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Falk Fatal meint: Wer keine Visionen hat, soll zum Arzt gehen

Illustration: Marc „King Low“ Hegemann

Einer der meistzitierten Politikerinnen*-Sätze stammt aus dem Mund des ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt. „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“, soll dieser gesagt haben. Leider haben nachfolgende Generationen von Politikerinnen diesen Satz als Glaubenssatz verinnerlicht. Leider, weil dieser Satz auch einer der dümmsten Sätze ist, die eine Politikerin gesagt hat.

Denn ohne Visionen gibt es keinen Fortschritt. Nicht wirtschaftlich, nicht gesellschaftlich und auch nicht politisch.

Wer keine Visionen hat, wird es schwer haben, Ziele zu formulieren und Wege zu finden, diese zu erreichen. Wer keine Visionen hat, kann nichts gestalten und wird immer nur reagieren können. Das nennt sich dann pragmatisch und mag in diesem Moment sogar richtig sein. Doch wenn dieser Pragmatismus keinem Ziel, keiner Vision folgt, ist er nur ein weiterer Verwaltungsakt, der den Status Quo zementiert.

Genau dieser Pragmatismus hat die Politik der vergangenen zwanzig Jahre bestimmt und dafür gesorgt, dass inmitten einer Pandemie Gesundheitsämter immer noch Faxe versenden müssen, weil eine leistungsstarke digitale Infrastruktur nicht existiert. Das Internet ist ja immer noch Neuland für alle.

Dank dieses Pragmatismus wurde der Atomausstieg beschlossen, gleichzeitig der Ausbau erneuerbarer Energien erschwert bis verhindert, nur damit man sich in die absolute Abhängigkeit eines faschistischen Diktators und einigen fröhlich Menschenrechtsverletzungen am laufenden Band begehenden Öl-Scheichs begeben konnte, obwohl auch vor zehn Jahren längst klar war, dass die Klimakatastrophe im Sauseschritt näher kommt und die Lebensgrundlagen nachfolgender Generationen zerstören wird. Aber wer die Vision hat, dass die Menschheit auf erneuerbare Energien setzt und in Frieden miteinander lebt, soll zum Arzt gehen. Ist klar.

Wer Visionen hat, kann bei der Umsetzung scheitern. Zum Beispiel bei dem Versuch, bis Ende 2022 die Busflotte der ESWE von Diesel- auf Elektroantrieb umzustellen. Das wird nicht klappen. Höchstens die Hälfte der Busflotte wird bis Jahresende elektrisch angetrieben werden. Die Häme aus dem reaktionären Lager ist groß, aber fehl am Platz. Denn die Vision eines emissionsarmen öffentlichen Personennahverkehr bleibt richtig. Die Gründe für die Verzögerung sind bekannt und lösbar. Das macht diese Vision nicht weniger richtig.

Die Wahrheit ist: Der Mangel an Visionen hat uns in eine Lage gebracht, in der die nächsten Schritte umso radikaler ausfallen müssen, um den Karren aus dem Dreck zu ziehen. Falls jemand eine Vision hat, wie das gelingen kann: jetzt ist ein guter Zeitpunkt, um sie zu äußern.

* Diese Kolumne wurde im generischen Femininum geschrieben. Personenbezeichnungen beziehen sich gleichermaßen auf Frauen und Männer, auch wenn dies in der Schreibweise nicht immer zum Ausdruck kommt.

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