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Jüdisches Lehrhaus: Der Gang in die Tiefe

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Von Hendrik Jung. Fotos Kai Pelka. 

Kochen, Tanzen, Talmud – die jüdische Gemeinde Wiesbaden öffnet sich mit einem besonderen Angebot speziell für Besucher von außen. Das „Jüdische Lehrhaus“ vermittelt vielfältige Einblicke in Religion und Kultur. Das Interesse ist groß, der Erkenntnisgewinn – auch jenseits der Lebenswirklichkeit – ebenso.

Ihren rund 800 Mitgliedern bietet die jüdische Gemeinde etwa dreißig Veranstaltungen pro Woche. Auch diese stehen grundsätzlich Besuchern von außen offen. Seit dem vergangenen Jahr gibt es für externe Interessierte aber sogar ein eigenes Angebot: Das jüdische Lehrhaus. Teilnehmer schwärmen von bereichernden Einblicken. Im nun dritten Semester geht es den Veranstaltern, so sagen sie im Vorwort zur Programmbroschüre, um „die Erweiterung des Spektrums von Themen, die innerlich und atmosphärisch die komplexe Vielfalt des jüdischen Lebens in den verschiedenen Kulturen der Welt darstellen“.

Von allen Synagogen und jüdischen Gebetshäusern Wiesbadens ist nur die Synagoge an der Friedrichstraße während der Reichspogromnacht im November 1938 nicht vollständig zerstört worden. „Man hatte Angst, dass die umliegenden Gebäude in Brand hätten geraten können. Auch das Polizeipräsidium an der Ecke Bahnhofstraße“, erläutert der Geschäftsführer der jüdischen Gemeinde, Steve Landau. 1946 konnte die aus dem Jahr 1887 stammende Synagoge daher wieder eingeweiht werden. In den 60-er Jahren wurde sie abgerissen, und es entstand das heutige Gebäude, ein lichtdurchflutetes Gotteshaus mit zahlreichen bunten Glasfenstern, in dem die Plätze für die Frauen oben auf der Empore und für die Männer unten im Saal vorgesehen sind. Eine der Thorarollen, aus denen im Gottesdienst gelesen wird, hat den zweiten Weltkrieg überlebt. Ein Hausmeister, der sie auf einem Dachboden verwahrt hatte, gab sie der Gemeinde zurück.

Schulklassen, Kirchengemeinden oder andere Gruppen können sich durch die Synagoge führen und die Bedeutung diverser Besonderheiten erklären lassen – ein Angebot, dass es schon länger gibt, seit der Einrichtung des jüdischen Lehrhauses im vergangenen Sommer aber noch stärker genutzt wird. Etwa 60 Führungen finden mittlerweile pro Jahr statt. Auch die anderen Veranstaltungen des Lehrhauses, zu denen auch Erkundungen der jüdischen Friedhöfe oder ein Tageskurs über „Juden im Iran“ gehören, sind sehr erfolgreich.

Angebot wird ausgeweitet

„Im nächsten Semester wollen wir das Angebot der Tagesseminare von einem auf drei ausweiten“, erläutert Steve Landau, der das Lehrhaus leitet. Über eine Ausweitung des Kochkurses könne ebenfalls nachgedacht werden, da die Termine immer schnell ausgebucht seien. Mit dem jüdischen Lehrhaus – einem Angebot der Erwachsenenbildung des befruchtenden „lebensbegleitenden Lernens“ ähnlich einer Volkshochschule – greift man die Idee einer Frankfurter Einrichtung aus den 20-er Jahren auf. Einer Zeit, als in Wiesbaden noch etwa 3000 Juden gelebt haben. „Das ist eine alte Tradition von Franz Rosenzweig, Martin Buber und Erich Fromm. Auch in Wiesbaden war so etwas damals schon da“, berichtet Jacob Gutmark, der Dezernent für Kultur der jüdischen Gemeinde.

Ziel des alten wie des neuen Lehrhauses war und ist die Vermittlung von Wissen über die jüdische Kultur. Ohne dabei missionieren zu wollen. Herzstück des aktuellen Programms sind zwei Veranstaltungen mit dem Rabbiner der Gemeinde. Zum einen wird dabei die Bibel rabbinisch ausgelegt. „Die Liebe zum Text ist bei der rabbinischen Auslegung deutlich zu spüren und die Nähe zum Text ist größer“, erklärt Rabbi Avraham Zeev Nussbaum. Man vergleiche bei der Veranstaltung die verschiedensten Bibelübersetzungen. Von Martin Buber bis Martin Luther. Das zweite Angebot des Rabbiners nennt sich „Sprünge ins Meer des Talmud“ und findet einmal pro Monat statt.

Antworten auf Fragen, über die man nie nachgedacht hat

„Das ist unheimlich interessant. Der Gang in die Tiefe beschäftigt mich nachhaltig“, findet Daniela Neumann. Mit ihrer Lebenswirklichkeit habe die Auseinandersetzung mit juristischen Fragen aus dem Altertum zwar nicht viel zu tun. Aber es sei für sie eine Gelegenheit, ihren jüdischen Wurzeln nachzuspüren. Die 56-jährige hat schon an allen Angeboten des Lehrhauses teilgenommen und freut sich insbesondere, wenn sich die Gelegenheit bietet, die erlernten israelischen Tänze zu tanzen. Auch Astrid Hegenbart, die das Lehrhaus über jüdische Freunde kennen gelernt hat, nutzt die komplette Angebotspalette.

„Es kommen Fragen auf, über die man zuvor nie nachgedacht hat, und man versucht, gemeinsam eine Antwort zu finden. Für mich selbst habe ich schon viel mitgenommen: Ich entdecke eine Welt, die jüdische, dadurch fühle ich mich bereichert“, erläutert sie. Wünschen würde sie sich lediglich, dass in Zukunft noch mehr Menschen von diesem Angebot Gebrauch machen. Genau wie die jüdische Gemeinde. „Für uns ist das eine existenzielle Frage. In einer Gesellschaft zu leben, die mehr über uns weiß, ist sicherer“, betont Jacob Gutmark.

Veranstaltungen des jüdischen Lehrhauses im November:

4., 20.30 Uhr, Villa Schnitzler, Biebricher Allee 42: Sprünge ins Meer des Talmud.

ab 10., montags 19  Uhr, Jüdische Gemeinde, Friedrichstraße 33: Israelische Tänze.

23., 9.30 Uhr, Jüdische Gemeinde: Kochen mit Hülsenfrüchten (Kurs fast ausgebucht, nächster Termin: 7. Dezember: Israelische Küche).

Jeweils dienstags (außer in den Schulferien und am ersten Dienstag des Monats), 20.30 Uhr, Villa Schnitzler: Bibel, rabbinisch ausgelegt.

Kostenfreie Führungen durch die Synagoge (60 bis 90 Minuten) können jederzeit individuell vereinbart werden unter 0611/9333030 oder Lehrhaus@jg-wi.de

Außerdem gibt es im November zahlreiche Veranstaltungen des Festivals  Kulturfestivals „Tarbut – Zeit für jüdische Kultur“: www.jg-wi.de/Tarbut

Alle Termine und Informationen unter www.jg-wi.de