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Einfach machen – Viele reden darüber, Nicole und Holger tun es: Freiwillige Hilfe für Obdachlose in Wiesbaden organisieren

IMG_7999_4spText und Fotos Julia Herz-el Hanbli.

Die meisten reden darüber, Nicole und Holger tun es: Mit einer Gruppe Freiwilliger verteilen sie Lebensmittel und Kleidung an obdachlose Menschen in Wiesbaden.

Auf einmal ist sie weg. Nicole Fath durchsucht das Autoinnere und die Taschen. Vergeblich. Ihre Jacke bleibt verschwunden. „Ist nicht das erste Mal, dass ich ohne Jacke nach Hause gehe“, wird sie später erzählen, wie sie erst kürzlich einem alten Mann ihre andere Jacke überließ – in dem Wissen, in ein paar Minuten würde sie in ihrer Wohnung sein und wohlauf, während der Mann den Wetterverhältnissen draußen stand halten muss; denn eine Wohnung hat er nicht. Seit über 20 Jahren engagiert sich die 40-jährige Wiesbadenerin für die Obdachlosen. Zunächst als Privatperson in ihrer Heimatstadt, später als aktiver „Streetangel“ im gleichnamigen Verein aus Frankfurt. Und seit ein paar Monaten in der Privatinitiative „Obdachlosen-Hilfe Wiesbaden“. Mit letzteren organisiert sie jeden Sonntag Verteilaktionen mitten in der hessischen Hauptstadt. Ehrenamtliche Arbeit, aber kein offizielles Ehrenamt – denn ihre Gruppe existiert nur im Internet.

Rückblick. Es ist Herbst 2014. Damals sucht die Angestellte Winterkleidung, für Obdachlose. Sie schreibt ihren Aufruf in der Wiesbadener „Free Your Stuff“-Gruppe, einer Verschenke-Börse im sozialen Netzwerk Facebook. Dort lernt sie Holger M. F. Rothleitner kennen. In ihm findet sie einen Gleichgesinnten. „Ich habe vor Jahren angefangen, meine Winterjacken, die ich aussortiert hatte, an Obdis zu verteilen“, erinnert sich der 47-jährige Beamte. Dann las er Nicoles Aufruf. „Er bot sich spontan an, die Sachen im Stadtgebiet mit einzusammeln“, erzählt sie. Die Resonanz auf den Aufruf war enorm: Innerhalb von drei Stunden war das Auto voll. Die beiden blieben in Kontakt, organisierten weitere Verteilaktionen. Dann kam die Idee mit einer eigenen Facebook-Gruppe. Das war letzten November. Heute zählt die Gruppe über 1100 Mitglieder.

Als Verteilort wählten Nicole und Holger den Platz der Deutschen Einheit. Hier, mitten in Wiesbadens Innenstadt, kreuzen sich täglich die Wege jener, deren Leben in normalen Bahnen verläuft, und die der anderen, für die ein „normales“ Leben mittlerweile ein anderes ist. Laut Schätzungen der Arbeitsgemeinschaft „Wohnungslosenhilfe e.V.“ waren im Jahr 2013 bundesweit 284.000 Menschen obdachlos, im kommenden Jahr werden knapp 100.000 mehr erwartet.

Dramaturgie des Helfens
Es ist Frühling. Ein paar Männer haben es sich auf den Parkbänken bequem gemacht: Die einen sitzen, manche liegen, sie dösen, seit einer Weile schon – vielleicht, weil sie die Nacht über kaum geschlafen haben, vielleicht hat es irgendwas mit den umgekippten Bierflaschen vor ihnen zu tun. Auf der Straßenseite gegenüber hat sich eine Gruppe von Menschen versammelt, überwiegend Männer. Aus den Bechern in ihren Händen steigt der Geruch frischen Kaffees empor. Sie nippen an ihren Getränken, manche unterhalten sich. Ihre Blicke wandern zwischen zwei Autos, die an der Garageneinfahrt eines großen Einkaufshauses geparkt haben. Nicole und ein paar Helferinnen holen mehrere Tüten mit Kleidung und Schuhen aus Nicoles Auto heraus und stellen sie auf dem Gehweg ab.

Kleidung, Schuhe, Lebensmittel – das meiste kommt über Privatspenden. Wer was anzubieten hat, meldet sich in der Facebook-Gruppe. Um das Abholen kümmert sich Holger. Oft fährt er selbst. Was genau verteilt wird, bleibt vage. „Meistens weiß ich erst am Samstag um die Mittagszeit, was es gibt und wie viel – und was ich daraus machen kann“, sagt Nicole. Wenn die Lebensmittelspenden es hergeben, kocht sie was Warmes – ansonsten gibt’s belegte Brötchen.

Auch Obdachlose haben ein Zuhause
Dann beginnt die Verteilaktion. Für die nächsten drei Stunden, solange dauert die Aktion gewöhnlich, wird Nicoles Kofferraum zur Kaffeebar. Norbert, 59, schwarze Lederhose, Lederjacke und obdachlos, hilft seit einiger Zeit bei den Verteilaktionen mit. Die Falten in seinem Gesicht, eine Geschichte über ein Leben voller Entbehrungen. Behutsam schenkt er Kaffee aus der Thermoskanne ein und überreicht den Pappbecher dem Mann neben ihm, der an der Spitze der Schlange steht, die immer größer wird. Am anderen Auto gibt es Reissalat in Plastikschälchen. „Das Einweggeschirr verringert die Ansteckungsgefahr“, sagt Nicole. „Die meisten Obdachlosen haben ohnehin schon ein geschwächtes Immunsystem.“

Manchmal gibt es Lunchpakete „zum Mitnehmen“, darin belegte Brötchen, Obst, manchmal was Süßes. „Die gebe ich ihnen mit nach Hause“, sagt die 40-jährige. Nach Hause? „Ja, ich nenne es so“, sagt sie, „denn schließlich ist der Ort, wo sie hingehen, ihr Zuhause.“

Vor- und Nachteile einer Vereinsstruktur
Trinken, Essen, Lunchpakete – die Kleidung zum Schluss. Das Verteilen muss nacheinander ablaufen, nicht parallel, sagt Nicole, denn: „Viele der wohnungslosen Menschen sind Einzelgänger, und nicht mehr gewohnt, auf jemand anderen Rücksicht zu nehmen.“ Sich anzustellen, auch mal zu warten, das gebe ihnen Struktur. Doch auch der strukturierte Ablauf schützt nicht vor gelegentlichem Chaos. So wie an dem Tag, als ihre Jacke verloren geht. Eine der Helferinnen hat sie aus Versehen verteilt. „Ich bin ihr aber nicht böse“, sagt Nicole, lacht, streicht ihr blondes Ponyhaar aus den Augen. „Ich freue mich, wenn ich mir vorstelle, dass sie jemand trägt, dem sie gefällt. Letztendlich ist es nur ein Kleidungsstück.“ Dann muss sie wieder los, im Auto steht eine Palette Süßigkeiten. Die will sie gleich in der Teestube vorbeibringen. „Das ist eines der Vorteile, wenn man ein Aktiver im Verein ist“, sagt Nicole und meint schnellen Zugang zu Einrichtungen wie der Teestube. Und auch zu Lebensmittelspenden im Supermarkt.

Doch auch für Vereine gibt es bürokratische Grenzen. Denn eine Genehmigung für das Verteilen am Platz der Deutschen Einheit hätten die Mitglieder der „Obdachlosenhilfe Wiesbaden“-Gruppe als Verein nicht bekommen. In solchen Fällen übernimmt Holger die Initiative, denn als Privatmensch darf er das Auto abstellen und Spenden verteilen – eben ganz unbürokratisch helfen. Holger ist der offizielle Gründer der Privatinitiative. In der Gruppe im Internet ist er (als Holger Marcus Friedrich Erpunkt) Ansprechpartner für Beitritts- und Spendenanfragen, informiert die Mitglieder über die Aktionen, die anstehen, dokumentiert jene, die vorüber gingen, betreibt Spendenakquise. Und  manchmal sorgt er einfach für gute Laune unter den Mitgliedern. Zwei Stunden täglich, solange dauert sein Helfen. Das meiste erledigt er unterwegs – mit seinem Smartphone ist Kommunikation mit den Mitgliedern kein Problem.

Hilfsbereit für jeden und jederzeit
Unter den wohnungslosen und bedürftigen Menschen der Stadt hat sich das Engagement der Wiesbadener Obdachlosenhilfe herumgesprochen. Jede Woche kommen viele alte Gesichter, aber auch neue. Nicht alle, die hierher kommen, sind obdachlos. Da ist ein junger Mann mit Jogginghose und Muskelshirt – er hat ein Vorstellungsgespräch, sucht daher neue Kleidung. Da ist eine ältere Dame – die schaut immer weg, wenn man sie anschaut. Ihre Rente ist zu klein. Ob Menschen mit Suchtkrankheiten, Hartz IV-Empfänger oder Rentner – die Liste der an der Armutsgrenze Lebenden ist lang. Von 12,5 Millionen spricht der Paritätische Gesamtverband in seinem aktuellen Armutsbericht. Einen Nachweis über die „Bedürftigkeit“ verlangen Holger und Nicole nicht. Menschenkenntnis, Gefühl oder einfach nur Sympathie – sie entscheiden, wer was bekommt. Nicht alle, die obdachlos sind, kommen hierher. Also macht Nicole „Hausbesuche“, sucht jene auf, die öffentliche Plätze längst meiden: „Meist sind sie es, die Hilfe am nötigsten haben.“

Vom Wollen, vom Machen
Helfen ist keine Arbeit, es ist eine Haltung. Trotz Vollzeitstelle, auch im Schichtdienst, sind Holger und Nicole jede Woche, „im Dienst am Menschen“ unterwegs. Einmal bringt Nicole neben Kisten mit Brot und eingeschweißtem Salamiaufschnitt, Quittenschnitten mit Zartbitterschokolade. Die hat sie daheim im Ofen getrocknet, vier Tage lang. Auch Norbert steht wieder an der Kaffeebar. Er ist am Wochenende umgezogen, dank Nicoles Hilfe, sagt: „Wenn sie nicht wäre, ich wüsste nicht, wie ich das geschafft hätte.“

Später fährt ein schwarzer Jeep vor. Sabi Uskhi, Vorsitzender von „Streetangels“, bringt eine Tasche mit Lebensmitteln aus einer Frankfurter Streetangel-Aktion vorbei. Er will Holger für seinen Verein gewinnen. Für den Beamten allerdings keine Option. Zu viele Verpflichtungen, zu viel Regelwerk, zu viel „vergeudeter“ Zeitaufwand für Verwaltung, findet Holger. „So wie es jetzt ist, ist es gut.“ Ob sie sich als aktiver Streetangel oder privat engagiere, sei ihr letztendlich egal, sagt Nicole. „Hauptsache, am Ende wird dem Menschen geholfen.“

Mittlerweile ist wieder Herbst. Noch immer gibt es sonntags Verteilaktionen. Auch die Versorgung mit Lebensmitteln ist mittlerweile, dank Nicoles Vereinsmitgliedschaft bei Streetangel, gewährt. Allerdings musste ein neuer Verteilungsort her. „Leider war uns die Verteilung am bisherigen Platz nicht mehr möglich“, informiert Holger die Mitglieder über die Internet-Gruppe. Gründe hierfür: die wachsende Zahl Obdachloser, die vorbeikamen, klagende „Spießbadener“ – und ein neu eröffnetes Café. Nach Gesprächen mit der Stadtverwaltung, steht nun ein neuer Verteilplatz fest: Seit einigen Wochen sind die Helfer am Luisenplatz. Eine gute Wahl, sagt Holger, da sehr großzügig. Auch Nicole ist zufrieden: Der alte Ort war am Straßenrand, und auf Dauer war er – auch wegen steigender Zahl an Obdachlosen, die zu ihnen kamen – viel zu gefährlich.

Und dann spricht sie übers Helfen. „Manchmal kommen Leute zu mir und fragen: Wir wollen helfen, aber wir wissen nicht, wie. Dann sage ich ihnen: Leute – redet nicht, macht es einfach. Manche sagen, die Obdachlosen würden ihre Hilfe doch gar nicht annehmen. Meine Antwort lautet: Dann nehmt es einfach nicht persönlich und probiert es ein anderes Mal“, sagt Nicole, und fügt hinzu: „Niemand ist gerne auf Hilfe anderer angewiesen. Es sind Menschen wie du und ich. Aber sie freuen sich, ehrlich, das tun sie.“

Facebook-Gruppe Obdachlosen-Hilfe Wiesbaden.