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Editorial November-sensor: Antikapitalisten entdecken das Immobiliengeschäft

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Antikapitalisten entdecken das Immobiliengeschäft, liebe sensor-Leserinnen und Leser.

Wer hätte gedacht, dass unsere Stadt einmal eine solche Schlagzeile hervorbringen würde. Wiesbaden ist halt immer wieder für Überraschungen gut. Das Kollektiv des Café Klatsch, eine der letzten explizit linken Bastionen unserer Stadt, macht´s möglich. Natürlich sind sie nicht übergelaufen in die „böse“ Welt, sondern stehen weiterhin für die „andere“ Welt. Aber besondere Umstände erfordern besondere Maßnahmen.

Der besondere Umstand: Die Immobilie, in der das Café Klatsch seit 31 Jahren sein Domizil hat, soll verkauft werden. Die besondere Maßnahme: Die Klatsch-Macher selbst und ihre Unterstützer „kaufen den Laden“. Ein raffiniertes Modell, um den Plan in die Tat umzusetzen, wurde ausgetüftelt. Pragmatismus  und Fantasie erweisen sich als ein  geniales Gespann. Ich werde mal schauen, welche Euros ich selbst locker machen kann für den Erhalt des Klatsch in seiner jetzigen Form, am angestammten Ort. Und empfehle Ihnen, dies auch zu tun. Dieser Ort ist jeden Spenden- oder Darlehenseuro wert, weil er wichtig ist für unsere Stadt. Wenn ich höre, dass schon ein Drittel der erforderlichen Summe von 270.000 Euro beisammen war, bevor die Kampagne überhaupt richtig los ging, bin ich optimistisch: Die schaffen das!

Leider nicht geschafft haben es die „Folklore“-Macher, für das Festival in seiner neuen Form in diesem Sommer die nötige Begeisterung bei den Wiesbadenern auszulösen, um es finanziell über die Runden zu bringen. Die „Volkswirtschaft UG“, eine Firma, die vom Schlachthof eigens für die Durchführung dieses Festivals gegründet wurde, hat vorläufige Insolvenz angemeldet. Nur 10.000 Besucher kamen zur 39. Ausgabe, 112.000 Euro sind „offen“, viele warten auf ihr Geld. Auch wenn die Stadt für diesen Betrag einspringt, klingt im Moment alles danach, als ob es das nun wirklich gewesen ist mit Folklore, als ob es einen 40. Geburtstag nicht geben wird. Weitere Unterstützung der Stadt ist fraglich, die Solidaritätsbekundungen der Folklore-Fans sind diesmal seltsam verhalten, und selbst die Folklore-Macher klingen in ihren Statements so, als ob sie die Nase voll haben.

Das ist bitter, denn ein Folklore-Festival ist für diese Stadt so wichtig wie ein Café Klatsch.

Aber unter diesen Vorzeichen wagt man kaum zu hoffen, dass es – mal wieder – doch noch weitergeht und muss vielmehr hoffen, dass – irgendwie, irgendwo, irgendwann – irgendwas Neues entsteht. Etwas Neues, was diese Lücke,  die wir vielleicht erst spüren werden, wenn Folklore dann  nächsten sommer wirklich nicht mehr stattfindet, füllen kann. „Nachträgliche Kritik“ verbitten sich die Veranstalter. Das ist aus ihrer „Wir reißen uns seit Jahrzehnten den Arsch auf und das ist der Dank“-Befindlichkeit heraus nachvollziehbar, aus einer Außensicht heraus und mit Blick auf die speziell rund um Folklore eigentlich so hochgehaltene Diskussionskultur allerdings etwas befremdlich.

Es hat zum Beispiel nichts mit Besserwisserei zu tun, es auch im Nachhinein für bedauerlich und ärgerlich zu halten, dass dem Vernehmen nach kleinere Beteiligte, die zum Folklore-Inventar gehörten, auf nicht gerade feinste Art „Wir müssen draußen bleiben“-Schilder gezeigt bekommen haben. Hier wurde vielleicht die Dynamik unterschätzt, wie sich so etwas, auch wenn es nicht offen an- und ausgesprochen wird, herumspricht. Da haben dann nicht nur die entsprechenden Stände und Bühnen gefehlt, sondern auch genau deren Publikum.

Aber es stimmt schon. Der Blick muss nach vorne gehen. Und es überwiegt ein großes „Danke für alles“ an die Folklore-Macher – verbunden mit besten Wünschen, dass alle alles gut überstehen.

Dirk Fellinghauer, sensor-Kollektivist  (Foto Kai Pelka)