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„Kreative Städte sind lebenswerter“ – Minister Tarek Al-Wazir über Inspirationstrips und Aha-Effekte

„Ich glaube schon, dass Wiesbaden zu den Städten gehört, die erkannt haben, dass man nicht nur Beamtenstadt ist und Kurhaus-Ambiente braucht, sondern auch etwas anderes.“ Hessens Wirtschaftsminister Tarek Al-Wazir beim sensor-Interview mit Chefredakteur Dirk Fellinghauer im Designshop des MAK Wien zum Abschluss der 5. Kultur- und Kreativwirtschaftsdelegationsreise. (Foto: Michael Eibes)

Von Dirk Fellinghauer. Fotos Michael Eibes.

Er ist laut Umfragen konstant der beliebteste Spitzenpolitiker Hessens. Bei der Kultur- und Kreativiwirtschaft des schwarz-grün regierten Bundeslandes dürfte sich Tarek Al-Wazir besonders beliebt gemacht haben. Gleich zu Beginn seiner Amtszeit schrieb sich der Wirtschaftsminister und stellvertretende Ministerpräsident auf die Fahnen, gezielt diesen Wirtschaftszweig   –  etwa 120.000 Erwerbstätige, über 20.300 Unternehmen, über 12 Milliarden Euro Jahresumsatz – zu fördern. Er richtete ein eigenes Referat in seinem Megaministerium ein. Und er führt jährlich eine Delegationsreise in eine europäische Kreativmetropole durch. Bei vier dieser Reisen war sensor dabei. Am Ende der letzten Reise, die nach Wien führte, zog Minister Al-Wazir im Gespräch mit sensor Wiesbaden-Chefredakteur Dirk Fellinghauer eine Bilanz der bisherigen fünf Trips. Im Designshop des Wiener Museums für Angewandte Kunst (MAK) sprach der 47-Jährige über Bewusstseinswandel und Begehrlichkeiten, über Community-Gedanken und Geschäftsmodelle, über Potenzial-Früherkennung in Wiesbaden und über den Fluch der guten Tat.

Wie kam es ursprünglich zu der Idee, jährliche Delegationsreisen für die Hessische Kultur- und Kreativwirtschaft zu organisieren?

Die Kultur- und Kreativwirtschaft ist ja in Hessen recht lange von der Politik eher belächelt worden. Der Bereich galt als Exoten- und Nischenthema. Das wollte ich unbedingt ändern. Ich bin der festen Überzeugung, dass eine lebendige Kreativbranche auch in andere Bereiche abstrahlt, die auf den ersten Blick vielleicht gar nichts damit zu tun haben. Kreative Städte sind attraktiver und lebenswerter: Hessen und insbesondere die Rhein-Main-Region müssen sich da auch nicht verstecken. Ich wollte, dass die Szene sichtbarer wird und sich besser untereinander vernetzt. Delegationsreisen sind dazu ein guter Weg – um Kreative zusammenzubringen, uns im Ausland zu präsentieren, aber auch, um neue Eindrücke zu sammeln.

Wir waren denn die Reaktionen darauf?

Naja, dass sich ein hessischer Wirtschaftsminister so intensiv um die Kreativbranche kümmert, war zumindest mal ungewöhnlich. Es ist ja kein Geheimnis, dass Wirtschaftspolitik in Hessen jahrzehntelang sehr stark auf die klassischen Bereiche konzentriert war: Banken, die Pharmabranche, Logistik, um nur einige Beispiele zu nennen. Das ist auch weiter richtig und wichtig, weil diese Bereiche essentiell für unseren wirtschaftlichen Wohlstand sind. Aber Hessen kann und ist eben mehr. Ich will dabei helfen, dass das auch möglichst viele mitbekommen. Mein Eindruck ist: In der Kreativszene selbst wird dieses Engagement durchaus wahrgenommen. Da entwickelt sich was.

Was hat sich neben den jährlichen Reisen denn noch geändert?

Wir haben zunächst mal ein eigenes Referat Kreativwirtschaft in meinem Ministerium gegründet. Ganz banal: Damit da jemand ist, der sich kümmert, der Kontakte pflegt, der sich umhört, wo in der Branche der Schuh vielleicht drückt, welche Unterstützung gewünscht ist. Und dann haben wir uns an die Arbeit gemacht.

Was genau tut sich in der Kultur- und Kreativwirtschaft des Landes?

Wir haben es geschafft, dass sich die hessische Kultur- und Kreativwirtschaft überhaupt erst mal als solche begreift, sich als Community begreift und auch gegenüber anderen Branchen selbstbewusster auftritt. Ich glaube, das hat sehr gut funktioniert.

Community-Denken schön und gut. Aber wenn man will, dass eine Branche wächst, dann braucht sie ja auch Raum dafür. Das ist in der Rhein-Main-Region aber nicht ganz einfach.

Das stimmt. Das ist eine drängende Frage, wie man gerade in wirtschaftlichen Boomzeiten dafür sorgen kann, dass Leute, die neu gründen, sich auch noch die Mieten für ihr StartUp leisten können. Genau deshalb haben wir einen Raumfinder installiert, der bei der Suche hilft. Das war übrigens eins der ersten konkreten Ergebnisse unserer Branchendialoge: dass es jemanden braucht, der junge Gründer dabei unterstützt. Unterm Strich glaube ich, dass diese vielen einzelnen Maßnahmen auch schon wirken. Das Image von Hessen verändert sich gerade.

Wie macht sich der Imagewandel des Landes Hessen denn bemerkbar?

Wir können in diesem Bereich zeigen, dass Frankfurt nicht nur Umsteigeflughafen- und Bankenstandort ist, sondern dass wir wirklich viel zu bieten haben. Ich empfehle mal einen Blick auf die Internetseite feelslikehessen.de, ein wirklich toller Blog und Imagewerbung, wie man sie aus Hessen bislang nicht kannte. Vom hessischen Kräuterschwein, das nose-to-tail verwendet wird, über das neue vegane Deo aus Nordhessen bis zum Comeback hipper Gartenzwerge in Gießen. Das sorgt auch bei Menschen, die sich eigentlich gut auskennen in der Szene, noch für manche Überraschungs- und Aha-Effekte.

Sie haben auf den nun fünf Reisen – in die Niederlande, nach Mailand, Belgien und Flandern, London und nun Wien – viele Eindrücke gesammelt, viele Begegnungen gehabt und Erfahrungen gemacht. Gab es für Sie den einen „Kreativwirtschaftsreise-Moment“ in den fünf Jahren?

Das eine Ding gibt es nicht. Aber die Wahrnehmung der Szene hat sich verändert, und das führt dann auch zu ganz konkreten Ergebnissen. Wenn ich mir beispielsweise die Geschichte des Alten Gerichts in Wiesbaden betrachte: In der letzten Legislaturperiode sollte da mit Millionenzuschüssen des Landes die private EBS Hochschule einziehen, die Betriebswirte und Wirtschaftsjuristen ausbilden. Daraus wurde ja bekanntlich nichts. Wir haben es nun geschafft, dass da mit Fresenius nicht nur eine Hochschule hinkommt, sondern dass  auf dem Areal auch Wohnungen entstehen und die Nassauische Heimstätte – also die Wohnungsbaugesellschaft des Landes – und der „heimathafen“ sehr konkret an einem Kreativzentrum arbeiten. Das ist ein Beispiel von vielen, wo plötzlich Raum für Kreative entsteht, an den man früher kaum gedacht hat. Und was die Delegationen betrifft: Dass jetzt bei unserer Reise vier Vertreter von Industrie- und Handelskammern dabei sind, das ist auch neu. Es zeigt, dass auch die Wirtschaft erkannt hat, was für ein Potenzial da ist.

Die Delegationsteilnehmer fühlen sich gepampert, die Stimmung auf den Reisen ist sehr gut, sie sprachen schon mehrfach von „Klassenfahrt-Atmosphäre“. Auf der anderen Seite erfahren die Teilnehmer der Reisen, dass andernorts oft noch viel mehr geht als zuhause in Sachen finanzieller und auch ideeller Förderung und mit Blick auf die Rahmenbedingungen. Besteht da nicht die Gefahr, dass Teilnehmer der Reise neben Information und Motivation auch Frustration mit nach Hause nehmen?

So weit geht es glaube ich nicht. Aber klar: Wenn man wie wir die Top-Kreativstädte in Europa bereist, dann weckt das vereinzelt auch Begehrlichkeiten.  Denn natürlich schauen wir uns auf diesen Reisen an, was andere so machen. Da muss ich aber sagen: Das ist auch der Sinn solcher Reisen. Auch, dass man selbst auf Ideen kommt. Wenn daraus Wünsche an den Minister entstehen, nach dem Motto – guck´ mal, wie viel Geld die in Wien ausgeben – dann ist das für mich der Fluch der guten Tat. Aber wenn ich mir betrachte, wie wir angefangen haben, sind wir doch ein gutes Stück vorangekommen. Übrigens auch bei der finanziellen Förderung: Wir stellen in diesem Jahr 600.000 Euro für die Kultur- und Kreativwirtschaft bereit. Das ist viermal so viel wie noch 2015. Aber klar: In einer neuen Legislaturperiode kann es sicher sinnvoll sein, in diesem Bereich noch eine Schippe drauf zu legen, um ganz gezielt einzelne Bereiche zu fördern. Und natürlich machen wir uns Gedanken, an welchen Punkten wir auch noch lernen können beziehungsweise wie wir manche Punkte, die wir schon gemacht haben, noch besser machen können.

Welche Punkte könnten das sein?

Die Mikrokredite, die es bei der WiBank – also unserer Wirtschaftsförderbank – gibt, sind ja nicht schon immer da. Das wurde gemacht, um ganz gezielt Menschen mit einer Gründungsidee den Schritt in die Selbstständigkeit zu erleichtern. Da geht es um überschaubare Kreditsummen, die im Gegenzug aber auch sehr einfach beantragt werden können. Aber natürlich sind auch noch andere Förderansätze denkbar. Der Geschäftsführer der WiBank, der bei der Wienreise dabei war, hat schon gesagt, dass er sich nochmal mit dem österreichischen Pendant in Verbindung setzen und nochmal genau nachhaken wird, wie sie das machen.

Die stimmungssteigernde Wirkung der Delegationsreisen ist deutlich spürbar. Lässt sich der „Wert“ mit Blick auf Geschäfte, die die durch die Reisen angebahnt werden, auch beziffern?

Beziffern lässt sich das nicht. Aber da fällt mir spontan eine Szene aus unserer ersten Delegationsreise in die Niederlande ein. Da kam es nämlich schon bei der Hinreise im Bus zum ersten Geschäft. Da sagte einer auf der Rückbank, dass er bei einem Projekt Unterstützung braucht und zwei Reihen weiter vorne dreht sich ein anderer Teilnehmer um, weil er genau das anbieten konnte. Das ist es, wenn ich davon spreche, dass wir Leute zusammenbringen wollen. Das war dann am Ende kein hessisch-holländisches Geschäft, sondern ein hessisch-hessisches Geschäft, aber am Ende war es auch Geschäft. Und klar ist: Design, Fashion – das sind Bereiche, die bisher so gar nicht wahrgenommen und mit Hessen in Zusammenhang gebracht wurden. Da dachten alle, da gibt es in Hessen sowieso keinen, die sitzen doch eh alle in Berlin. Das stimmt halt nicht. Da gibt es schon sehr konkrete Resultate.

Sind Sie denn mit der Entwicklung der Kultur- und Kreativbranche in Hessen zufrieden?

Besser geht immer. Aber wir müssen uns da nicht verstecken.  Wir sehen ja, dass die Beschäftigtenzahlen und die Umsatzzahlen gut sind und steigen – obwohl sowohl die Musikbranche als auch die klassischen Presseverlage enorm unter Druck stehen. Da wurden und werden ganze Geschäftsmodelle über den Haufen geworfen. Aber auch da sieht man, dass es Antworten gibt.

Minister Tarek Al-Wazir zeigt sich in der Wiener Staatsoper beeindruckt von der konsequenten Digitalisierungsstrategie. (Foto: Dirk Fellinghauer)

Ein tolles Beispiel dafür haben wir in der Wiener Staatsoper gesehen: Noten zu digitalisieren und gleichzeitig mit Fachverlagen ein gemeinsames Geschäftsmodell zu entwickeln, von dem beide Seiten profitieren können, ist ein spannender Ansatz. Da kann man sicher vieles von anderen lernen und das dann auch für sich selbst adaptieren.

Was fällt Ihnen zur Kreativwirtschaft speziell in Wiesbaden ein?

Wiesbaden gehört zu den Städten, die schon früh erkannt haben, was für ein Potenzial in der Kreativwirtschaft steckt. Sowohl die IHK ist schon sehr früh aktiv geworden, aber auch die Stadt selbst. Hier entstehen jetzt neue Orte, wie beispielsweise das geplante „Kreativzentrum managed by heimathafen“ im Alten Gericht. Ich glaube schon, dass Wiesbaden zu den Städten gehört, die erkannt haben, dass man nicht nur Beamtenstadt ist und Kurhaus-Ambiente braucht, sondern auch etwas anderes. Ich denke, dass da in den letzten Jahren viel passiert ist und dass das auch weitergehen wird.

Wirkt sich ihr besonderer Draht zur Kreativwirtschaft auch auf Sie selbst, auf die Kommunikation und Kreativität in dem von Ihnen geleiteten Ministerium aus?

Ich gehöre selbst ja nicht zu denen, die den „eigenen Auftritt“ machen. Aber auch da hat sich die Anmutung dessen, was wir so machen als Ministerium, durchaus geändert. Auf der Internetseite „Feels like Hessen“ etwa geht es nicht um den Minister oder das Ministerium. Aber dass ein Ministerium so etwas auch finanziell unterstützt, ist sicherlich etwas Neues.

Weiterlesen und weiterklicken: 

Geschäftsstelle Kreativwirtschaft der Hessen Agentur, Ansprechpartnerin Susanne Stöck

www.kreativwirtschaft-hessen.de

Access All Areas Wiesbaden Design in Wiesbaden

Zahlen, Fakten, Hintergründe – der Ende 2015 vorgelegte 5. Bericht zur Kreativwirtschaft in Hessen.

In der sensor-Oktoberausgabe veröffentlichen wir eine ausführliche Reportage über die Kreativwirtschaft-Delegationsreisen.