Von Titus Grab. Fotos Samira Schulz
Umgesehen auf … verschwundenen Plätzen. In loser Folge betrachtet und beschreibt Titus Grab Plätze unserer Stadt. Diesmal: Ein Stadtspaziergang zu Plätzen, die es nicht mehr gibt.
Wir starten an der Nerobergbahn (Buslinie 1, Endstation Nerotal) und wählen den auf der rechten Seite des Baches stadteinwärts verlaufenden Weg durch den Neropark.
Der Reichskanzler schaut ins Nichts
Nach wenigen Minuten erreichen wir ein bronzenes Standbild Bismarcks. Etwas unbeholfen gerahmt von einer dreiseitigen Eibenhecke, blickt der ehemalige Feldherr und Reichskanzler leicht stadtauswärts. Er schaut – ja, wohin denn? – ins Nichts, eine Urkunde in der einen und einen Degen in der anderen Hand. In einigen Tannen scheint der Blick hängen zu bleiben.
Es verwundert nicht, dass dies nicht der Ort ist, für den der Bildhauer Erwin Herich das überlebensgroße Standbild des gemütlich wirkenden Mannes ursprünglich geschaffen hatte. Seit 1966 steht er hier. Und wo stand er zuvor? Seinen Originalort suchen wir später auf, gehen die Taunusstraße hinab. Bevor wir den Weg fortsetzen, machen wir einen kleinen Abstecher über den Kochbrunnenplatz Richtung Webergasse.
Warum ein Kranzplatzfest auf dem Kochbrunnenplatz?
Hier lässt sich eine mir immer wieder gestellte Frage beantworten: Weshalb wird auf dem unübersehbar den Kochbrunnen beheimatenden Kochbrunnenplatz alljährlich ein Kranzplatzfest gefeiert? Hier gehen heute zwei Plätze in einander über! Ursprünglich waren es tatsächlich zwei durch einen dem heutigen „Select“-Hotel weit vorgelagerten Gebäuderiegel voneinander getrennte Plätze, verbunden durch eine markante Engstelle, die nach ihrer Zerstörung 1945 nicht wieder hergestellt wurde. Der kleinere Kranzplatz lag vor dem heute noch bestehenden Traditions-Hotel „Schwarzer Bock“, auf den die Spiegelgasse mündete. In der Tat gibt es nach wie vor einige Häuser, die die Adresse „Kranzplatz“ tragen, auch wenn dieser nur noch als Wurmfortsatz des Kochbrunnenplatzes erscheint.
Zurück zur Taunusstraße, von dort auf die Wilhelmstraße – und beim Blick auf die vorbeifahrende Buslinie 1 kurz in Gedanken bei ihrer dem Nerotal entgegengesetzten Endstation – dem Dürerplatz. Diesen hat mit dem Umbau vieler Straßen zur autogerechten Stadt ein hartes Schicksal ereilt: alleine der Name ist erhalten, ein Gefühl von „Platz“ dort aber völlig verschwunden! Die gesamte Fläche nimmt ein Gewirr aus Verkehrsinseln und Ampelanlagen ein, das den Verkehr von sechs hier zusammen kommenden Straßen lenkt.
Bismarck musste den Autos weichen
Auf der weitläufigen Wilhelmstraße geht es weiter auf der Suche nach Bismarcks ursprünglichem Standort: Vor der Zentrale der Commerzbank biegen wir in die Bierstadter Straße ein. Nach wenigen Schritten zeigt sich linkerhand ein moderner Anbau mit konkav geschwungener Fassade (die Rückseite der Villa Frankfurter Straße 5).
Auch der davor befindliche Zaun ist als Segment eines Kreises angelegt – die einzigen Hinweise auf ein ehemals hier vorhandenes spätklassizistisches Rondell ohne besondere verkehrliche, sondern vor allem schmückende Funktion. Sein Mittelpunkt lag ehedem an der Stelle der heutigen Fahrbahn der stark befahrenen Straße. Erst hieß es „An der englischen Kirche“, die nebenan nach wie vor besteht, dann ab 1878 Wilhelmsplatz. 1906 fand mit der Aufstellung der eingangs aufgesuchten Statue in dessen Mitte der Platz zu seinem neuen Namen Bismarckplatz. Auf historischen Luftaufnahmen und Plänen ist der kreisförmige Platz sehr gut zu erkennen, bis er 1966 dem Verkehrsfluss weicht.
(Nicht ganz) wie einst der Kaiser
Schließlich schlagen wir noch den Weg zum Hauptbahnhof ein, zu einem letzten verschwundenen Platz: Wir betreten die Halle und gehen auf den Bahnsteig am Gleis 1. Ungefähr in der Mitte der Hallenlänge findet sich dort eine Bildhauerarbeit in fünf Metern Höhe über zwei Rundbögen: eine Krone als Zeichen des Kaisers, der hier bei seinen Wiesbaden-Besuchen aus dem Zug aus Berlin stieg. Heute trifft hier die Regionalbahn von Frankfurt ein, die in den Rheingau und weiter nach Koblenz fährt. Vom Bahnsteig aus ist für Bahnpersonal ein kleiner Anbau zu betreten, das hier die Kehr- und Reinigungsmaschine zur Bahnsteigreinigung abstellt.
Durch die Tür schreiten wie einst der Kaiser
Durch eine Tür unmittelbar daneben gelangen wir – wie früher der Kaiser – auch heute noch aus der Halle seitlich hinaus und finden uns jetzt – anders als der Kaiser! – zwischen parkenden Fahrzeugen der Bundespolizei, abgestellten Regionalbussen und den Mülltonnen des Bahnhofes („Wertstoffhof“) wieder.
Der Kaiser war hier seinerzeit – als Seitenteil des „Kaiserplatzes“, wie der Bahnhofsplatz hieß – durch einen eigens für ihn mit einem Springbrunnen angelegten, symmetrisch mit Hecken und Rosen bepflanzten Vorplatz von den gewöhnlichen Reisenden ferngehalten worden. Ich muss zugeben, dass mir diese Umwidmung des zuletzt vorgestellten Terrains in all ihrer zu Tage tretenden Banalität doch auch sympathisch erscheint.
Fazit: Vor allem dem Straßenverkehr wurden in der Vergangenheit in Wiesbaden sehr viele Plätze geopfert. Andere sind nur noch dem Namen nach vorhanden und ebenfalls dem Straßenverkehr vorbehalten. Erobern wir sie uns – wenigstens teilweise – wieder zurück!
„Das Auto ist eine vorübergehende Erscheinung. Ich glaube an das Pferd.“ Kaiser Wilhelm II.
Ich glaube an das Fahrrad