Ommes von der SpVgg. bekommt den Ball im Mittelfeld zugesteckt, lässt Jupp aussteigen und zieht aus rund 20 Metern ab. Ein Schuss wie ein Strahl. Die Spieler sowie die knapp hundertfünfzig Zuschauer, die sich um den Platz des SSV versammelt haben, schauen gespannt dem Ball hinterher. Es geht schließlich noch um einiges. Es ist der letzte Spieltag der C-Jugend-Saison 1992/93, und der SSV kann noch Meister werden. Das gab es seit Jahren nicht mehr, dass eine Mannschaft des SSV einen Titel holen kann. Wir liegen punktgleich mit der SpVgg. auf Platz 2. Ein Sieg heute, und wir sind Meister.
Das Spiel wogt hin und her. Tore? Bisher Fehlanzeige. Dann zieht Ommes ab. Viele Gelegenheiten wird es nicht mehr geben. Der Schiri hat schon mehrmals auf seine Uhr geschaut. Ein Treffer würde jetzt das Spiel entscheiden. Der Ball fliegt weiter Richtung Tor. Guiseppe im Tor des SSV streckt sich, so gut er kann. Doch er ist zu klein und pummelig und verpasst den Ball. Aber genau deshalb ist er der perfekte Torwart für uns.
Wir sind dreizehn Jungs, deren fußballerisches Talent man als überschaubar bezeichnen kann. Jupp zum Beispiel, unser Vorstopper. Seine Füße taugen zwar zum Laufen und Stehen, aber nicht zum Fußballspielen. Seine Aufgabe deshalb: den gegnerischen Mittelstürmer so oft wie möglich treten, und wenn er mal einen Ball bekommt, diesen ins Aus zu kicken. Oder Matze. Unser Linksverteidiger. Der ist schon mit 14 Jahren über 1,80 Meter groß und wiegt um die 70 Kilogramm. Sein Schuss ist unglaublich hart. Seine Freistöße von kurz hinter der Mittellinie sind berüchtigt. Ebenso seine Einwürfe, die über das halbe Feld fliegen und damit perfekt für unser System sind. Hinten dicht machen, dann lang nach vorne und auf ein Tor von Michi oder mir hoffen. Warum wir in dieser Saison das Leicester City des Rheingaus sind, weiß niemand. Davor und danach befanden wir uns immer im Mittelfeld der Liga.
Es dauert quälend lange Sekunden, bis der Ball an die Unterseite der Latte knallt und dann auf der Linie aufschlägt. Nochmal Glück gehabt, denken wir. Doch dann der Pfiff des Schiris. Tor. Auf den nichtvorhandenen Rängen: erst Unverständnis, dann Wut und wüste Beschimpfungen in Richtung des Schiris. Doch der bleibt dabei. Tor. Die SpVgg. führt 1:0. Unsere wütenden Angriffe danach: erfolglos. Dann ertönt der Schlusspfiff. Wir haben verloren. Die Meisterschaft ist futsch. Das Publikum ist stinksauer. Der Schiri flüchtet vom Platz und schließt sich in seiner Kabine ein. Sicher ist sicher.
Wir bekommen davon nichts mehr mit. Wir sitzen mit hängenden Köpfen in der Kabine. Die Tür fliegt auf, und unser Trainer kommt rein, eine Kiste Bier in den Armen. „So Jungs, jetzt lernt ihr, wie Männer Frust bekämpfen“, sagt er und reicht jedem von uns ein Bier. Gewiss: Fußball ist Opium für das Volk. Aber er schreibt auch die schönsten Dramen. Auch wieder bei dieser EM. Ich freue mich darauf.
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Illustration: Marc „King Low“ Hegemann