„I would be a lonely person if I couldn´t spend time with myself.“ (Zachary Johnson, Readymade, „A Massive Overdose of Communication“/ „Snapshot Poetry“, 1999)
Ohne das Alleinsein würde mir etwas fehlen,
liebe sensor-Leser*innen. Die Zeit, die ich nur mit mir allein verbringen darf, ist mir wichtig und wertvoll. Dies wohl auch und gerade deshalb, weil ich so viel Zeit mit anderen verbringen darf. Mit unterschiedlichsten Menschen in einem spannenden Beruf. Mit großartigen Freunden. Mit meiner fantastischen Frau, meiner großen: Liebe. Dass ich mich manchmal nach dem Alleinsein sehne, ist ein Privileg, für das ich dankbar bin.Mir ist klar, dass sehr viele Menschen sich nach dem Nicht-Alleinsein sehnen. Für sie muss die Zeit, die wir seit März erleben, diese Zeit der erzwungenen Isolation oder mindestens der Einschränkung von Begegnungsmöglichkeiten, noch schwerer sein als das Alleinsein, das sie bis dahin kannten.
Wir haben – mit Abstand – einige Menschen getroffen, die uns – ganz offen – von der Liebe in Zeiten der Corona-Pandemie erzählen. Von der Sehnsucht nach Liebe, vom Scheitern der Liebe, vom Fehlen der Liebe, vom Suchen und vom Finden der Liebe. Sie lesen in der September-sensor-Ausgabe von Distanz, aber auch von Nähe und Berührung in Zeiten der Pandemie.
Es sind Zeiten, die sicher länger andauern werden als uns lieb ist. Die Rede ist immer vom „new normal“, eigentlich gibt es nur noch ein sich ständig veränderndes „now normal“. Zeiten, die uns weiterhin und immer wieder einiges abverlangen werden. Zeiten aber auch, die bisher Unmögliches möglich machen.
Wir haben auch in unserer Stadt einen „Sommer der Möglichkeiten“ erlebt, der vielerorts ein neues Lebensgefühl hervorgezaubert hat. Für viele zumindest, wie Sie in diesem Zurück-aus-der-Sommerpause-sensor auch lesen werden. Die Euphorie über die ungeahnte Leichtigkeit und Lässigkeit des Draußenlebens (und Lebenlassens) kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieser Sommer für manch andere auch ein enttäuschender Sommer der Unmöglichkeiten, ein Sommer der Ungerechtigkeiten war.
Was bei den einen – Gastronomen in erster Linie – geht, erscheint bei anderen als undenkbar. Kriterien erscheinen oft nicht nachvollziehbar, sondern willkürlich. Fragen Sie zum Beispiel mal Tay Düz in seiner „Amigos Coffee & Bar“ in der Nerostraße. Oder schauen Sie bei ihm auf Instagram vorbei – @amigos_wiesbaden. Dort schreibt er sich unter dem Motto „Danke für Nichts“ seinen Frust von der Seele über „regelrechte Wettbewerbsverzerrung“: darüber, dass er, und manche Nachbarn, partout keine Genehmigung für das Aufstellen von Tischen und Stühlen bekommen, sondern im Gegenteil, so schildert er es, von der Verkehrspolizei „schikaniert“ wird. So etwas muss nicht sein, so etwas sollte nicht sein.
Ob es sein muss, dass die Stadt Wiesbaden – wie wir kurz vor Druck dieser Ausgabe erfahren – ab sofort bis vorerst 21. September, wegen gestiegener Infektionszahlen und „Corona-Ampel“-Alarmstufe Gelb, alle Veranstaltungen ab 50 Personen verbietet, vermag ich nicht zu beurteilen. Das Pauschalverbot ohne Unterscheidung von Veranstaltungsarten erscheint mir allerdings mindestens diskussionswürdig. Ob man auf einer alkoholgeschwängerten Party feiert und irgendwann das angemessene AHA („Abstand, Hygiene, Alltagsmasken“)-Verhalten „vergisst“ oder aber „brav“ im Kino, im Theater, bei einer Lesung oder auch bei einem bestuhlten Konzert sitzt, drinnen nach ausgeklügelten strengen Hygienekonzepten und erst recht draußen, ist doch wohl ein Unterschied – auch in Sachen Infektionsrisiko.
Lasst uns leben. Lasst uns lieben. Mit Vorsicht. Aber auch, so gut es geht, mit Lust und Freude.
Dirk Fellinghauer, sensor-Kontaktperson