Von Hannah Weiner. Fotos Heinrich Völkel/Andrea Diefenbach
Der Wind blättert leise durch auf dem Asphalt liegende Werbeprospekte. Tauben gleiten im Tiefflug zwischen den Häusern hindurch. Vor der Trinkhalle sitzt ein Mann neben seinem Bier unter einem rot-weißen Schirm. Die Herderstraße ist eine fast seltsam stille Oase in der Großstadt Wiesbaden. „Ich mag die Ruhe hier“, sagt Uwe Oberg und blickt aus dem Wohnzimmerfenster seiner Dachgeschosswohnung auf die Straße, in der er seit zehn Jahren lebt. Obwohl der 52-Jährige die Ruhe schätzt, ist seine Leidenschaft laut. Oberg ist Jazz-Musiker, Komponist und Gründer des Just-Music-Festivals, das im Februar zehnjähriges Jubiläum feiert. Seit 1985 lebt der Künstler in Wiesbaden. Doch er ist viel unterwegs, Konzerte, Reisen, deutschlandweit und international. Schon mit sieben Jahren fing Oberg mit dem Klavierspielen an. „Ich wollte nie etwas anderes machen“, erinnert er sich. Bis er sich offiziell Musiker nannte, dauerte es trotzdem noch eine Weile. In einer „orientierungslosen Phase“ machte Oberg zunächst eine Ausbildung zum Gärtner. Jazz war nur das Hobby, ein Musikstudium kam nicht in Frage. „Ich wollte mir die Kreativität nicht kaputt machen.“
Wiesbaden war seine Tür zur Jazz-Szene, die Jamsessions im damaligen Musiker-Treff „Artist“ die bis heute einzige Ausbildung. „Mit Anfang 20 habe ich begonnen, mich zu professionalisieren“, erzählt der Autodidakt. Ab diesem Zeitpunkt spielte er in Bands, gab Unterricht und Konzerte. 2007 erreichte Oberg den bisherigen Höhepunkt seiner Karriere. Er gewann den Hessischen Jazzpreis.
Stummfilme und Tausend CDs
Uwe Obergs Leben dreht sich um Musik. Das ist in jedem Raum seines 70-Quadratmeter-Singleappartments zu spüren. „Das müssten etwa Tausend sein“, sagt er und betrachtet das CD-Regal im Wohnzimmer. Eine kleine Ecke mit Blues, ein bisschen von dem, was andere Weltmusik nennen, ein paar Pop-Klassiker und unzählige Jazz-Alben, viele von Thelonious Monk, seinem Vorbild. Doch nicht nur Musik fasziniert Oberg. „Es ist interessant, wenn Künste sich gegenseitig befruchten“, findet er. Wie der Zufall es wollte, fiel Anfang der Neunziger Jahre der Stummfilmpianist der Caligari Filmbühne aus. Oberg sprang ein und begleitet seitdem bewegte Bilder auf dem Piano in Wiesbaden, Frankfurt und weltweit. Während er eine CD auflegt, fällt warmes Sonnenlicht durch die hohen, etwas verstaubten Fenster der Altbauwohnung. Paul Bleys „Open, to love“ erklingt aus den Boxen. Seine eigene Musik spielt Oberg nur selten zu Hause. Obwohl er hier ein elektronisches Piano hat, übt er lieber am Flügel in seinem Proberaum in der Welfenstraße.
„Jazz definiere ich sehr weit“, erklärt der Klangforscher, wie er sich selbst nennt. „Mich interessiert kein Stil, sondern etwas zu spielen, das man nicht kennt.“ Obwohl Oberg auch komponiert, ist seine Musik meist improvisiert. Er mag das ungeplante Zusammenspiel mit anderen Künstlern. „Es geht darum, die beste Musik des Moments zu produzieren.“ Das Risiko als Elixier des Spielens. „Unvorherhörbares“ ist das, was der Pianist sucht. Deswegen lädt er für das Just-Music-Festival, das inzwischen international bekannt ist, Musiker von „den Grenzen des Jazz“ ein. Seit 2005 leiten Oberg und sein Partner Raimund Knösche die Veranstaltungsreihe. „Es ist ein toller Erfolg“, sagt er zufrieden. Aus dem Küchenfenster blickt er nun über Wiesbaden, sieht die Marktkirche, die hübschen Dächer der Häuser bis in den Taunus.
Wiesbaden und Jazz? Zu konservativ!
Diese Stadt und Jazz? „Nein, Wiesbaden ist kulturell zu konservativ.“ Die städtische Szene sei überschaubar. In seiner Wohnung aber lebt sie. Über dem Küchentisch hängt Art Kanes berühmte Schwarz-Weiß-Fotografie von 1958. Sie zeigt 57 Jazz-Musiker auf einer Treppe in Harlem. Daneben hat Oberg Ausschnitte seines eigenen Lebens zu einem Arrangement komponiert. Fotos der Kinder, Postkarten, dazwischen das Gedicht „Überall“ von Ringelnatz. In der Mitte klebt ein neongrüner „I love Avantgarde“-Anstecker. Mit Traditionen zu brechen, treibt Oberg an – in der Musik und in Wiesbaden.
Das „Just Music“-Jazzfestival feiert Jubiläum – und geht mit zwei aufregenden Konzertabenden am 20. und 21. Februar bereits zum 10. Mal an den Start mit gewohnt risiko- und reibungsfreudigem Programm. Die in New York lebende Schweizer Improvisatorin Silvie Courvoisier zum Beispiel steht in der Musiklandschaft einzigartig da. Ihre Kompositionen setzen sich mit Leichtigkeit über Stilgrenzen hinweg – dabei ist sie eine fesselnde Pianistin, die das Klavier in orchestrale Sphären bringt. Urumchi kommt mit der türkisch-kasachischen Stimmakrobatin Saadet Türköz und Urgesteinen der Schweizer Improvisationsszene, Premiere feiert Rope, ein brandneues internationales Quartett um Uwe Oberg. The Dorf ist urbaner Sound von 29 Musikern. Das Berlin-New Yorker Quartett Conference Call unter der Leitung von Gebhard Ullmann sorgt für einen würdigen Abschluss von Just Music.