Von Hendrik Jung. Fotos: Kai Pelka.
Eine neue Flüchtlingsunterkunft in Wiesbaden spaltet über bekannte Maßen hinaus die Nachbarschaft. Es gibt aber auch Ansätze für Dialog und Miteinander.
Es gibt Punkte im Stadtgeschehen, über die bei den verschiedenen Parteien der Wiesbadener Stadtpolitik eine gewisse Einigkeit herrscht. Zu diesen gehört, dass die Anfang des Jahres in Betrieb genommene Flüchtlingsunterkunft in dem ehemaligen Didier-Gebäude ebenso wie die Debatte darum keineswegs vergleichbar ist mit der Situation in anderen Einrichtungen zur Unterbringung von Geflüchteten.
Derzeit leben in Wiesbaden insgesamt rund 3.000 aus ihrer Heimat geflohene Menschen in verschiedenen Unterkünften. Für die Mitglieder der „Bürgerinitiative für eine nachhaltige Entwicklung der City Ost“ besteht die Besonderheit der Situation in der großen räumlichen Nähe, die der ehemalige Bürokomplex zur benachbarten Wohnbebauung aufweist.
Eilanträge beim Gericht
Die in der BI Organisierten halten den als Kulturdenkmal klassifizierten Bau für vollkommen ungeeignet für eine Verwendung als Gemeinschaftsunterkunft und haben beim Verwaltungsgericht Wiesbaden schon mehrere Eilanträge gestellt. Bislang sind alle abgelehnt worden. Zur Zeit der Entstehung dieses Beitrags beschäftigte sich der hessische Verwaltungsgerichtshof in Kassel mit einer Beschwerde zur Ablehnung des jüngsten Eilantrags der Bürgerinitiative durch das Verwaltungsgericht Wiesbaden. Ende Juli wurde auch diese Beschwerde vom Gericht abgewiesen. Demnach sei die temporäre Nutzung des Gebäudes als Flüchtlingsunterkunft nicht rechtswidrig, „typischerweise von Wohngründstücken ausgehende Geräusche“ seien von der Nachbarschaft hinzunehmen, umgekehrt seien aber auch von Bewohnern „Grundregeln des Zusammenlebens, zum Beispiel die Nachtruhe“, zu beachten.
Die Leiterin des Wiesbadener Sozialleistungs- und Jobcenters betont, dass es ausgesprochen ungewöhnlich sei, dass man sich in einem laufenden Verfahren mit dem Prozessgegner so ausführlich an einen Tisch setzt, wie zuletzt geschehen. „Das ist ein Beitrag der Verwaltung zum guten Miteinander“, betont Ariane Würzberger ihre Sicht. Auch wenn sie noch nie einen derart intensiven Widerstand gegen die Einrichtung einer Unterkunft erlebt habe, sei die Wiederaufnahme des Dialogs durchaus konstruktiv gewesen.
Aus für Kunstkoffer
Da unter anderem die Beschwerden der Anwohner:innen über eine von der Unterkunft ausgehende Lärmbelästigung ein großes Thema gewesen seien, werde man die Bewohner der Unterkunft nun noch einmal insbesondere für die Ruhezeiten abends und am Wochenende sensibilisieren. Einigkeit bestehe darin, dass der Innenhof des Gebäudekomplexes ausschließlich als Parkplatz gedacht sei. Obwohl man es für eine gute Idee gehalten habe, die Kunst-Koffer dorthin einzuladen, habe man sich schweren Herzens dafür entschieden, die wöchentlichen Besuche des offenen kreativen Angebots zu unterbinden. „Wir bedauern sehr, dass wir das absagen mussten“, erklärt Jürgen Schuff, Leiter der Abteilung Unterbringungsmanagement und Hilfen für Geflüchtete und Wohnungslose.
Für das Projekt des Kunstraums Westend sind die Entwicklungen in der Lessingstraße ebenfalls einmalig. Seit rund zehn Jahren ist das mobile kreative Angebot für Kinder auch in Gemeinschaftsunterkünften für Geflüchtete unterwegs. „Die Kinder erzählen, dass die Nachbarn sehr pingelig sind und sie nicht laut sein dürfen. Das habe ich in anderen Unterkünften noch nicht gehört“, berichtet Ram Wübbena. Bezeichnend für die mangelnde Integration im Viertel ist ein Ereignis, das der aus Nepal stammende Mitarbeiter während des kurzen Gastspiels der Kunst-Koffer erlebt hat.
Bei einem der wöchentlich an einem Dienstagnachmittag für zwei Stunden durchgeführten Angebote hätten die teilnehmenden Kinder damit begonnen, verschiedene Landesflaggen zu malen. Da die Familien nun in Deutschland lebten, hielt es Ram Wübbena für eine schöne Geste, auch die deutsche Flagge zu malen. Die Kinder hätten sich jedoch sämtlich dagegen entschieden – aufgrund der ablehnenden Haltung aus der Nachbarschaft gegen ihr derzeitiges Zuhause, die Gemeinschaftsunterkunft (GU) plus.
Maximal 200 Bewohner:innen
Diese Bezeichnung steht für die aktuell insgesamt acht Einrichtungen in der Landeshauptstadt, in der mehr als 250 Menschen untergebracht sind. Für das ehemalige Didier-Gebäude gilt das jedoch eigentlich gar nicht. Zum aktuellen Stand könnten dort zwar 348 Personen leben. gibt jedoch eine Zusage seitens der Stadtverwaltung, dass die Unterkunft mit nicht mehr als 200 Personen belegt wird. Gemeint sind damit sowohl das Vorder- als auch das Hinterhaus, wobei lediglich das an der Straße befindliche Gebäude von Geflüchteten bewohnt wird. Das am Innenhof stehende Gebäude soll für Wohngruppen der Jugendhilfe genutzt werden.
Stehlampen statt Deckenleuchten
Bislang habe sich die Maximalzahl der in der Liegenschaft untergebrachten Personen auf 101 belaufen, berichtet Ariane Würzberger. Für die bei Redaktionsschluss 98 Bewohner:innen des ehemaligen Didier-Gebäudes gilt nicht nur die beschränkte Nutzung des Innenhofs. Aufgrund der Beschwerden über Lichtbelästigung sind sie zudem aufgefordert, ab 22 Uhr die Vorhänge geschlossen zu halten und ab dieser Uhrzeit auch nicht mehr die Deckenbeleuchtung zu verwenden, sondern die eigens angeschafften Stehlampen. „Hierauf machen auch die Hausmeister aufmerksam, die in und um das Haus unterwegs sind. Wie in allen anderen größeren Unterkünften entsprechend dem GUplus Konzept ist in der Unterkunft in der Lessingstraße ein externer Hausmeisterdienst 24 Stunden vor Ort“, berichtet Annabelle Hoffmann, die persönliche Referentin der zuständigen Sozialdezernentin Patricia Becher.
Die Anschaffung der Stehlampen ist auf Anregung der Bürgerinitiative erfolgt, deren aktive Mitglieder sich auf die Fahne geschrieben haben, verschiedene Ebenen zu bearbeiten. Sie haben nach eigenen Angaben ein Interesse daran, jenseits ihrer grundsätzlichen Ablehnung das tägliche Miteinander so geschmeidig wie möglich zu organisieren. Auch seitens der Bürgerinitiative wird das jüngste Gespräch mit Mitarbeiterinnen des Sozialdezernats als konstruktiv empfunden.
BI will zurück zum Status quo
Das Ziel der Gruppe, deren harter Kern aus 14 Personen bestehen soll und die mit 30 bis 40 weiteren in regelmäßigem Kontakt stehe sowie ihren Newsletter an mehr als 100 Adressen verschicke, sei jedoch weiterhin: So bald wie möglich wieder in etwa den Zustand zu erreichen, der vor der Nutzung als Gemeinschaftsunterkunft für Geflüchtete geherrscht habe, als hier noch Büros angesiedelt waren.
In der Begründung des Verwaltungsgerichts Wiesbaden zur Ablehnung des jüngsten Eilantrags der Bürgerinitiative heißt es jedoch, der genehmigte Umfang der Unterkunft sei mit den Vorgaben des Bebauungsplans, der ein Wohngebiet vorsehe, vereinbar. Dass die Flüchtlingsunterkunft eine große Zahl an Menschen beherberge, sei in dem Wohngebiet zulässig. Insbesondere seien in der näheren Umgebung bereits größere Mehrfamilienhäuser vorhanden. Eine Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme liege ebenfalls nicht vor, heißt es weiter. Allein aufgrund der Bewohnerzahl sei nicht von unzumutbaren Störungen für die Nachbarn auszugehen.
Vielschichtige Bedenken
Die von den Bewohnern verursachten Geräusche seien typisch für Wohnnutzung, urteilt das Gericht. Über den Rechtsweg hinaus will die Bürgerinitiative weiter auf der politischen Ebene gegen die Nutzung des ehemaligen Didier-Gebäudes als Unterkunft für Geflüchtete argumentieren. Etwa, weil man das nicht für wirtschaftlich halte und das denkmalgeschützte Ensemble nicht dafür geeignet sei. Wichtig sei der Bürgerinitiative zu betonen, dass ihr Widerstand sich nicht grundsätzlich gegen Migranten richte. Die 60 Geflüchteten, die bereits zuvor in einem benachbarten Haus in der Viktoriastraße untergebracht worden seien, hätten niemanden gestört. Es sei jedoch die Frage, was eine gewachsene Wohnstruktur aushalte.
Bei anderen ist hingegen durchaus der Eindruck entstanden, dass im Viertel Ressentiments geschürt worden sind. Schließlich war das Banner nicht gerade dezent, auf dem gefordert wurde, dass es kein Flüchtlingsheim im Marmorpalast geben dürfe, während Schüler in Schimmelbauten lernen müssten. Aus der Irritation darüber hat sich eine Initiative gegründet namens „Wiesbaden kann mehr“, die ihre Vision von einem gelungenen Zusammenleben auch bereits in einem im Frühjahr in einem sensor-Gastbeitrag mit dem Titel „Wiesbaden kann mehr“ formuliert hatte. „Es gab nicht ein negatives Feedback dazu“, freut sich Anna Ripka.
Wunsch nach einem Sommerfest
In der Folge sei man ins Gespräch gekommen mit der Stadtentwicklungsgesellschaft Wiesbaden (SEG) sowie dem Wiesbadener Satellit der Initiative „Über den Tellerrand“. Für einen besseren Austausch im Viertel würde man sich wünschen, dass die Landeshauptstadt ein Sommerfest in der Lessingstraße organisiert. „Das würden wir mit unseren Möglichkeiten unterstützen“, erläutert Anna Ripka. Verbesserungswürdig wäre nach Meinung der Initiative auch die Kommunikation und der Informationsfluss im Vorfeld der Einrichtung der Unterkunft gewesen. „Aber die Befürchtungen, die es gegeben hat, haben sich für mich nicht eingestellt. Ich spüre im Moment keine negative Stimmung im Viertel“, urteilt Andreas Hofmann. Seit zwanzig Jahren lebe er nun zur Miete hier, wohne jedoch in rund 400 Meter Abstand zum ehemaligen Didier-Gebäude. Wenn er durch das Viertel gehe, irritiere ihn allerdings, dass sich die Unterkunft wie ein abgesperrter, isolierter Raum präsentiere.
Kennenlernen als Schlüssel zum Verständnis
„Es geht oft darum, dass man sich kennenlernt, sonst hat jeder nur Vermutungen über die anderen“, findet Andreas Hoffmann. Mehr direkten Austausch im Viertel würde sich auch der Ortsvorsteher wünschen. „Persönlich fände ich es gut, einen Dialog mit allen zu führen. Weil mich auch andere Bürger erreichen, die durch die Aktivitäten der Bürgerinitiative gegen die Unterkunft irritiert sind“, erklärt Ortsvorsteher Alexander Scholz (Bündnis90/Die Grünen).
Runder Tisch soll Austausch ermöglichen
In der jüngsten Sitzung des Ortsbeirats Ende Mai, in dem die Unterkunft zum wiederholten Mal Thema gewesen ist, hat das Gremium nun einstimmig beschlossen, den Magistrat zu bitten, einen Runden Tisch einzurichten, der dem gegenseitigen Austausch aller Interessengruppen dienen soll. „Wir hören immer nur die Position der Bürgerinitiative“, bedauerte Ortsbeiratsmitglied Silke Remmel (Bündnis90/Die Grünen). Vor allem aber sei es nicht der Ortsbeirat, der die Entscheidung darüber treffe, wo Unterkünfte für Geflüchtete entstehen. „Wir können nicht mehr viel tun und würden es bevorzugen, wenn die Beteiligten sich direkt persönlich austauschen“, betont Alexander Scholz. In der mehr als eine Stunde währenden, offenen Diskussion machte bei der Sitzung des Ortsbeirats eine Besucherin jedoch deutlich, dass gerne ein Sommerfest veranstaltet werden könne, dass sie persönlich an der Durchführung eines solchen aber kein Interesse habe. Schließlich kenne man sich bereits seit acht Jahren von diversen Schulfesten.
„Wir wollen unsere Ruhe“
Womit sie natürlich nicht nur die Familien aus der Unterkunft in der Lessingstraße meinen kann, sondern auch die aus anderen Einrichtungen. „Es ist nicht das, was wir wollen. Wir wollen unsere Ruhe“, brachte die Besucherin der Sitzung ihr Bedürfnis als Anwohnerin auf den Punkt. Der Mietvertrag, den die Stadtentwicklungsgesellschaft SEG als Käuferin der Immobilie mit dem Sozialdezernat geschlossen hat, ist auf eine Mietdauer von sieben Jahren angelegt.
Kritik an der Kritik
„Um die Nachnutzung mache ich mir keine Sorgen, dafür gibt es vielfältige Möglichkeiten. Es ist ein toller Verwaltungsstandort, den kann man wieder draus machen, aber man kann in Teilen auch gut wohnen“, erläutert SEG-Geschäftsführer Roland Stöcklin. Auch aus seiner Einschätzung heraus nimmt die Debatte um die Unterkunft in der Lessingstraße eine Sonderrolle ein. „Was von einigen wenigen Nachbarn betrieben wird, geht weit über die Vertretung ihrer Partikularinteressen hinaus“, findet Roland Stöcklin. Kein Wunder, dass ein Thema, das so hohe Wellen schlägt, auch überregionale Aufmerksamkeit hervorruft. Etwa in „Tichys Einblick“, einer Publikation von Roland Tichy, der von seinen Kritikern häufig als Rechtspopulist eingestuft wird.
Jüngste Entwicklungen und Statements zeigen, wie hilfreich es sein kann, in Konflikten und strittigen Fragen den Dialog zu pflegen miteinander anstatt übereinander zu sprechen. „Es hat sich einiges gebessert“, wird Volker Vater von der BI Lessingstraße in einem aktuellen Beitrag des Wiesbadener Kuriers zitiert. Und Ariane Würzberger sagt im gleichen Beitrag mit Blick auf den Austausch der städtisch Verantwortlichen mit der BI: „Wir sind weiterhin in sehr gutem Kontakt.“
(Hinweis: Unser Autor hat für diesen Beitrag auch ein Gespräch mit Robert Binder, Sprecher der BI Lessingstraße 16, geführt. Im Nachgang wollte Herr Binder jedoch seine im Gespräch mit dem sensor für diesen Artikel getätigten Aussagen ohne Kenntnis des Artikel-Kontextes nicht zur Veröffentlichung in Zitatform freigeben.)
Weiterlese-Tipp: sensor-Editorial „Zwei Stunden in der Woche Kinder ertragen zu müssen, ist wirklich eine Zumutung!“