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Schule ohne Schranken: Die Initiative „Gemeinsam Lernen in Wiesbaden“ fordert gerechtere Bedingungen für behinderte Kinder

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Von Julia Bröder. Foto Michael Zellmer.

Hessen ist das Schlusslicht unter den Bundesländern, wenn es um das Thema inklusive Bildung geht. Nur 21,5 Prozent der Schüler mit einem Förderbedarf besuchen hier eine reguläre anstelle einer Förderschule – in Schleswig-Holstein etwa sind es mehr als 60 Prozent. Diese Zahlen aus einer aktuellen Bertelsmann-Studie bekräftigen Antje Pfeifer und Ulrike Hädrich in ihrer Kritik: Hessen tue zu wenig dafür, dass behinderte und gesunde Kinder gemeinsam unterrichtet werden können. Auf kommunaler Ebene gehen die beiden Sprecherinnen des Vereins Pepino und Ideengeberinnen der Initiative „Gemeinsam lernen in Wiesbaden“ noch einen Schritt weiter und sagen: „Inklusion in Wiesbaden ist eine Luftnummer“. Der Slogan ist Teil einer Kampagne, mit der die Macherinnen die Öffentlichkeit wachrütteln wollen.

„Es geht uns nicht darum, von heute auf morgen alle Förderschulen abzuschaffen “, betonen die Initiatorinnen. Vielmehr wünsche man sich, dass die Wahlfreiheit, die seit dem Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention im Jahr 2009 auf dem Papier steht, auch in der Realität ankomme. „Denn hier klafft noch eine große Lücke“, finden Pfeifer und Hädrich. Auch der Status als Modellregion für inklusive Bildung, den Wiesbaden seit 2013 innehat und der die Umsetzung des Gesetzes unterstützen und beschleunigen soll, habe daran nichts geändert. Den Plan der Stadt, die Lernförderschule August-Herrmann-Francke bis 2018 auslaufen zu lassen und die frei werdenden Lehrer an Regelschulen einzusetzen, halten die Mütter für einen Tropfen auf den heißen Stein. Nicht zuletzt, weil mit der sanierten Comeniusschule gerade erst eine neue Schule für lernschwache Kinder eröffnet hat: „Das zeigt uns, dass ein grundsätzliches Umdenken in unserer Stadt noch nicht stattgefunden hat.“

Gesellschaftliches Bewusstsein schaffen
Ihr Engagement rührt aus der eigenen Erfahrung, die Familien von Pfeifer und Hädrich sind selbst betroffen. Beide haben sowohl behinderte als auch gesunde Kinder und empfanden es spätestens zur Einschulung als ungerecht, dass nicht alle die gleichen Chancen bekommen sollten. Viel erzählen möchten die die beiden Akademikerinnen über ihre Kinder aber lieber nicht. Es gehe in ihrer Initiative nicht um sie persönlich, sondern um ein gesellschaftliches Bewusstsein gegenüber dem Thema Inklusion. Offiziell begonnen haben sie mit ihrer Arbeit vor knapp vier Jahren. Nach und nach gelang es ihnen, die zuständigen Schulämter sowie das Amt für Soziale Arbeit an einen runden Tisch zu holen. Zusammen mit einer Hand voll Mitstreitern organisierten sie eine Vortragsreihe, konzipierten ein Faltblatt „zur Schulanmeldung für Eltern mit besonderen Kindern“ und wurden so zu wichtigen Akteuren in der Debatte um Inklusion an Wiesbadens Schulen.

Netzwerk ruht wegen haarsträubender Zustände
Allerdings: Momentan ruht das Netzwerk, man sehe kein Fortkommen auf Seiten der Ämter, sagen Pfeifer und Hädrich. Vor allem der schlechte Informationsfluss sei ein Problem, teilweise wüssten Eltern überhaupt nicht, dass sie einen Schulassistenten für ihr Kind oder Maßnahmen zugunsten der Barrierefreiheit beantragen könnten. Und selbst wenn – die Bewilligungspraxen seien haarsträubend. Vor allem der Wechsel von der Grundschule in die Sekundarstufe stelle nach wie vor eine große Hürde für behinderte Kinder dar, viele befreundete Familien würden auf Privatschulen ausweichen. „Eine unabhängige Beratungsstelle für Eltern wäre schon einmal ein Schritt in die richtige Richtung“, fordern die Pepino-Sprecherinnen, deren Verein sich ausschließlich aus Spenden finanziert.

Schulamt widerspricht

Es überrascht nicht, dass das staatliche Schulamt die Lage anders sieht. „Die Kritik ist nicht berechtigt“, sagt Christiane Desbuleux und erläutert, dass derzeit alle Grund- und Sekundarstufenschüler mit Förderbedarf eine Regelschule besuchen, sofern ihre Eltern das wünschen. Bei den höheren Klassen sei das nicht immer das Haus der ersten Wahl, aber immer eine zufriedenstellende Alternative. Auch Ingeborg Groebel, Leiterin des Büros für Kommunale Bildung und damit Sprecherin des Schulträgers, betont, dass sich Wiesbaden der Aufgabe stelle, Barrieren an den Regelschulen abzubauen. An den Grundschulen erfolgen die Maßnahmen nach Bedarf, also je nachdem, in welcher Form die Kinder, die hier am Unterricht teilnehmen möchten, beeinträchtigt sind. Unter den weiterführenden Schulen sollen sukzessive Förderschwerpunkte ausgemacht und so Orte geschaffen werden, die sich besonders gut für Schüler mit bestimmten Behinderungen eignen.

Groebel räumt aber auch ein, dass die Herstellung einer umfassenden Barrierefreiheit ein Maximalziel darstelle und die Umsetzung nur Zug um Zug erfolgen könne. Hinsichtlich der Bereitstellung von  sozialpädagogischen Fachkräfte, zu der sich die Stadt im Rahmen der Modellregion Inklusive Bildung verpflichtet hat, gesteht sie: „Leider muss zum gegenwärtigen Stand der Haushaltsberatungen davon ausgegangen werden, dass dem Schuldezernat im Doppelhaushalt 2016/17 keine Mittel für sie Einstellung weiterer sozialpädagogischer Fachkräfte zur Verfügung stehen.“ Für die Schulpolitische Sprecherin der Grünen, Dorothée Andes-Müller, bedeuten die Kürzungen klar Vertragsbruch. Auch sie ist der Meinung, dass Wiesbaden bei der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention hinterher hinkt. „Die Ankündigung zeigt, dass Inklusion trotz der vollmundigen Versprechen der Dezernentin weiterhin ein Stiefkind der Politik bleibt“, so die Politikerin in Richtung Rose-Lore Scholz (CDU).

Für die Pepino-Frauen und ihr Netzwerk sind die Statements aus den Ämtern ohnehin vordergründig. „Wir wollen echte Inklusion, die auch bei uns Eltern ankommt.“ Um „bei allen Unzulänglichkeiten gerade doch die gelungenen Projekte bekanntzumachen“ haben sie im vergangenen Jahr die „Lilie der Inklusion“ ins Leben gerufen. Derzeit steht der Pokal in der Grundschule Bierstadt. Am 4. Juni 2016 soll er weiterwandern.

http://gemeinsam-lernen-in-wiesbaden.de/