Je attraktiver, desto besser: Das gilt nicht nur auf Laufstegen in Mailand, Paris und Berlin, sondern auch bei Gesellschaftsspielen. In Deutschland gibt es nur wenige Illustratoren und Grafiker, die Brett- und Kartenspiele verschönern. Einer von ihnen lebt und arbeitet in Wiesbaden.
Oliver Schlemmer freut sich über einen toten Fisch. Das Tier starrt mit seinen schwarz-gelben Augen ins Leere. Aus seinem Rücken wachsen rote Flossen, aus dem Mund hängt eine Zunge. Die Zeichnung auf einer Spielkarte polarisiert. Im Internet diskutieren Spieler darüber. „Das ist super. Normalerweise ruft die Grafik von Brettspielen keine Emotionen hervor. Durch den Fisch wird über meine Arbeit gesprochen“, sagt Schlemmer. Spiele-Illustratoren sind in Deutschland außerhalb der Szene meist unbekannt. Die Verlage verstecken ihre Namen in Anleitungen oder auf der Schachtelrückseite – selbst wenn sie so gute Arbeit abliefern wie der 41-jährige Wiesbadener.
Wichtige Preise abgeräumt
Schlemmer ist seit 2010 im Geschäft und arbeitet hauptsächlich für Queen Games. Innerhalb von zwei Jahren hat er alle wichtigen Preise gewonnen. Er bebilderte „Fresko“ und erhielt dafür den Spielegrafikpreis Graf Ludo. Außerdem illustrierte er „Kingdom Builder“, das aktuelle Spiel des Jahres. Trotz der Auszeichnung würde Schlemmer bei einer Neuauflage auf dem Spielplan gerne etwas ändern: die Brücken. Diese sind wie Ohrringe oder Perlenketten. Sie sind reine Zierobjekte ohne Funktion. Die Brücken sollten unterhalten, die Grafik aufpeppen und noch interessanter machen. Genau wie eine Kette, die sich um den Hals einer schönen Frau schmiegt. Viele Spieler erkennen das nicht und denken, dass die Brücken eine Bedeutung hätten.
Bevor Schlemmer loslegt, bekommt er vom Verlag in der Regel die Spielanleitung und/oder einen Prototypen zugeschickt. Das ist das Spiel im Rohzustand. Die Autoren testen damit die Mechanik und Abläufe. Wie ein Prototyp aussieht, ist oft egal. Hauptsache er funktioniert. Doch sobald sich ein Verlag entscheidet, den Prototypen in ein fertiges Produkt zu verwandeln, kommt Schlemmer ins Spiel. Zusammen mit den Redakteuren legt er die Optik fest. Eine wichtige Aufgabe: Es ist ein großer Unterschied fürs Spielempfinden, ob man eine mittelalterliche Festung verteidigt oder eine Comic-Burg. Fingerspitzengefühl ist gefragt. Einerseits sollen die Zeichnungen begeistern, andererseits müssen sie funktionieren. „Eine gute Grafik verdeutlicht und visualisiert erstens die Spielregeln, zum Beispiel durch Symbole und Piktogramme“, sagt er. Zweitens soll sie unterhalten. Details wie Ritter, Pferde oder Kisten machen Lust auf das Spiel: „Drittens belohnt eine gute Grafik die Spieler. Die meisten Menschen freuen sich, wenn sie schicke Siegpunktekarten sammeln dürfen.“
Weltweiten Geschmack treffen
Besonders gut gelungen ist Schlemmer der Belohnungseffekt bei „Fresko“. In der Mitte des Spielplans prangt – der Name verrät es schon – ein Fresko. Darauf fliehen Adam und Eva aus dem Paradies, schwimmt die Arche Noah durch Wolken und strahlt das Goldene Kalb. Plättchen um Plättchen legen die Spieler das Gemälde frei. Erst am Spielende sehen sie das komplette Bild. Wie bei der Mode ist auch der Geschmack bei Spielgrafiken von Land zu Land unterschiedlich. „Viele Deutsche nehmen Gesellschaftsspiele nicht als Kulturgut war, sondern im wahrsten Sinne des Wortes leider immer noch als Spielereien. Meine Zeichnungen für deutsche Spiele erinnern deshalb oft eher an Bilderbücher“, sagt Schlemmer. „In Amerika ist das anders. Hier sind meine Bilder farbenfroher und wilder.“ Eine besondere Herausforderung ist es, wenn ein Spiel in mehreren Ländern mit ein und derselben Grafik erscheint. Dann muss Schlemmer den Geschmack von möglichst vielen Menschen treffen. Bei „Kingdom Builder“ ist ihm das gelungen. Er malte Wälder und Wüsten, Einsiedler und Ritter – und einen Fisch mit roten Flossen und schwarz-gelben Augen.
Von Sebastian Wenzel. Foto Heinrich Völkel und Andrea Diefenbach.