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Handwerk: Wie cool ist das denn? Neue Wege zum Nachwuchs – und wie das beim Nachwuchs ankommt

Von unserer Praktikantin Samira Schwarz. Fotos Kai Pelka.

Das Erdgeschoss des Luisen-Forums in der Kirchgasse. In einem der Ladenlokale des Einkaufszentrums fällt eine Gruppe Jugendlicher auf, laute Stimmen und Lachen dringen heraus. Doch es handelt sich nicht um ein neues Geschäft. Der MakerSpace der Handwerkskammer Wiesbaden und der Kreishandwerkerschaft Wiesbaden Rheingau-Taunus lud einen Monat lang zum Ausprobieren ein. Das Ziel: Zeigen, was „das Handwerk“ zu bieten hat. Junge Leute, die sich fragen – Handwerk, wie cool ist das denn? – konnten hier auf überraschende Antworten kommen. Der MakerSpace war der jüngste, aber nicht der erste und einige Versuch, den Nachwuchs fürs Handwerk zu interessieren und bestenfalls zu begeistern.

Zwölf Stationen zum Eintauchen

An zwölf Stationen tauchen die Schüler:innen in die verschiedensten Handwerksberufe ein. Von der Raumausstatter- bis hin zur Dachdecker-Innung sind die vielfältigen Ausbildungen vertreten. Der Startschuss: Alle stürmen los zu den Elektro-, Schreiner-, Friseur- und Fliesenständen.

Hier wird etwas getan, neben der Werkbank liegen Sägespäne, es werden Vasenhalter aus Metall gebogen, Ziegel mit Mörtel bearbeitet und Frisuren ausprobiert. Dank VR-Brillen führen Azubis die Schüler:innen virtuell anschaulich durch ihre Betriebe. „Ich finde es richtig cool. Man bekommt nicht nur erzählt, sondern kann probieren. Genau mit sowas kann man die Jugend erreichen“, findet die 16-jährige Mara.

Den Nachwuchs erreichen, vor diesem Problem steht das Wiesbadener Handwerk bereits seit einigen Jahren. Die Zahlen zur aktuellen Ausbildungslage zeichnen ein beängstigendes Bild für die Zukunft eines Bereichs, der essenziell für so viele alltägliche Dinge des Lebens ist. Im Vergleich zum Vorjahr sind im Zeitraum von Oktober 2021 bis September 2022  immerhin 0,6% mehr Ausbildungsverträge abgeschlossen worden – dennoch: Das Vor-Corona Niveau ist noch nicht eingeholt.

Elektro und Metall vorne in der Azubi-Gunst

Rund 3000 Azubis begannen im Jahr 2021 in etwas mehr als 3.500 Betrieben ihre Lehre. Insgesamt werden etwa 8.500 ausgebildet. Frauen sind ebenso unterrepräsentiert, ebenso Ausländer:innen, sie machen jeweils nur etwa 16% aus. Am beliebtesten: Ausbildungen im Bereich Elektro und Metall, ca. 45% der Azubis wählten diese Richtung, kurz darauf folgt Bau und Ausbau mit ca. 20%. Nur 0,3% entschieden sich für Bekleidung, Textil und Leder, dies sind etwa 60% weniger als im Jahr 2020. Die Top Ten machen insgesamt 69,5% des Gesamtbestandes aus. Ganz oben: Kraftfahrzeugmechatroniker:in.

Auf Platz sieben der Top Ten findet sich die Ausbildung als Dachdecker:in. Das Wiesbadener Dachdeckergeschäft Nies GmbH hat insgesamt vier Auszubildende und einen Umschüler – und das bei einem kleinen Team von 25 Mitarbeitenden. „Ausprobieren ist das A und O. Keiner fängt ohne Probearbeit an“, erklärt Geschäftsführerin Claudia Temmen. Doch auch hier gehen die Zahlen zurück, früher gab es rund zehn Auszubildende, im letzten Jahr nur fünf.

Schwer ist alles – mit dem Ziel kommen die Möglichkeiten

Alimou Condé ist bei Nies im dritten Lehrjahr, bereits von Anfang an fiel der gebürtige Guineer als besonders lernbereit und fleißig auf. Schon während des ProJob Programms, in dem er Grammatik und Deutsch auf B1 Niveau lernte, hatte er nur ein Ziel: Eine Ausbildung machen. Durch die Empfehlung einer Lehrerin kam Alimou auf den Beruf des Dachdeckers. Bereits das Praktikum absolvierte er im Betrieb. Um den Weg durch die Berufsschule besser bestreiten zu können, machte er vor Ausbildungsbeginn das EinstiegsQualifizierung+ Programm. Danach ist er als Auszubildender eingestiegen, und sein Fleiß macht ihn immer noch aus: Im Februar wurde er von der Handwerkskammer zum Lehrling des Monats gekürt.

„Das passt zu mir. Ich könnte vielleicht auch mal was im Büro erledigen, aber ich bin körperlich, ich will was machen“, erklärt der junge Mann, der einst alleine und ohne deutsche Sprachkenntnisse aus seinem westafrikanischen Heimatland Guinea nach Deutschland kam, seine Motivation, einen Handwerksberuf zu erlernen. Dem zukünftigen Nachwuchs rät er: „Junge Leute sollten sich Mühe geben und Motivation haben. Heutzutage gibt es keine einfache Arbeit, alles ist schwer. Man muss ein Ziel haben und dann kommen alle Möglichkeiten“.

Seine Kollegin Sarah Spies ist im zweiten Lehrjahr. Die 23-Jährige war schon als Kind sehr technisch interessiert: „Das hat sich dann über die weiterführende Schule in die Berufsfachschule  in Fachrichtung Mechatronik ergeben, und ab dem Zeitpunkt bin ich eigentlich gar nicht mehr aus dem Handwerk rausgegangen.“ Den Weg aufs Dach hat sie eher durch Zufall eingeschlagen, aber stellt klar: „Ich würde nie wieder runter gehen“.

Werkunterricht in Schulen verankern

Den Nachwuchs besser erreichen – das große Ziel. Und die große Frage: Aber wie? Sarah findet: „Aktiv in den Schulen mehr anwerben und nicht nur die Botschaft `ihr müsst alle Abi machen und studieren´, sondern wirklich vielleicht auch mal mehr Praktika vorschreiben.“ Und: „Ich fände es auch gut, wenn Werkunterricht wieder mehr angeboten wird.“

Mit dieser Idee liegt sie auf einer Wellenlänge mit Siegfried Huhle. Als Kreishandwerksmeister forderte der Generalunternehmer der bekannten Wiesbadener Firma Huhle Stahl- und Metallbau 2019 in einem „Vision für Wiesbaden“-Gastbeitrag im sensor Werkunterricht als Pflichtfach an allen Wiesbadener Schulen. Seine damalige Überlegung: „Kinder können Erfolge haben und sind vielleicht begeistert von ihren Leistungen. Sie erleben plötzlich, dass ihre Hände auch noch für ein Gestalten Fähigkeiten haben, anstatt nur Tastaturen zu tippen.“ Er fordert: „Lasst den Kindern doch die Erfahrung mit Scheren, Sägen, Hammer, etc. Kleben, Löten, Nähen, Kochen – all diese Fähigkeiten gehen unseren Kindern verloren.“ Und Huhle hofft: „Jemand, der den Spaß erfahren hat, handwerklich zu arbeiten, erinnert sich vielleicht daran und entscheidet sich beim anstehenden Schulpraktikum für einen Handwerksbetrieb.“

Ausbildung mit Ausblick

Jungen Frauen, die unsicher sind, ob sie sich selbst im Handwerk sehen, rät die Dachdecker-Auszubildende Sarah Spies, es einfach auszuprobieren. Das Schönste an ihrer Ausbildung: „Wir haben die besten Ausblicke. Ich bin hier auch in einem super Team gelandet, die Mannschaft hier ist mein Highlight“. In dem Punkt sind sich Alimou und Sarah einig: Handwerk ist für sie Teamwork. Ausbilder und Meister Julius Wagner ergänzt: „Handwerk ist Tradition und Zukunft zugleich. Ohne Handwerk geht nichts“.

Höher hinaus geht es künftig auch für die Löhne der Dachdecker:innen. „Höhere Löhne fürs Arbeiten ganz oben“ vermeldete Ende November die Gewerkschaft IG Bau Wiesbaden-Limburg als Verhandlungserfolg unter anderem ein Stundenlohn-Plus für Gesellen von 5 Prozent auf 20,50 Euro und auch bis zu zwei Tage mehr Urlaub. Derzeit gibt es in Wiesbaden nach Angaben der Arbeitsagentur 34 Dachdeckerbetriebe mit rund 270 Beschäftigten.

Lockt „Klima-Handwerk“ neue Azubis?

Genau wie der Wiesbadener Handwerkskammer-Präsident Stefan Füll im 2×5-Interview der aktuellen sensor-Ausgabe (Seite 32) haben auch die Gewerkschafter die „Generation Fridays for Future“ als neue Zielgruppe im Blick: „Es gehört zum Job der Dachdecker, Solarpanels auf die Dächer zu bringen. Um stärker auf Sonnenenergie in Wiesbaden zu setzen, braucht das ‚Klima-Handwerk‘ allerdings Azubis. Deshalb wird auch die Ausbildung in Dachdeckerbetrieben jetzt noch attraktiver“, sagt IG BAU-Bezirksvorsitzender Karl-Heinz Michel. So erhalten Auszubildende nach Angaben der IG BAU Wiesbaden-Limburg im 3. Lehrjahr künftig 1.260 Euro. Ab Oktober nächsten Jahres sind es dann 1.320 Euro.

Gesellschaftliches Problem

Das niedrige Niveau der neu begonnen Ausbildungen ist  nicht nur ein aktuelles Problem. Wenn sich die Zahlen nicht ins Positive verändern, wird dies vor allem eine Problematik der Zukunft. „Weniger Auszubildende heute bedeuten in drei Jahren weniger Gesellinnen und Gesellen und in fünf Jahren eine geringere Zahl von Jungmeisterinnen und Jungmeistern. Damit fehlen auch Betriebsinhaberinnen und Betriebsinhaber und es kommt zu Problemen bei Betriebsübernahmen”, betont der Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer Wiesbaden, Bernhard Mundschenk. „Die sinkenden Ausbildungszahlen sind ein gesamtgesellschaftliches Problem und benötigen eine gesamtgesellschaftliche Lösung“, so der Hauptgeschäftsführer.

Handwerk „hinter den Kulissen“

Das Handwerk ist allgegenwärtig, auch beim Theaterbesuch. Dass eine Vielzahl von Menschen beteiligt ist, um ein Stück auf die Bühne zu bringen ist vielen klar. Nur wenige dürften auf dem Schirm haben, dass in jedem Theaterbesuch auch ganz viel Handwerk steckt, angefangen bei den Bühnenbildern. „Viele sehen Bühnenmalerei und denken, das ist ein kreativer Beruf. Aber es ist Handwerk“, “, betont Hannah Miriam Frost, Auszubildende im zweiten Lehrjahr zur Bühnenmalerin am Hessischen Staatstheater Wiesbaden: „Man kriegt die Vorlagen hingelegt, und natürlich muss man irgendwie Wege finden, wie man das umsetzt, gerade in diesen großen Formaten. Aber das ist dann auch ein Handwerk, das man lernt.“

Im Malersaal des Hessischen Staatstheater hat Hannah ihre Bestimmung gefunden. Die 23-jährige wollte ein Teil des Theaters sein, hinter die Kulissen gucken und mitwirken. Einen Computerjob hätte sie sich nie vorstellen können: „Den ganzen Tag auf den Beinen zu sein, kann natürlich anstrengend sein, aber man hat auch das Gefühl etwas geschafft zu haben.“ Was sie begeistert: Man hat nicht kleine Dateien auf dem Computer, sondern am Ende des Tages hat man ein fertiges Bild oder sieht wie viele Wände man gestrichen hat.“

Das Studium läuft nicht davon

Ursprünglich wollte Hannah studieren, sie habe Abi gemacht und das wäre der vorgezeichnete Weg, sagt sie. Doch nach einem sechsmonatigen Praktikum hat sie gemerkt: „Selbst, wenn ich danach noch studieren wollen würde, wäre die Möglichkeit noch da“. Den meisten Spaß hat sie beim Beobachten des Prozesses, eine komplett weiße Fläche vor sich zu haben und diese wachsen zu sehen. „Meine Ausbildung ist für mich Handwerk, aber auch Freude, es ist Ergebnisse sehen. Es ist Bewegung, es kann anstrengend sein, aber es gibt einem etwas zurück“, so die Auszubildende.

Hannah erklärt: „Wenn man gerne malt und zeichnet und das auch in diesem großen Raum machen will, dann ist es einfach ein toller Job. Es ist etwas Einzigartiges, was nicht so viele machen“. Derzeit hat das Staatstheater wieder zwei Bühnenmaler:in bzw. plastiker:in-Ausbildungsplätze ausgeschrieben.

Berufsberatung per WhatsApp und YouTube

Doch nicht alle jungen Menschen wissen bereits so genau wie die angehende Bühnemmalerin Hannah, wo sie sich sehen – und für die war der Pop-Up-MakerSpace, der noch bis zum 3. Dezember im Luisen-Forum geöffnet war, ein wichtiger Ort. Der 15-jährige David erklärt: „Es ist gut zu sehen, was man alles machen kann. Gerade wenn man keine Ahnung hat, was ein Schreiner oder Automechaniker macht“.

Neben innovativen neuen Wegen wie dem MakerSpace versucht das Handwerk auf verschiedensten Kanälen, die Arbeitskräfte der Zukunft zu erreichen. Bereits seit 2020 existiert der „Macherpodcast“,  hier berichten waschechte Handwerker:innen von ihrem Weg ins Handwerk und der Leidenschaft für ihren Beruf. Auch auf YouTube ist die Handwerkskammer Wiesbaden vertreten. In kurzen Videos werden zum Beispiel unterschiedliche Ausbildungsberufe vorgestellt.

Fünf Fragen bis zum Traumberuf

WhatsApp ist der meistgenutzte Messenger. Da liegt es nahe, eine bequeme Form der Berufsberatung direkt über die App anzubieten. Traumberuf im Handwerk gesucht? So einfach geht’s: Fünf Fragen im Chat beantworten und passende Berufe vorgeschlagen bekommen. Lehrstelle finden per App? Das geht durch den Lehrstellenradar 2.0! Kostenlos verfügbar für Apple und Android lassen sich dort freie Praktikums- und Lehrstellen im Umkreis finden.

Mitmachen erlaubt – Erfolgsformate mit Potenzial  

Handwerk zum Anfassen und Mitmachen, dass ist es, was die Jugend interessiert. Dies ist nur einer der Gründe, warum sich die Veranstaltung „Handwerk live“ am bundesweiten „Tag des Handwerks“ solcher Beliebtheit erfreut. Mitmachen ausdrücklich erlaubt heißt es jedes Jahr in den offenen Werkstätten. ist wichtig. Die Jugendlichen im MakerSpace begeisterte aber vor allem über das Ausprobieren.

„Der MakerSpace des Wiesbadener Handwerks war ein echtes Erfolgsprojekt“, sagte Kammerpräsident Stefan Füll angesichts der positiven Resonanz. „Die Besucherzahlen haben unsere Erwartungen deutlich übertroffen.“ Insgesamt 63 Schulklassen mit 1.073 Schülerinnen und Schülern sowie rund 460 Einzelbesucher haben während der Öffnungszeit das Zeit Handwerk in der City erlebt und erste praktische Einblicke im Handwerk sammeln können.  „Wir hoffen, dass diese Form der praktischen Berufsorientierung Jugendliche für ein Praktikum und im Idealfall auch für eine Ausbildung im Handwerk begeistert“, so  Handwerkskammer-Hauptgeschäftsführer Bernhard Mundschenk.  Seitens der Handwerkskammer Wiesbaden hatte Leonie Gallandi, die für Nachwuchsgewinnung und Berufsorientierung zuständig ist, das Projekt geplant, koordiniert und betreut. Die gelernte Konditormeisterin ist auch weiterhin Ansprechpartnerin für Jugendliche und Lehrer, die neugierig auf das Handwerk sind.

Praktisches Ausprobieren als Schlüssel

Generell sind sich Auszubildende und Chef:innen einig: Es muss die Möglichkeit geben, das Handwerk ganz praktisch kennenzulernen und herauszufinden, was einem liegt. Das Handwerk darf nicht aufhören, sich um den Nachwuchs zu bemühen, denn irgendwann werden die jungen Menschen von heute Kund:innen, Meister:innen und Angestellte von morgen. Und wenn sich plötzlich wieder mehr junge Leute sich für die spannenden, vielfältigen und wertvollen Berufs- und Karrierewege im Handwerk entscheiden würden: Wie cool wäre das denn!?

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