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Innercity Blues: Sind Innenstadt und Einzelhandel in Wiesbaden noch zu retten?

Von Hendrik Jung. Fotos Samira Schulz.

Sauberkeit und Sicherheit lautet ein beliebtes Mantra für die Wiesbadener Fußgängerzone. Dazu macht die Digitalisierung dem Einzelhandel zu schaffen. Doch es gibt in Sachen Innenstadt nicht nur Grund zur Klage, sondern auch gute Ideen.

189 Straftaten mit Waffenbezug hat das Polizeipräsidium Westhessen im vergangenen Jahr in der Wiesbadener Innenstadt verzeichnet. 28 mehr als im Vorjahr, ein Anstieg um 19 Prozent. Leicht gewachsen ist auch die Zahl der Körperverletzungen. Soweit die registrierten Fallzahlen. Auch „subjektiv“ fühlen sich manche Menschen zumindest abends und nachts auf öffentlichen Plätzen nicht mehr sicher. Besonders heißt diskutiert wird derzeit die Einrichtung einer möglichen Waffenverbotszone, für deren Einrichtung jedoch zunächst mal das Land Hessen eine Rechtsverordnung erlassen müsste. Was in Abstimmung mit der Stadtverwaltung bereits passiert, ist eine Ausweitung der polizeilichen Maßnahmen „für ein sicheres Wiesbaden“. Zehn Beamtinnen und Beamte sind für operative Maßnahmen frei gestellt, um Intensivtäter und erkannte Rädelsführer mit in Zivilkleidung eingesetzten Kräften zu ermitteln und festzunehmen. Seit Anfang Februar gibt es in der Polizeidirektion Wiesbaden außerdem einen Koordinator, der kurzfristig auf Lagephänomene reagieren und Einsatzmaßnahmen durchführen soll. Darüber hinaus erfolgen, vor allem am Wochenende und an Feiertagen, gemeinsame Einsätze mit der Bereitschafts-, Stadt- und kommunalen Verkehrspolizei.

Lieber laute Jugendliche als beängstigende Leere

Nicht alle fühlen sich jedoch von der herrschenden Situation beunruhigt. „Mir ist es lieber, wenn Jugendliche auf der Straße sind, die laut sind. Wenn es leer wäre, fände ich es gefährlicher“, findet Anja Roethele. Seit einem Jahr trägt sie dazu bei, dass auch spät in der Nacht oder früh am Morgen Menschen in der Fußgängerzone unterwegs sind. Mit Erfolg, denn 1.200 Personen haben im ersten Jahr an den Veranstaltungen in ihrem „Loftwerk“ teilgenommen, so dass sie schon bald eine Assistenz-Stelle schaffen will. Auf der Suche nach einem Platz für ihren Werk-Tisch hat die Goldschmiedin sich in die Räume in der ersten Etage eines 111 Jahre alten Hauses in der Langgasse verliebt. Weil die Fläche mit 240 Quadratmetern plus Nebenräumen für die Goldschmiede alleine zu groß ist, hat sie ein Konzept erarbeitet, das auch Ausstellungen, Genussveranstaltungen und die Vermietung an Privatleute und Firmen vorsieht. Für einen Betrag im niedrigen sechsstelligen Bereich hat die 45-jährige den Raum entsprechend eingerichtet, damit etwa jetzt im April eine Modenschau, eine Verkostung von Lachs und Champagner oder ein Gin-Tasting stattfinden können. Da kann es schon mal sein, dass die Gäste erst um zwei Uhr durch die Fußgängerzone nach Hause gehen. Bislang, ohne dass ein Problem aufgetreten ist.

Schlüssiges Konzept fehlt

„Was fehlt, ist ein schlüssiges Konzept, wie es mit der Stadt weiter geht“, urteilt Anja Roethele. Ideen gebe es viele, schön fände sie es, wenn man gemeinsam an einem Strang ziehen würde. Das haben einige ihrer Nachbarn bereits getan und sich mit einem Brief an den Oberbürgermeister gewandt. Auslöser waren die städtisch beauftragten Bauarbeiten in der Langgasse. „Die Baustelle war kurz nach unserem Start Ende September eine enorme Trübung des Geschäfts. Es gehört sich nicht, dass man da nicht mit einbezogen wird“, sagt Alexander Groh, Franchise-Nehmer beim Gastronomie-Betrieb „dean & david“. Vertreterinnen und Vertreter von insgesamt 32 Geschäften aus der Langgasse haben einen von ihm mit initiiertem Brief an OB Sven Gerich unterschrieben. Darin kritisieren sie auch die mangelnde Einbindung dieses Bereichs der Fußgängerzone bei öffentlichen Veranstaltungen, die Beleuchtungssituation sowie die monatelange Einrüstung des Römertors. In der Folge ist es zu einem Gespräch dreier Initiatoren mit Wirtschaftsdezernent Detlev Bendel und IHK-Geschäftsführer Gordon Bonnet gekommen. Das Resultat bewertet Alexander Groh positiv: „Wir gehen davon aus, dass bei der Wiederherstellung der Bepflasterung im April nichts passiert, sondern erst im Oktober. Das ist für uns eine Riesen-Erleichterung.“

Bessere Einbindung vereinbart

Man werde nun an einem Konzept arbeiten, wie die Langgasse zunächst beim diesjährigen Stadtfest besser angebunden werden könnte. Auch über eine Ausstattung dieses Bereichs der Fußgängerzone mit Weihnachtsbeleuchtung werde man weiter verhandeln. Was die Sicherheit angeht, berichtet Alexander Groh vor allem von einem Problem mit bettelnden sowie verwirrten Personen, die seiner Kundschaft auch schon mal was vom Teller klauten. Hier erhofft er sich eine Verbesserung der Situation durch den Einzug der Stadtpolizei in die Mauritiusgalerie. Dort werden unter anderem 27 Mitarbeiter des Außendienstes ihr neues Domizil finden, zu denen in den kommenden Monaten weitere 51 hinzukommen sollen. Von der Wiedereröffnung des Parkhauses Coulinstraße wiederum erhofft sich Alexander Groh eine Steigerung der Fußgängerfrequenz in der Langgasse.

Eine Zählung durch das Immobilien-Beratungsunternehmen Jones Lang LaSalle im Mai vergangenen Jahres ergab einen Schnitt von 7.585 Personen in der Kirchgasse. Gegenüber dem Durchschnitt der vergangenen zehn Jahre bedeutet das einen Rückgang von fast 30 Prozent. Nur eine Momentaufnahme, das Ergebnis macht aber auf jeden Fall eine Tendenz deutlich. Eine fünfjährige Erhebung hat zwischen 2009 und 2014 einen Rückgang der Einzelhandelsunternehmen in der gesamten Wiesbadener Innenstadt um fast sieben Prozent verzeichnet. Die bespielte Verkaufsfläche hat sich demnach im gleichen Zeitraum jedoch um rund 8.500 Quadratmeter erhöht. Und das bei monatlichen Gewerbemieten, die in der absoluten Toplage im vergangenen Jahr laut dem lediglich als Orientierungshilfe dienenden, Mietpreisspiegel der IHK noch bis zu 140 Euro pro Quadratmeter betragen haben. Eine ebenfalls von der IHK stammende Konjunkturumfrage hat Anfang dieses Jahres ergeben, dass zwar ein gutes Drittel der Einzelhandelsunternehmen ihre Geschäftslage als gut bewertet. Positive Erwartungen hegten jedoch mit 16 Prozent weniger als zuvor, während mit 18 Prozent nun deutlich mehr Befragte negative Erwartungen hätten.

Schlüsselrollen für Walhalla und City-Passage

„Wir brauchen hier neue Impulse und ein Gesamtkonzept, damit die Wiesbadener Innenstadt weiterhin attraktiv und lebendig bleibt. Ein City Manager könnte hier für Koordination und für die Umsetzung guter Ideen sorgen“, findet Gordon Bonnet. Wie Andreas Steinbauer, Wiesbadener Fachmann für Gewerbeimmobilien, erhofft er sich in Zukunft Belebung durch Walhalla und City-Passage – beides derzeit leer stehende zentrale städtische Immobilien mit ungeklärter Zukunft. Positiv bewertet man seitens der IHK, dass in der gesamten Wirtschaftsregion bereits die Hälfte der Groß- und Einzelhändler ihrer Produkte mit Hilfe digitaler Kanäle vertrieben, während es hessenweit noch nicht ganz ein Drittel seien.

Ein Paradebeispiel hierfür ist Schuhhändler Dominik Benner, der vor fünf Jahren in fünfter Generation das Familienunternehmen übernommen hat. Ein Jahr später hat er dann das Start-up Schuhe24.de gegründet, das mittlerweile auf den Warenbestand von 700 Geschäften in Deutschland zurückgreifen kann und deren Produkte auch im Ausland vermarktet. „Die Händler haben weder das Wissen noch die Kapazität dafür. Mit uns müssen sie nichts anderes machen, als die Schuhe zu verschicken“, verdeutlicht Dominik Benner. Im eigenen Unternehmen habe sich die Zahl der Geschäfte in der Region durch Übernahmen auf zehn verdoppelt.

Online-Start-up trifft Traditionsgeschäfte

Am Standort Wiesbaden etwa ist im vergangenen Jahr das Traditions-Schuhhaus Müller in der Ellenbogengasse hinzu gekommen, das durch die Optik der Wände und des aufgeklebten Fußbodens nun industriellen Charme gewonnen hat. Für eine Stärkung des Standorts würde er sich vor allem günstigen Parkraum in fußläufiger Entfernung zur Innenstadt wünschen. Zwar habe der Einzelhandel Probleme, aber die Gastronomie floriere wieder und funktioniere heute als Lockmittel für die Handelsgeschäfte. „Mein Herz schlägt für den stationären Handel“, beteuert Dominik Benner. Jede Bestellung, die über seinen Online-Shop abgewickelt werde, trage dazu bei, dass irgendwo in Deutschland ein Stück Innenstadt erhalten bleiben könne.

Quasi den umgekehrten Weg ist man bei der Modemarke Wemoto gegangen. Zwar haben die drei Gründer vor 15 Jahren die ersten sieben von verschiedenen Designern gestalteten T-Shirts zunächst in den Geschäften vor allem der Skater-Szene in der Region angeboten. Von den inzwischen mehr als 250 Verkaufsstellen, an denen die hauptsächlich in Asien produzierte Kollektion vertrieben wird, generieren diejenigen im Internet den meisten Umsatz. Dennoch gibt es seit Dezember vergangenen Jahres nun auch ein eigenes Ladengeschäft, ein paar Schritte abseits der Fußgängerzone in der Luisenstraße. „Unser Traum war es, unseren eigenen Laden zu haben, wo wir unsere Kollektion so präsentieren können, wie es uns gefällt“, berichtet Gregor Garkisch, einer der drei Gründer und Geschäftsführer von Wemoto. Aktuell bedeutet das, T-Shirt-Motive an den Wänden, entspannte Musik im Hintergrund und ein übersichtliches Angebot mit jeweils nur einer Größe pro Kleidungsstück im Verkaufsraum. Prominent präsentiert wird dort ein Shirt, das in Kooperation mit dem Wiesbadener Designer Jan Guntermann entstanden ist. Ein Künstler aus Offenbach soll im Laufe des Jahres die Wände gestalten, und es steht eine Feier zum 15-jährigen Bestehen an.

Der Klamottenladen als Ort der Begegnung

Außerdem könnte das im Back Office installierte DJ-Pult bei Afterwork-Veranstaltungen zum Einsatz kommen. „Wir müssen sehen, dass wir die Leute, die für uns interessant sind, hierher holen. Dabei ist es wichtig, Umsatz zu generieren, aber auch einen Ort der Begegnung zu schaffen“, betont Gregor Garkisch. Und weil die Gäste nicht alle zu Fuß, mit dem Rad oder dem Bus kommen, fände es der 39-jährige cool, wenn es ein System geben würde, mit dem Kundinnen und Kunden ein Teil ihrer Parkgebühren erstattet wird.

Torsten Hornung geht da mit gutem Beispiel voran. Als Händler für Münzen, Briefmarken, Uhren und Schmuck hat er sich überlegt, seiner Kundschaft einen Teil ihrer Park- oder Buskosten mit ansprechend verpackten Euro-Sondermünzen zu erstatten, die wahlweise als Sammelobjekt oder als Zahlungsmittel dienen können. Die Höhe der Parkgebühren ist auch der Aspekt, der bei einer Facebook-Umfrage als wichtig betrachtet worden ist. Nur getoppt von dem Wunsch nach mehr individuellen Geschäften. In seiner 35-jährigen Selbstständigkeit hat Torsten Hornung gelernt, die Vorteile der neuen Medien zu nutzen. So füge sich der Online-Handel bestens in seinen Tagesablauf ein.

Bevor der Laden öffnet, wird das Online-Geschäft erledigt

Bevor die Kundschaft in sein Geschäft in der Passage zur Wilhelmstraße kommt, könne er die über Nacht eingegangenen Bestellungen bearbeiten und verschicken. Mit einer geschlossenen Facebook-Gruppe, die nach sechs Wochen bereits an die 130 Mitglieder hat, möchte er den Austausch im inhabergeführten Einzelhandel fördern, aber auch die Gastronomie mit einbeziehen. Das Schaufenster seines Ladenlokals möchte er in Zukunft neu nutzen, indem er Produkte auf einem Bildschirm präsentiert, zu denen über QR-Codes zusätzliche Informationen abrufbar sein sollen. Die Bilder dafür sollen per Zufallsgenerator aus seinem Online-Shop ausgewählt werden.

Nebenbei jobben gehen, um eigenes Fachgeschäft zu retten

Unter den neuen Technologien ganz besonders zu leiden hat dagegen Beate Junghans. Denn als CD-Händlerin hat sie nicht nur Konkurrenz im Internet sondern das Trägermedium für Musik hat sich wieder mal entscheidend gewandelt. „Es funktioniert nicht mehr“, bedauert die Händlerin. Um das La Musica in der Ellenbogengasse offen halten zu können, muss sie inzwischen an zwei Vormittagen in der Woche zusätzlich arbeiten gehen. Aus Leidenschaft für ihr Metier und aus Liebe zu ihrer Kundschaft wird sie weiter machen, solange es geht. „Was soll ich mich online gegen Amazon aufstellen?“, fragt die 59-jährige. Kein Interesse daran hat auch die Inhaberin von Elle & Lui Moden in der Wilhelmstraße. „Manche verbinden online- und stationären Handel, das ist voll okay, aber ich würde das gar nicht packen“, erläutert Ilka Guntrum. Bis ein Kleidungsstück fotografiert und im Internet angeboten würde, sei es im Zweifel schließlich bereits verkauft. Außerdem habe sie mit zwei Schneiderinnen, die umgehend Änderungen vor nehmen, Modenschauen und weiteren Veranstaltungen ein Angebot, das der Online-Handel gar nicht bieten könne. Um die Fußgängerzone attraktiv und lebendig zu halten, engagiert sie sich als Vorsitzende der Werbegemeinschaft Wiesbaden wunderbar. Gerade hat man dort eine Satzungsänderung beschlossen, um mit der Interessengemeinschaft Wilhelmstraße zu fusionieren. „Es geht darum, Kräfte zu bündeln“, verdeutlicht Ilka Guntrum.

Kinderweihnachtsmarkt, Musikschul-Straßenmusikanten

Schließlich werde man nach der Fusion mit rund 120 Mitgliedern am Ziel arbeiten, Kaufkraft in Wiesbaden zu binden. Wünschen würde sie sich dafür vor allen Dingen einen dritten verkaufsoffenen Sonntag zu Halloween. Weitere Ideen wären ein eigener Kinderweihnachtsmarkt auf dem Luisenplatz, eine Einbindung der Musikschule in die Auswahl von Straßenmusikanten oder städtische Parkhäuser, mit denen die Stadt die Preispolitik mit bestimmen könnte. Nur einige der vielen Positionen, die deutlich machen, dass in der Wiesbadener Innenstadt nicht nur Probleme lauern, sondern auch Potenziale.

„Der visionäre Rueschoppen“ – eine Sonderausgabe der von sensor und Walhalla veranstalteten Diskussionsreihe „Der visionäre Frühschoppen“ – widmet sich dem Thema Innenstadt und Einzelhandel am Samstag, 9. Juni, im Rahmen des Wilhelmstraßenfestes auf der Burgstraße.

Das Editorial zum Mai-sensor fragt „Ist Wiesbaden in Lebensgefahr?“.