Von Dirk Fellinghauer.
Der in Wiesbaden geborene und geschulte legendäre Industriedesigner Dieter Rams hat mehr als 350 Produkte für die Unternehmen Braun und Vitsoe gestaltet. Sie werden von vielen Menschen auf der ganzen Welt benutzt und beeinflussen bis heute auch junge Gestalter:innen. Und sie sind mehr als aktuell. An diesem Freitag wird Dieter Rams 90. Zur Feier des runden Geburtstags gibt es heute einen Vortrag in seiner Heimatstadt. Und der Jubilar meldet sich mit aktualisierten – und topaktuellen – „Vorschlägen für eine bessere Welt“ zu Wort.
Der Initiative des jungen Wiesbadener Stadtverordneten Nikolas Jacobs ist es zu verdanken, dass Rams´ Geburtsstadt ihn, der laut Antrag im Kulturausschuss „Vorbild für Generationen von Nachwuchsdesignerinnen und -designern“ ist, öffentlich würdigt. Heute um 18.30 Uhr wird Prof. Dr. Klaus Klemp im sam – Stadtmuseum am Markt seinen Vortrag „Dieter Rams aus Wiesbaden. Anmerkungen zu einem Industriedesigner“ halten. „Der Vortrag sucht die wichtigsten Stationen seiner Biografie, seiner Gestaltungshaltung und -ethik anzusprechen“, kündigt Klemp, ein enger Vertrauter von Dieter Rams und Vorstandsmitglied der Dieter und Ingeborg Rams Stiftung, an.
Anliegen zur Gestaltung unserer Dingwelten
Schon in den 1970er Jahren plädierte Rams – am 20. Mai 1932 in Wiesbaden geboren und hier bis 1953 Student an der Werkkunstschule, heute Kunsthaus –, nachhaltig dafür, Dinge so zu gestalten, dass sie möglichst lange Nutzungszyklen zulassen. Öffentlich auftreten möchte Rams, der seit langem Kronberg lebt und sich dort einen Bungalow nach seinen eigenen Gestaltungsprinzipien eingerichtet hat (Foto: Ingeborg und Dieter Rams Stiftung), nicht mehr, wohl aber zu einem 90. „einmal mehr auf mein Anliegen zur Gestaltung unserer Dingwelten hinweisen.“ sensor veröffentlicht Auszüge aus seiner Erklärung:
„Ich werde nicht nur 90 Jahre alt, sondern ich habe bis heute auch das Glück gehabt, seit etwa 70 Jahren gestalterisch arbeiten zu können. Das hatte oft mit Glück, häufiger aber auch mit den vielen Menschen zu tun, mit denen zusammen ich in meinem Leben die Gelegenheit hatte, Vorschläge für eine etwas bessere Welt zu machen.
Gestaltung braucht Haltung
Dass Umweltgestaltung – und das ist Produktgestaltung – einer Haltung bedarf, sollte allgemein bekannt sein. Meine habe ich schon vor vielen Jahren zusammengefasst: „weniger, aber besser.“ Wir müssen uns auf weniger, aber brauchbarere, nützlichere, umweltschonendere, universellere und dabei auch faszinierendere Dinge einlassen. Letzteres ist der Schlüssel, wenn wir einen gedankenlosen Konsum in einen verantwortungsvollen Konsum verändern wollen. Attraktion muss sich auf neue überzeugende Konzepte und Funktionen beziehen, nicht auf den schönen Schein eines Designs für überflüssige Kaufanreize. Ein ernst zu nehmendes Industriedesign muss heute überzeugende neue Konzepte für ein richtiges und gutes Leben in einer geschädigten Welt entwickeln.
Wegkommen von Unkultur des Überflusses
Wir müssen von der Unkultur des Überflusses, der Verschwendung, der Billigkeit im Wortsinn, aber auch im übertragenden Sinne wegkommen. Das bedeutet, dass Dinge wirklich das sind und das leisten, was die Benutzer von ihnen erhoffen: Erleichterung, Erweiterung, Intensivierung des Lebens.
„Beschränke alles auf das Wesentliche, aber entferne nicht die Poesie“, heißt es in der Philosophie des japanischen Wabi-Sabi. Gleichgültigkeit gegenüber den Menschen und ihrer Lebenswirklichkeit ist in meinen Augen die schlimmste Sünde, die ein Gestalter oder eine Gestalterin begehen kann. Die zweitschlimmste ist eine Fahrlässigkeit gegenüber der natürlichen Umwelt im Ganzen.
Ich bin kein Pessimist. Im Gegenteil war und bin ich immer Optimist mit der Einstellung, dass ein verantwortungsvolles und gut gemachtes Design das Leben der Menschen besser machen kann, ja machen muss. An einem neuen Zugang und an einem neuen Zugriff auf die Welt müssen wir aber alle arbeiten.“
Ausstellung auf Reisen und Film im Gratis-Stream
Das Museum Angewandte Kunst in Frankfurt wird zum 90.Geburtstag seine Dauerausstellung zu Dieter Rams neu einrichten. Erstmals werden dabei die wichtigsten Produkte und Entwürfe von Dieter Rams zusammen mit den Fotografien seiner Ehefrau Ingeborg gezeigt werden. Ingeborg Kracht kam 1957 zur Fotoabteilung von Braun, wo sie zusammen mit Marlene Schneyder und Ursula Sehring weiter an der Entwicklung und Verbesserung der Produktfotografie arbeitete. Nach dem Ausscheiden von Marlene Schneyder 1959 war sie zusammen mit Ulf Beckert, Wilfried Indinger und Pit Schumann für die fotografische Darstellung der Braun Produkte zuständig.
Eine zweite aktuelle Ausstellung ist die von der Dieter und Ingeborg Rams Stiftung organisierte, von dem Wiesbadener Raumdesigner Mario Lorenz gestaltete Ausstellung Dieter Rams. Ein Blick zurück und voraus, die im zweiten Halbjahr 2021 im Museum Angewandte Kunst gezeigt wurde. Sie wird vom Frühjahr 2022 bis zum Frühjahr 2023 von fünf Goethe-Instituten in den USA gezeigt werden. Dabei soll vor allem auch mit Designhochschulen, in Workshops mit Studentinnen und Studenten kooperiert werden.
Unbedingter Anschau-Tipp: „Rams“-Doku bis 21. Mai gratis
Der bekannte US-amerikanische Regisseur Gary Hustwit zeigt anlässlich des 90. Geburtstags seine großartige Dokumentation „Rams“ über Dieter Rams gratis auf seiner Webseite bis zum 21. Mai. „Der Film ist ein „must-see“! Nicht nur für Design-Aficionados, sondern eigentlich für jedermann/jedefrau, denn er enthält viel Weisheit über Nachhaltigkeit in unserer Lebenswelt“, lautet einer der Kommentare auf Hustwits Facebook-Seite.
90. Geburtstag – und weiter?
Die (Design-)Welt feiert also den großen Dieter Rams nach wie vor intensiv, ganz besonders auch die junge Generation. 71.600 Beiträge unter dem Hashtag #dieterrams gibt es allein auf Instagram. Und seine Heimatstadt Wiesbaden? Die muss diese Frage, nach dem „immerhin“-Vortrag heute Abend, noch beantworten. Zu dem Antrag des Kulturausschusses, der im heutigen Vortrag mündete, gehört auch die Frage an den Magistrat, „was darüber hinaus mittel- und langfristig geplant ist, um die Verbindung von Rams und seinem Werk mit der Stadt Wiesbaden herauszustellen und lebendig zu halten.“ Dieter Rams hätte eine nachhaltige Würdigung und Präsenz in Wiesbaden verdient. Und Wiesbaden könnte es nur gut tun.
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Weiterelese-Tipp: „Mehr wenniger“ – sensor-Würdigung von Dieter Rams zu seinem 89. Geburtstag