Von Dirk Fellinghauer (Text und Fotos, Fotos Netrebko-Auftritt: Staatstheater Wiesbaden).
Die Geschehnisse draußen wie drinnen könnten konträrer kaum sein, die Geschehnisse drinnen wie draußen haben trotzdem vieles gemeinsam. Hier wie da finden an diesem 5. Mai 2023 in Wiesbaden Ereignisse statt, hier wie da ist das polarisierende Geschehen geprägt von starken Emotionen. Drinnen: Eine Vorstellung im Rahmen der Maifestspiele am Hessischen Staatstheater, im Mittelpunkt eine weltberühmte Darstellerin – von Fans gefeiert, für viele eine Reizfigur oder gar Hassfigur. Draußen: Proteste gegen die Vorstellung drinnen, fokussiert auf, aber keineswegs beschränkt auf die Reizfigur, für viele Hassfigur. Deren Name ist Anna Netrebko, sie wird an diesem Abend in Wiesbaden drinnen bejubelt und draußen beschimpft. Und damit gerät dieser Abend in Wiesbaden auch zu einer Demonstration der Demokratie.
Mindestens zwei völlig konträre Meinungen fanden an diesem Abend – deutlich und unmissverständlich, äußerst emotional und mitunter auch aggressiv, aber friedlich und weitestgehend zivilisiert – Platz in Wiesbaden, in Wahrheit natürlich sehr viele mehr. Man konnte und kann ganz unterschiedlicher Meinung sein in der schon seit Monaten heiß diskutierten und vielfach folgenreichen „Causa Netrebko“. Man kann auch in differenzierter Betrachtung Grautöne herausarbeiten oder zu dem Schluss kommen, sich selbst gar kein abschließendes Urteil bilden zu können oder zu wollen. Geprägt wurde und wird die Diskussion aber, wie meist bei solchen Diskussionen, von rigorosen Entweder-oder-Auffassungen und von für sich von allen Seiten jeweils beanspruchter „einziger“ Wahrheit.
Wie viele Menschen tatsächlich dem vom Vorsitzenden der Europa Union Wiesbaden-Rheingau-Taunus, Peter Niederelz, seit Bekanntgabe des Netrebko-Engagements organisierten und vehement auf allen erdenklichen Kanälen wiederholten Ruf zum Protest gefolgt sind – die Angaben reichen von 150 (Staatstheater) über 350 (Polizei) bis „mindestens 500 und 150 stecken noch im Stau aus Frankfurt“ (Niederelz, der eigentlich 1000 erwartet hatte) – ist vielleicht letztlich zweitrangig. Eindrücklicher als die Menge der Menschen ist das Bild, das sie schaffen, die Stimmung, die sie wiedergeben, die Stimmen, die sie erheben.
Staatsorchester-Musiker demonstrieren gegen ihren eigenen Auftritt
Sehr viele der Protestierenden gegen die Maifestspiele-Verpflichtung der Operndiva, der sie Putin-Nähe und unzureichende Distanzierung von Putins Krieg vorwerfen, sind Ukrainer:innen, ein Großteil in Flaggen ihres von Putins Angriffskrieg heimgesuchten Heimatlandes gehüllt. Es erklingt viel Musik an diesem Abend, auch von etwa einem Dutzend Mitgliedern des Staatsorchesters, die mit ihren Instrumenten schon im Frack und Kleid auf der Straße stehen, weil sie wenige Minuten später – dienstverpflichtet, ob sie wollen oder nicht – die Reizfigur des Abends drinnen auf der Staatstheater-Bühne begleiten müssen. Es erklingen Hymnen und es erklingt Folklore, Hände liegen auf Herzen, hier und da fließen Tränen über Wangen.
„Schlag gegen die Solidarität mit der Ukraine“
Es wird viel gesungen an dem Abend und noch mehr geredet, gerufen und skandiert, manchmal geschieht auch Unterschiedliches gleichzeitig. Initiator Peter Niederelz spricht natürlich und bezeichnet die Netrebko-Verpflichtung des Staatstheaters als „Schlag gegen die Solidarität“ mit der Ukraine, auch der ukrainische Generalkonsul Vadym Kostiuk ist gekommen und richtet Worte an die Anwesenden, bedankt sich für den Protest, bezeichnet den auf der Sanktionsliste seines Landes stehenden Weltstar als „menschenverachtend“.
Es ist ein Abend drastischer Worte, Parolen und Bilder, die auch die Demonstrierenden auf Transparente geschrieben, gemalt und geklebt haben. Das „Publikum“ der Demonstrierenden ist das Publikum der Netrebko, die an diesem Abend drinnen ihr Rollendebüt als Abigaille in Giuseppe Verdis 1842 an der Mailänder Scala uraufgeführten Oper „Nabucco“ geben soll.
Zweimal ausverkauft – innerhalb von 24 Stunden
Die etwas über 1000 Plätze im Großen Haus des Staatsteaters waren innerhalb von 24 Stunden nach Vorverkaufsstart ausverkauft, ebenso für die zweite Aufführung heute (7. Mai) Abend, bei Eintrittspreisen von bis zu über 200 Euro. Ein Drittel des Publikums soll aus Wiesbaden kommen, der Rest sei für die Netrebko angereist, ist zu hören, auch von weither. Ein Ereignis, wie gesagt.
Ein Teil des von den Protesten begrüßten und begleiteten Publikums ignoriert das Geschehen, ein paar wenige machen sich eher darüber lustig, einige haben Verständnis und werden mit dem Blick auf sich draußen Abspielende mit mindestens etwas mulmigen Gefühlen dem drinnen Dargebotenen beiwohnen.
Intendant mit Verständnis für Protestierende – eigentlich …
Zu den Verständnisvollen gehört im Prinzip auch Uwe Eric Laufenberg, als Intendant des Hauses und der Festspiele der Mann, der Netrebko verpflichtet hat, und nicht nur wegen dieser Entscheidung ebenso für viele eine Reizfigur. „Ich bin immer gegen Putin gewesen, habe hier schon vor Jahren ein Stück gegen ihn gemacht und wurde dafür beschimpft“, sagt er, der sich als Verantwortlicher für das Geschehen drinnen auch das Geschehen draußen anschaut, wenige Minuten vor Vorstellungsbeginn zu sensor: „Ich habe jedes Verständnis für die Anliegen der Ukrainer, aber ich glaube, mit einer solchen Hexenjagd auf eine Person tun sie ihrer Sache keinen Gefallen“.
„Flieg, Gedanke, auf goldenen Schwingen“
Drinnen dann also das kulturelle Ereignis des Abends, das polarisiert und einige jener, die ihm letztlich beiwohnen, elektrisiert: „Nabucco“ in konzertanter Aufführung. Es wird ein gewaltiges, auch ein überwältigendes Ereignis, allein schon wegen der imposanten personellen Dimensionen. Die Bühne ist gefüllt mit den Mitgliedern des Hessischen Staatsorchesters und gleich zwei Chören, jenen der Hessischen Staatstheater Wiesbaden und Darmstadt, die unter anderem den berühmten „Gefangenenchor“ anstimmen werden. Dieser liefert mit der Zeile „Flieg, Gedanke, auf goldenen Schwingen“ auch den diesjährigen Maifestspielen, die laut Intendant Laufenberg allen politischen Gefangenen gewidmet sein sollen, das Motto.
Viel Bravo und Brava und ein wenig Buh
Spannend wird es bei der ersten Applaus-Gelegenheit – es wird … kräftig geklatscht, „Bravo“ und „Brava“ gerufen. Ein paar wenige „Buh“-Rufe der bereits erwarteten vereinzelten Netrebko-Gegner im Publikum gehen im allgemeinen Jubel unter.
Dabei soll es bleiben im Verlauf der gut zweieinhalb „Nabucco“-Stunden inklusive Pause, in der draußen von einer kleineren verbliebenen Gruppe weiter und schon eine Spur gereizter und polizeigeschützter skandiert und protestiert wird und drinnen Sekt und Wein geschlürft, Snacks genossen, angeregt parliert und vereinzelt am Amnesty International-Stand im Foyer für die Freilassung politischer Gefangener unterschrieben wird.
Netrebko ist der Star, aber alle werden gefeiert
Drinnen gibt es wie bei der ersten auch bei jeder folgenden sich bietenden Gelegenheit Riesenjubel, viele „Bravo“- und „Brava“-Rufe vom Parkett bis in den höchsten Rang, dazu ein paar wenige „Buh“-Rufe. Applaus, Jubel und Bravo gelten dabei übrigens nicht nur der nun mal wirklich auch an diesem Abend in vielen Momenten wie nicht von dieser Welt singenden Anna Netrebko, sondern auch den zu Höchstleistungen aufsingenden Solist:innen des konzertanten „Nabucco“, der von Michael Güttler dirigiert wird – allen voran Zeljiko Lucic in der Titelpartie sowie Young Doo Park (Zaccaria), Ioan Hotea (Ismaele), Gustavo Quaresma (Abdallo), Mikhail Biryukov (Grand Sacerdote), Anastasiya Taratorkina (Anna) und der jungen Fleuranne Brockway, die quasi über Nacht die Rolle der Fenena von der erkrankten Silvia Hauer übernehmen und sich draufschaffen musste und einen grandiosen gefeierten Auftritt hinlegte.
Netrebko wurde durch die Demo hindurch chauffiert
Am Ende wollen der Applaus, der Jubel, die Bravo- und Brava-Rufe nicht enden, das Große Haus ist aus dem Häuschen, die Netrebko strahlt, winkt, nimmt minutenlange stehende Ovationen und üppige Blumensträuße entgegen und kehrt sichtlich erfreut, zufrieden, vielleicht auch erleichtert, mehrfach wieder auf die Bühne zurück. Ein vielfach denkwürdiger Abend war das in Wiesbaden an diesem 5.5.2023, drinnen wie draußen. Wer sich fragt, ob die Reizfigur des Abends, die in den letzten Tag so ungestört wie unbekümmert in Wiesbaden auf touristischer Entdeckungstour unterwegs war, außer dem Jubel ihrer Fans denn wohl auch etwas von den Protesten ihrer Gegner mitbekommen hat: Hat sie!
Auf dem Weg aus ihrem Hotel zum Auftritt im Staatstheater wurde sie, das erfuhr sensor aus zuverlässiger Quelle, mitten durch die Protestierenden hindurch chauffiert. Völlig unbemerkt. Was ihr dabei durch den Kopf ging? Das bleibt wohl ihr Geheimnis.