Von Hendrik Jung. Fotos: Kai Pelka.
Auch in einer vermeintlich beschaulichen Kurstadt wie Wiesbaden gehört Gewalt zum Alltag. Erkundungen zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit.
Drei Tage im Mai 2022: Am Montag nach Muttertag fordert ein etwa zwölf Jahre altes Kind am Kasteler Rheinufer das Bargeld eines Elfjährigen und greift ihn an. Am Tag darauf schlägt eine 42-jährige Frau in Dotzheim einen 26-jährigen Mann mehrfach mit einem Schlüsselbund gegen den Kopf und tritt ihn in den Bauch. Am Donnerstag derselben Woche schließlich kommt es zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung in einem Linienbus. Nachrichten wie diese gibt es in Wiesbaden immer häufiger zu lesen. Scheint es zumindest.
Weniger Körperverletzungen, mehr Raub
Die Kriminalstatistik für das vergangene Jahr zeigt unterschiedliche Entwicklungen auf. Demnach sind die Zahlen im Bereich der Körperverletzungsdelikte im vergangenen Jahr mit 2.360 erfassten Fällen auf ein Zehnjahres-Tief gesunken. Gut 60 Prozent davon sind von erwachsenen Tatverdächtigen im Alter ab 21 Jahren begangen worden, ein Drittel befand sich im Alter zwischen 14 und 21 Jahren. Auch die Anzahl dieser Delikte auf öffentlichen Straßen, Wegen und Plätzen ist gegenüber 2020 um 13 Fälle auf 399 gesunken. Im Schnitt hat es also im vergangenen Jahr im öffentlichen Raum immer noch mindestens eine Körperverletzung pro Tag gegeben. Steigende Zahlen werden wiederum im Bereich Raub und räuberische Erpressung verzeichnet. Auch im öffentlichen Raum, wo es 2021 im Vergleich zum Vorjahr zu einem Anstieg um sieben auf 66 erfasste Fälle gekommen ist.
Auswirkungen der Pandemie
Gerade, was die jüngere Vergangenheit angeht, sind auch in der Kriminalstatistik die Auswirkungen der Pandemie zu berücksichtigen. „Dies trifft auch auf gewaltsame Auseinandersetzungen zu, bei denen sich das Straftaten-Aufkommen nach der zweijährigen Pandemie-bedingten Beeinflussung aktuell wieder an das Niveau von 2019 anzugleichen scheint“, erläutert Polizeidirektorin Susanne Rohlfing, stellvertretende Leiterin der Polizeidirektion Wiesbaden. Eine abschließende und damit belastbare Aussage lasse sich jedoch erst nach dem Ende des laufenden Jahres treffen.
Bereits vor gut vier Jahren haben Stadtverwaltung und Polizeipräsident ein Konzept vorgestellt mit dem Titel „Gemeinsam Sicheres Wiesbaden“. Zu den zehn Punkten gehören ein Sperrkonzept gegen Amokfahrten, eine verstärkte Überprüfung des Personals im Taxigewerbe oder eine Verstärkung der Präventivstreifen in der Innenstadt.
Kontrovers diskutierte Maßnahmen
Teil des Konzepts sind auch die kontrovers diskutierten Maßnahmen der Einrichtung einer Waffenverbotszone und der Installation sowie Erneuerung der Videoüberwachung. Der Betrachtungszeitraum für die Wirksamkeit der Waffenverbotszone, die vor allem in der Fußgängerzone und dem Westend besteht, ist auf drei Jahre angelegt. Im Mai lief gerade die Bewertung und Analyse der Jahre 2019 bis 2021. Die Ergebnisse dürften also bald vorliegen.
In den Video-überwachten Bereichen wiederum habe im vergangenen Jahr bei 253 Straftaten eine Auswertung in der Videoschutzanlage vorgenommen werden können. In 135 dieser Fälle habe das Polizeipräsidium Westhessen einen Tatverdächtigen ermitteln können. „Mit Hilfe der generierten Aufnahmen konnten Tathandlungen beweissicher nachvollzogen, Ermittlungen zielgerichteter gesteuert oder Lichtbilder von Tatverdächtigen abgerufen werden“, berichtet Susanne Rohlfing. Ohne die mehr als 70 Videokameras, die etwa rund um den Platz der Deutschen Einheit und den Hauptbahnhof installiert sind, sei in 47 dieser 135 Ermittlungsverfahren die Identifizierung der Tatverdächtigen nicht möglich gewesen. Andererseits lösen gerade die mächtigen Überwachungskameras bei manchen Passanten erst recht Unbehagen aus und werden als überzogen wahrgenommen. Auch in der Stadtpolitik gibt es neben Verfechtern auch vehemente Gegner.
Mehrheit fühlt sich sicher
Die Zahlen der Kriminalstatistik müssen natürlich nicht das Sicherheitsgefühl in der Bevölkerung widerspiegeln. Über dieses gibt eine Erhebung Aufschluss, die das Amt für Statistik und Stadtforschung im Januar 2020 veröffentlicht hat. Befragt worden sind 1.325 Personen im Alter bis zu 29 Jahren, von denen nicht jeder alle Fragen beantwortet hat. Rund zwei Drittel davon fühlten sich damals im öffentlichen Raum sicher oder eher sicher. Aber auf die Frage nach der Entwicklung in den vergangenen fünf Jahren lautete die Hälfte von 1.022 Antworten, dass man sich weniger sicher fühle. Nur fünf Prozent sagten, dass sie sich sicherer als vor fünf Jahren gefühlt haben. Das veranschaulichen auch Aussagen, die im Rahmen der Erhebung gemacht worden sind: „In der Wiesbadener Waffenverbotszone kann man sich nicht nachts, alleine, aufhalten. Da man sehr schnell von Gruppen mit aggressivem Verhalten angepöbelt wird. Sehr ähnlich ist die Situation in Wiesbadener Parks“, heißt es da etwa.
Top 5 der unbehaglichen Orte
Von den fast 2.200 Nennungen von unsicheren oder zumindest unbehaglichen Orten in Wiesbaden gehören zu diesem Zeitpunkt zu den mit Abstand meistgenannten mit gut 16 Prozent der Platz der Deutschen Einheit und mit nahezu zehn Prozent der Hauptbahnhof. Aber auch der Luisenplatz, der Mauritiusplatz und der Warme Damm befinden sich unter den ersten fünf. Unter den Personengruppen werden neben Alkoholisierten auch Menschen mit Migrationshintergrund mit weitem Abstand als am Bedrohlichsten empfunden. Beide Gruppen erreichen annähernd zwanzig Prozent unter den 1.323 Nennungen.
Obwohl in der Erhebung mit 81 Prozent Studierende, Akademiker sowie Personen mit Abitur oder Fachhochschulabschluss eindeutig überrepräsentiert sind, spiegelt sich das auch in einigen der gemachten Aussagen wider. „Aggressive Verhaltensweisen; oft bei ausländerfeindlichen Deutschen aber auch oft Flüchtlinge, die in Gruppen durch die Straßen laufen bei Tag und Nacht.“, werden da als Problem benannt. Bei den innerhalb der fünf vorangehenden Jahre konkret gemachten Erfahrungen dominieren sowohl bei männlichen als auch weiblichen Befragten mit mehr als 60 Prozent die Bedrohungen und das Anpöbeln. An zweiter Stelle jedoch gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede: 44 Prozent der befragten jungen Frauen und Mädchen berichteten davon, sexuell belästigt worden zu sein. 18 Prozent der jungen Männer und Jungs dagegen nannten körperliche Angriffe und Verletzungen.
Antisemitische Bedrohungen
Bei der Anlaufstelle Antisemitismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit der Jugend- und Bildungsinitiative Spiegelbild betrachtet man sowohl Belästigungen als auch Angriffe als Gewalt. Derzeit ist man hier noch darauf beschränkt, für den Umgang mit diesen Phänomenen Beratungsangebote für Einrichtungen oder Organisationen zu machen und persönlich Hilfesuchende mit anderen Einrichtungen zu vernetzen. Doch wird eine lokale Beratungsstelle für Betroffene noch in diesem Jahr bei Spiegelbild eingerichtet werden können. Der entsprechende Beschluss der Stadtverordnetenversammlung liegt bereits vor. Dass der Bedarf vorhanden ist, habe sich in den vergangenen drei Jahren gezeigt, betont Bildungsreferentin Verena Delto. So habe eine Organisation Drohungen erhalten, die antisemitisch gedeutet werden könnten.
Selbstverständlicher Sexismus
Innerhalb von Einrichtungen sei nicht die Frage, ob, sondern lediglich wann Aspekte von Antisemitismus oder gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit auftauchen. Wichtig sei es daher, eine Haltung als Organisation dazu zu entwickeln und zu lernen, wie man damit umgehen kann. Überwiegend kämen Anfragen bislang zu den Bereichen Antisemitismus und Rassismus, doch auch Sexismus ist in Wiesbaden ein Problem, wie die durch Aktivisten mit Kreide dokumentierten sogenannten Cat Calls im Stadtgebiet immer wieder vor Augen führen. „Sexismus wird in vielen Bereichen noch als selbstverständlich angesehen“, bedauert Bildungsreferent Florian Wehrle. Dabei könne psychische Gewalt genauso verletzen wie physische. Zudem sei sie oft der erste Schritt zu körperlicher Gewalt.
Das weiß man auch beim Verein Frauen helfen Frauen, der seit 1977 in Wiesbaden aktiv ist und seine kostenlose Beratung seit 1985 durch eine Beratungsstelle kontinuierlich betreibt. Ein wichtiger Meilenstein in dieser Zeit ist das vor gut zwanzig Jahren in Kraft getretene Gewaltschutzgesetz.
Kontaktverbote per Gesetz
Dies ermöglicht in Wiesbaden etwa, dass die Polizei dem Täter eine Wegweisung aus der gemeinsamen Wohnung erteilt, die in der Regel zwei Wochen beträgt. In dieser Zeit können sich die Betroffenen überlegen, wie sie weiter vorgehen wollen. Das Gesetz ermöglicht etwa Schutzanordnungen, mit denen den Tätern verboten werden kann, sich den Betroffenen zu nähern oder sie zu kontaktieren.
Hessenweit einmalig ist die Interventionsstelle für Frauen, die von häuslicher Gewalt betroffen sind, an der unter anderem der Verein beteiligt ist. An drei Tagen pro Woche stehen Experten aus diesem Kreis für persönliche Beratungen im Polizeipräsidium zur Verfügung. Außerdem wird bei Polizeieinsätzen auf Beratungsangebote verwiesen. Durch das Ausfüllen eines Formulars können Betroffene ihr Einverständnis erteilen, dass Beschäftigte einer Beratung mit ihnen Kontakt aufnehmen.
Die Mitarbeiterinnen des Vereins Frauen helfen Frauen sind im vergangenen Jahr auf verschiedenen Kanälen von 1.055 Betroffenen kontaktiert worden. Seit Ausbruch der Pandemie finden Beratungen hier vermehrt per Video statt. Entgegen der landläufigen Meinung sei es in den vergangenen beiden Jahren jedoch nicht zu einem starken Anstieg bei der häuslichen Gewalt gekommen. „Weder die Polizei noch die Beratungsstelle hat festgestellt, dass sich die Zahlen extrem erhöht hätten“, berichtet Sozialpädagogin Bärbel Lingelbach.
Prävention für bessere Streitkultur
Die Kriminalstatistik weist für das Jahr 2021 zwar eine Verringerung um 11,7 Prozent auf 837 Taten aus. Damit befänden sich die Fallzahlen jedoch immer noch über dem Niveau von 2019. Für eine bessere Prävention würde sich Bärbel Lingelbach wünschen, dass Angebote wie Bizeps, eine Beratungsstelle für Männer und Jungs in Wiesbaden, besser angenommen würden, wenn sich abzeichne, dass die Aggression im Verhältnis eines Paares steige. Auch Paarberatungen könnten dabei helfen, Streitkultur zu verändern.
Sportplätze als Spiegelbild der Gesellschaft
Mit Auswüchsen bei Auseinandersetzungen rund um die Sportplätze hat auch der Sportkreis Wiesbaden zu tun. In der jüngeren Vergangenheit ist es hier immer wieder zu Rudelbildungen, gewalttätigen Auseinandersetzungen und Spielabbrüchen gekommen. „Wir sind ein Spiegelbild der Gesellschaft. Es ist leider so, dass bestimmte Grenzen nicht mehr eingehalten werden“, bedauert Kreisfußballwart Dieter Elsenbast. Alle Prävention helfe wenig, wenn jemand ausraste, weil die betreffende Person dann nur schwer wieder einzufangen sei. „Es ist eine Entwicklung, die in den vergangenen Jahren vorangeschritten ist, dass man das Verlieren können verliert“, verdeutlicht Dieter Elsenbast.
Niederlagen einstecken
Zum Sport gehöre es aber zwangsläufig dazu, dass man auch Niederlagen einstecken müsse. Gewalt auf dem Fußballplatz sei unakzeptabel insbesondere aufgrund der Vorbildfunktion für den Nachwuchs. Hier können langfristig Formate wie die Fair Play Liga oder Funino dafür sorgen, dass der Ergebnisdruck schwindet. „Das große Problem im Jugendbereich sind die Eltern, die von außen einwirken“, betont Dieter Elsenbast. Deshalb seien Regeln für größere Abstände zum Sportfeld eingeführt worden. Bei denen, die sich beim Ausrasten über Regeln hinwegsetzen müssen es Strafen und Sportgerichtsverfahren richten, wenn nicht über Mediation eine Änderung im Denken und Verhalten erreicht werden kann.
Angriffe auf Polizeibeamte
Gesamtgesellschaftlich wird Strafverfolgung aber immer mehr zum Problem. So sind in Wiesbaden im vergangenen Jahr 83 Polizeibeamte im Dienst angegriffen worden. 2019 sind es mit 44 Personen noch fast die Hälfte gewesen. Opfer einer Straftat sind im Jahr 2021 sogar insgesamt 220 Einsatzkräfte geworden, darunter auch fünf Rettungskräfte. Die Stadtpolizei meldet für das laufende Jahr, dass bereits vier Mitarbeiter in Ausübung ihres Dienstes verletzt worden seien. Bei der kommunalen Verkehrspolizei habe es in den vergangenen Monaten zwei gewalttätige Übergriffe gegeben. Eine mögliche Ursache sei, dass Bürger etwa im Umfeld der Querdenker-Szene grundsätzlich eine Abneigung gegen den Staat und uniformierte Kräfte als dessen Repräsentanten hätten.
von wem die gewalt überwiegend in wiesbaden ausgeht sollte alle wissen und nein es sind die rechten