Alexander Pfeiffer. Illustration  Mikhail Svyatskiy.

„Die längsten Reisen fangen an, wenn es auf den Straßen dunkel wird.“ Mit diesem Satz endet der letzte Roman von Jörg Fauser: „Kant“, erschienen 1987. Der Autor, der unweit von Wiesbaden in Bad Schwalbach das Licht dieser Welt erblickte, starb im Juli eben jenen Jahres, das noch zu den äußeren Rändern der alten BRD gehörte: 1987. Als Fußgänger auf der Autobahn zwischen Feldkirchen und München-Riem. Unter den Rädern eines Lastwagens. „Die Umstände sind ungeklärt“, heißt es bis heute. Was für ein Abgang! Stoff für Mythen und Legenden. Eine Story, nicht unähnlich denen, die Fauser selbst zu erzählen wusste. Eine Story aus einer Zeit, in der Schriftsteller sich noch mit einer Aura von Zwielicht und Gefahr zu schmücken wussten. Bevor dann Fernsehmoderatorinnen und Unternehmensberater des Berufsbildes habhaft wurden, um es zugunsten von Eindeutigkeit und Sensation umzudeuten.

Aber was ist nun mit Zwielicht und Gefahr? Nachts dort unterwegs zu sein, wo sich die meisten anderen nicht hintrauen, das kann sicher immer noch hilfreich dabei sein, sich die entsprechende Aura zu erarbeiten. Vielleicht nicht gerade als Fußgänger auf der Autobahn. Aber zum Beispiel als Taxifahrer: All die kleinen Geschichten aufsammeln, die Nacht für Nacht achtlos zwischen Beifahrer und Chauffeur ausgekippt werden. Dazu ein paar Scheine einstreichen, so lange der Vorschuss für den nächsten Roman noch auf sich warten lässt. Also dann, kopfüber in die Wiesbadener Nacht! Die Stadt knipst ihr künstliches Licht an, die Ampeln regeln einen Verkehr, den es nicht mehr gibt, und die Amateursäufer kotzen die Bürgersteige voll.

Den Auftakt macht eine Einkaufsfahrt: Nerostraße, zwei Flaschen Wodka, vom Kiosk drei Häuser weiter in den dritten Stock zu liefern. Für so eine Tour braucht es eigentlich nicht zwingend ein Taxi. Das stelle ich nämlich vor dem Kiosk ab und erledige den Rest zu Fuß. Wieso macht der Auftraggeber es nicht selbst? Die Frage wird mir beantwortet, als ich in die Wohnung trete: Er hat keine Kleider am Leib. Klar, so kann man natürlich nicht auf die Straße. „Mensch, jetzt zieh doch wenigstens mal was an, wenn der Taxifahrer kommt“, keift seine Freundin, die nur unwesentlich nüchterner ist als der Herr des Hauses. Immerhin kommt sie im Gegensatz zu ihm noch vom Sofa hoch und kann mir so das Geld für die Fahrt geben. Fahrt? Welche Fahrt eigentlich? Wollen hoffen, dass heute Nacht doch noch die eine oder andere zu machen sein wird.

Und natürlich kommen sie, die Fahrten. Die Geschichten und die Scheine. Ein holländisches Paar, ordentlich betankt mit deutschem Bier, will zum Schiersteiner Hafen. Dort liegt ihr Schiff vor Anker. Bevor sie dieses schwankend besteigen können, muss ein Zwischenstopp auf der Schiersteiner Straße her: Ladung löschen. Das deutsche Bier wird aus der geöffneten Autotür in den Rinnstein gekübelt. Die Präzision lässt zu wünschen übrig, Magensaft und Essensreste klatschen gegen die Karosserie. Zum Glück sind Glasreiniger und Küchenrolle immer mit an Bord.

Zu vorgerückter Stunde kommen vom Beifahrersitz auch noch Kontaktanbahnungsversuche, verpackt in linguistische Kunststückchen: „Du bist Ei!“, raunt die dunkeläugige Italienerin, die mit ihrer Freundin am Euro Palace zugestiegen ist. „No! No!“, interveniert die Freundin vom Rücksitz aus. „‚Ei’ è un uovo!“ Meine Beifahrerin versucht es noch einmal, gibt sich sichtlich Mühe, schiebt das H und sogar das scharfe S entschlossen über die  promillebeschwerte Zunge: „Heiß … Du bist heiß.“ Heiß? Von wegen! „Die Küche hat schon vor Stunden geschlossen“, sage ich. „Bei mir gibt’s um diese Uhrzeit nur noch eiskalte Dienstleistungen.“ Die glutäugige Südländerin wendet sich zur Rückbank um Hilfe: „Che dice?“. Aber von da hinten kommt um diese Stunde auch nur noch hilfloses Schulterzucken. Es bleibt beim Austausch von Scheinen und einer weiteren kleinen Geschichte, und irgendwann müssen auch die längsten Reisen zu Ende gehen. Spätestens dann, wenn es auf den Straßen wieder hell wird.

Beim Abstellen des Taxis treffe ich auf den Kollegen, der jetzt seine Tagschicht beginnt. Wie es gelaufen sei, fragt er. Und sagt: „Taxifahren ist wie Roulette.“ Ob er das aus einem meiner Bücher hat? Der Satz steht fast genau so in meinem ersten Roman „Im Bauch der Stadt“, erschienen 2005: „Die Tagmenschen spulten ihr Pensum runter und erhielten am Monatsende ihre Lohntüte. Ich bekam den Lohn für meine Arbeitsleistung sofort. Bar auf die Kralle. (…) Es war wie beim Roulette. Man setzte was ein und man bekam etwas raus.“ Rausbekommen habe ich in dieser Nacht einen großen Haufen an kleinen Geschichten und ein Bündel Scheine, das an den erhofften Vorschuss für den nächsten Roman nicht ganz rankommt. Und die Aura von Zwielicht und Gefahr wollte sich auch nicht recht einstellen. Vielleicht doch lieber als Fußgänger auf die Autobahn?