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Stadtteil aus der Hinterhof-Perspektive erkunden: Warum sich Studis der Uni Mainz fürs Westend interessieren

Von Annika Posth (Text und Fotos).

Das Wiesbadener Westend: gleichzeitig Problembezirk und Trendviertel, getrennt
durch den Kaiser-Friedrich-Ring in  „inneres“ und „äußeres“ Westend und wie kaum ein anderer Kiez in Wiesbaden voller Widersprüche, urbanem Lifestyle und Großstadtflair. Und nun auch: Studienobjekt. Mit der Geschichte des Westends beschäftigen sich seit April 2020 achtzehn Studierende des Masterstudiengangs Kulturanthropologie/Volkskunde der Universität Mainz.

Das zweisemestrige Forschungsprojekt „Urbane Nischen“ nimmt das Wiesbadener Westend aus der Perspektive seiner Hinterhöfe in den Blick und fragt nach der Geschichte, Bedeutung und Funktion von innerstädtischem Lebensraum in einem multikulturellen Stadtteil. „Alles war ein bisschen anders geplant“, erzählt Dr. Jonathan Roth, Projektleiter und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Mainz, beim Treffen am „Brückenschlag“ an der Ecke  Goeben/Scharnhorststraße: „Eigentlich sollte in der Wellritzstraße eine Station „a tavola“ (ital. am Tisch) entstehen, um mit den Bewohner*innen des Westends ins Gespräch zu kommen“.
Durch Corona sind Befragungen, Begegnungen und Beobachtungen nun jedoch nur
eingeschränkt möglich.

Sammelaufruf an Westend´ler

Ein aktuelle Sammelaufruf, auf Deutsch und Türkisch, wendet sich an diejenigen, die
im Westend leben oder aufgewachsen sind: „Schickt uns eure Eindrücke, Fotos und Geschichten von Hinterhöfen. Ob Schnappschuss, Anekdote oder historische Fotografie aus dem Familienalbum – wir interessieren uns für alle Ansichten über das hinterhöfische Westend und veröffentlichen Beiträge gerne nach Rücksprache“, heißt es in dem Flyer, der an diversen Stellen ausliegt und auch an Haushalte verteilt wurde. Die Beiträge und Fotos können über www.hinterhofwestend.de oder über die Social Media Seiten des Projektes eingereicht und so auch der Kontakt zu den Studierenden aufgenommen werden.

Projektleiter Dr. Jonathan Roth wohnt selbst mit seiner Familie im Westend und möchte durch das Projekt „Begegnungen schaffen und einen Anstoß geben, das Westend als vielseitigen, reichhaltigen und herausfordernden Stadtteil neu zu entdecken“.

Neue Blickwinkel – einfach mal schauen

Bei meinem Spaziergang mit Jonathan Roth durch das äußere Westend entdecken wir den Mädchentreff Wiesbaden e.V. in der Goebenstraße 16 und machen gleich ein paar Fotos, um unsere Eindrücke festzuhalten. Ich merke: Neue Ideen und Einblicke in Hinterhöfe bekommt man schneller als erwartet. Einfach mal etwas entdeckungsfreudig und aufgeschlossen sein, und schon sieht man Blickwinkel des Westends, die man vorher nie bewusst wahrgenommen hat. Denn jeder Hinterhof ist anders gestaltet und hat seine eigene Funktion: als Parkplatz, Gemüseanbau, Spielfläche für Kinder oder Werkstatt.

Der Blog

Auf der eigens für das Studienprojekt erstellten Website www.hinterhofwestend.de veröffentlichen die Studierenden die Ergebnisse ihrer Arbeit. Im Vordergrund stehen natürlich die Hinterhöfe, exemplarisch wird zum Beispiel die Blücherstraße 35 und die Veränderung seit 1921, auch durch Fotos aus dem Stadtarchiv Wiesbaden, betrachtet. Sehr nett auch ein fiktiver Blogbeitrag „Mit dem sensor auf zwei Rädern durch das Westend“.

Ziel der Website ist es, die Hinterhofgeschichten zu sammeln und mit einem von den Student*innen entwickelten Parcours dazu einzuladen, das Westend aus einer anderen und ungewohnten Perspektive kennenzulernen. Videos, Fotos, Texte, Tonspuren und Mappings dienen dabei als mediale Komponente, um den jeweiligen Ort/Hinterhof erlebbar zu machen. Das Westend wird so, durch einen Audio/Video-Walk und eine webgeführte Tour, für jeden erlebbar.

Was fehlt dir zum Glück?

Teil des Projektes waren auch die Plakate im Sommer 2020, die im Fenster der „Fragmente“ (Goebenstraße) zu sehen waren. „Was fehlt dir zum Glück?“ wurde dabei gefragt, und auf Post-its die Antworten der Bewohner des Westends gesammelt, ausgestellt und auf der Instagram Seite gepostet. Auch nach der ersten/ältesten Erinnerung an das Viertel wurde gefragt. Mit der Antwort „Parkplatzsuche“ können sich sicherlich viele Bewohner des Westendes
identifizieren.

Wohlstand symbolisiert durch die Wohnsituation

Im äußeren Westend erkennt man noch heute die verschiedenen Teilgebäude, die
einst die finanzielle Situation der Bewohner widerspiegelte. Das Modell von Vorder-,
Mittel- und Hinterhaus im äußeren Westend stellte früher den Wohlstand der Bewohner dar. Besonders von unten nach oben und vom Hinterhaus zum Vorderhaus nahm der Wohlstand der Bewohner, die Größe und die Qualität der Wohnungen ab. In den Hinterhöfen waren und sind heute teilweise noch handwerkliche Betriebe oder Autowerkstätten angesiedelt. „Ziel war damals die soziale Durchmischung des Viertels“, erklärt Dr. Jonathan Roth. Eine Durchmischung, die gleichzeitige eine Abgrenzung symbolisierte. Roth bezeichnet das Westend als einen „gefalteten Stadtteil“, in welchem viele Menschen, aus unterschiedlichen Kulturen und Bildungsschichten aufeinander treffen, um den „Raum“ konkurrieren und ihn gleichzeitig gemeinsam nutzen.

Diese „bunte Mischung“ an Kulturen macht heute noch den Flair des Westendes aus. Hier treffen arm und reich aufeinander: das Westend als Begegnungsstätte vieler Gegensätze. Gerade im äußeren Westend siedeln sich immer mehr moderne und junge Cafés an und bringen die Menschen auch in Zeiten von Corona und Take-away näher zusammen.

Neben Dr. Jonathan Roth ist Aline von der Assen, die ihre Expertise als bildende Künstlerin, Kunstvermittlerin und Kulturwissenschaftlerin einbringt, Teil des Projektteams. Ein Besuch auf der Website www.hinterhofwestend.de und dem Instagram Account (@hinterhof_westend) lohnt sich nicht nur für Westendkenner.